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Mit Konventionen gebrochen

Es war ein bewegtes Leben, das der russische Pianist, Komponist und Dirigent Igor Strawinsky führte. Aus ihm resultierten große Anregungen für die Modernisierung des Ballett- und Konzertrepertoires, auch eine größere Anzahl geistlicher Werke sowie mit "The Rake’s Progress", die erfolgreichste neoklassizistische Oper.

Von Frieder Reininghaus | 17.06.2007
    Als rhythmischer Wirbelsturm fuhr "Le Sacre du printemps" 1913 in die Theaterwelt. Der Schock, den diese Ballett-Komposition 1913 in Paris auslöste, veränderte auch das Verhältnis der Hörer zur Tonkunst nachhaltig. Zum exzessiven Rhythmus und zur polyphonen Polytonalität des Werks kamen extreme, bisweilen brutal wirkende dynamische Spannungen: Der vom "Frühlingsopfer" avisierte Transformationsprozess vom Leben zum Tod erwies sich als Fanal der Epoche. H.-H. Stuckenschmidt, tonangebender Musikkritiker in der Mitte des 20. Jahrhunderts, sprach gar von einer "metrischen Atomexplosion".

    Vielleicht war es ihm doch an der Wiege gesungen, dass er so viel Bewegung in die Musik des 20. Jahrhunderts bringen sollte: Igor Strawinsky, der am 17. Juni 1882 in Oranienbaum bei St. Petersburg geboren wurde - heute vor 125 Jahren. Die Familie stammte aus dem polnischen Landadel. Der Vater wurde wie später der Sohn zunächst als Jurist ausgebildet, machte dann aber aus seinem Hobby eine Profession: Fedor Strawinsky avancierte zum 1. Bassisten am Mariinskij-Theater, war auch ein begnadeter Darsteller und Selbstdarsteller. Igor, maßgeblich von einem ostpreußischen Kinderfräulein und in deutscher Sprache erzogen, hat auch von diesem väterlichen Talent geerbt.

    Qualifizierten Klavierunterricht erhielt er mit neun Jahren. Leokadija Kašperova lehrte ihn, ganz aufs Pedal zu verzichten. Sie erzog ihn im Geiste einer neusachlichen Klangvorstellung zu einem nicht sonderlich virtuosen, aber mit Konzertreife ausgestatteten Klavierspieler. Die Techniken der Verfremdung von vorgefundenem Themen- und Klangmaterial in Verbindung mit einem kühl-distanzierten Klangideal prägte dann auch die Kammermusik der reifen Jahre: Die erscheint "secco" - staubtrocken, rüde montiert und absichtsvoll schräg gegen die Tonalität gestellt, in die viele Sätze dann aber doch wieder einmünden.

    Sosehr Strawinsky betonte, seine Musik habe kein anderes Ziel, als sich selbst zu genügen, wusste er nur zu gut, wie sehr er sich spezifisch russische Ressourcen erschlossen hatte, die er auf seine Weise ausbeutete - die Musik der Fiddler und Jahrmärkte vornan. In virtuos variierter, kontrapunktisch nobilitierter Form kehrt sie immer wieder. Sie diente der heiteren Maskierung und den grellen Grimassen.

    Schon der junge Strawinsky interessierte sich heftig dafür, wie Musik gemacht wird. Er war gerade einmal zwölf, als er Opern- und Ballett-Arrangements anzufertigen begann; erhielt daraufhin Kontrapunkt- und Harmonielehreunterricht bis zum Abitur - pünktlich absolviert zu Beginn des neuen Jahrhunderts, das ihn im buchstäblich besten Alter erwartete. Aus Gesundheitsgründen vom Militärdienst befreit studierte Strawinsky Jura, ohne in diesen fünf Jahren aufs Komponieren zu verzichten. Aus Tschaikowskys Bahnen begann er sich während des intensiven Privatunterrichts bei Rimski-Korsakow zu lösen – radikal.

    Strawinsky zog nach Paris. Von 1910 an erregte er dort das größte Aufsehen - mit Exotik, Erotik, Sensation und Skandal. Damit ihn der Krieg nicht erfasst, emigrierte er in die Schweiz, übrigens während des 2. Weltkriegs dann noch einmal - in die USA. Die russische Revolution, der Sieg der Bolschewiki schnitten ihn 1917 vom Nachschub für das großbürgerliche Leben ab. Mit den Freunden Ramuz und Ansermet gründete er in der wohlsituierten Not eine Wanderbühne und machte aus ihr die größte Tugend der Moderne: "L'Histoire du soldat". Die vom Teufel besessene "Geschichte vom Soldaten" wurde zum ausschlaggebenden Modell der Kammeroper im 20. Jahrhundert: anti-dramatisch, karg, durchorganisiert und grell instrumentiert.

    Sein Instinkt ließ Strawinsky dann in den 20er Jahren rasch Abschied nehmen von den Provokationsmodellen und einkehren bei vorklassischen musikalischen Modellen insbesondere des italienischen Settecento. Der sachkundige Philosoph Ernst Bloch nannte das Resultat:

    "Musik des automatischen Banns"."

    Schillernd sprach er bezüglich Strawinsky vom

    ""Phosphor seiner Zeitkunst in archaischer Maske und Archaismen. [...] Er hat immerhin das echte falsche Bewußtsein der Zeit."

    Mit seinen wechselnden Dosierungen des Alten im Neuen und dem Gespür für Witterungsumschläge des Zeitgeistes hat es Igor Strawinsky weit gebracht. Er errang eine Stellung in der Kultur der nördlichen Hemisphäre, die nur mit der Picassos vergleichbar ist.

    ]Durch die aus der Ukraine stammenden Mutter, die selbst ausgiebig Klavier spielte, kam er wie selbstverständlich zu diesem Instrument. Unverstellt wird da allemal die Konstruktion der Komposition ausgestellt.