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Mit kühlem Kopf und "liebevoller Art"

Die politische Karriere Angela Merkels wurde von Zweifeln, Häme, Hohn und Spott begleitet. Doch seit Beginn ihrer Kanzlerschaft nimmt sie unangefochten den ersten Platz ein auf der Beliebtheitsskala der Politiker - sehr zum Leidwesen des Koalitionspartners SPD.

Von Sabine Adler | 21.11.2007
    Gerhard Schröder: "Wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen. Wenn Frau Merkel eine Koalition hinkriegt mit der FDP und den Grünen, dann kann ich dagegen nichts sagen. Aber sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen. Das ist eindeutig."

    Franz Müntefering: "Sie kann es nicht."

    Die steile Karriere Angela Merkels wurde die meiste Zeit von unablässigen Zweifeln, von Häme, Hohn und Spott begleitet. Doch seit Beginn ihrer Kanzlerschaft nimmt sie unangefochten den ersten Platz ein auf der Beliebtheitsskala der Politiker. Dabei war der Sieg der CDU-Spitzenkandidatin Angela Merkel alles andere als überzeugend ausgefallen.

    Gerd Langguth, Merkel-Biograf, hat beobachtet, wie sehr die CDU-Chefin durch ihren knappen Wahlsieg verunsichert war und deshalb eine neue Rückversicherung durch ihre Parteifreunde für unumgänglich hielt. Damals setzte sie alles auf eine Karte.

    "Sie hat in besonderen Situationen einen kühlen, nüchternen Mut für ein hohes Risiko, den sie unmittelbar nach der fast verlorenen Bundestagswahl hatte, weil sie sich damals ja hat wiederwählen lassen als Fraktionsvorsitzende. Das war nach dieser Wahlschlappe ein Risiko deshalb: Das hätte ja in der geheimen Wahl sein können, dass sie ein schlechtes Ergebnis bekommt. Weil sie in Wirklichkeit nur drei Nein-Stimmen bekommen hat, war das eine neue Legitimation für ihre Kanzlerschaft."

    Schon am Wahlabend bewies Frau Merkel stählerne Nerven und behielt sie all die wochenlangen quälenden Koalitionsverhandlungen hindurch. Am 22.November dann war es soweit:

    "Abgegebene Stimmen 612. Mit Ja haben gestimmt 397. Mit Nein haben gestimmt 202 Kolleginnen und Kollegen, enthalten haben sich 12 Kolleginnen und Kollegen, eine Stimme war ungültig. Liebe Frau Merkel, ich habe den begründeten Eindruck, dass sie beabsichtigten, die Wahl anzunehmen, aber auch das muss der guten Ordnung halber förmlich festgestellt werden."

    "Herr Präsident, ich nehme die Wahl an."

    Zwei Jahre später ist eine heftig diskutierte, im Ergebnis aber magere Gesundheitsreform gültig, die Rente mit 67 beschlossen, hat die SPD zwei neue Parteivorsitzende gewählt, kann die Wirtschaft ein Wachstum deutlich über zwei Prozent verzeichnen, haben sich die Staatskassen gefüllt dank steigender Einnahmen inklusive der auf 19 Prozent angehobenen Mehrwertsteuer, kommt der Haushalt 2008 noch nicht ohne, aber doch mit deutlich weniger neuen Schulden aus, ist erfreulicherweise vor allem die Arbeitslosigkeit auf einen Tiefststand seit der Wiedervereinigung gesunken. Profiteur der positiven, wenn auch nicht rundum zufriedenstellenden Bilanz: die Kanzlerin. Selbst Vizekanzler Müntefering, der heute aus dem Kabinett verabschiedete Arbeitsminister, ein Grundpfeiler der Koalition, sah noch im August bei der Kabinettsklausur in Meseberg wenig Grund für Grummeleien.

    "Die Kanzlerin hat Recht, alles ist so, wie sie gesagt hat und so werden wir das machen. Wir können, glaube ich, selbstbewusst sein, was die glatt zwei Jahre des Regierens angeht, aber wir wissen auch, es gibt immer wieder neue Dinge zu tun."

    Damals, kurz vor der eigentlichen Halbzeit, war noch keine einzige Kabinettsumbildung zu verzeichnen, im Unterschied zu den zahlreichen Ministerwechseln unter Rot-Grün, was die Kanzlerin nicht ohne Stolz, vor allem aber mit einer Prise Ironie vermerkte. Dennoch begegnet Angela Merkel den anhaltend guten Umfrageergebnissen weiterhin mit Vorsicht.

    "Meinungsbildungen oder Beurteilungen sind ja immer sehr wetterwenderisch. Mal wird man kritisiert, mal wird man gelobt."

    Dass die Kanzlerin die Lorbeeren scheinbar ganz allein einheimst, löst so manches übellaunige Kiefermahlen in den Reihen des Koalitionspartners aus. Nach dem Ausscheiden Franz Münteferings sackte die SPD noch einmal kräftig ab und befindet sich laut dem Meinungsforschungsinstitut Forsa auf einem Jahrestief von 24 Prozent. Frau Merkel stiehlt den Genossen nicht nur ihren Anteil am Erfolg, schimpfen die Sozialdemokraten, sondern häufig auch die Show, vor allem aber die Themen, wofür ihr Vorgänger sie heftig attackiert.

    "Heute, wenige Jahre später, sieht das so aus, als hätten die Deutschen Konservativen die Krippen- und Hortbetreuung persönlich erfunden und würden sie auch persönlich ausüben. Leute, was ist da passiert? Nun läuft da Frau von der Leyen durch die Gegend, kopiert die Konzepte dieser wunderbaren Renate Schmidt und keiner sagt, das sind wir."

    Die CDU hat ihr schlechtes Abschneiden im Bundestagswahlkampf zwar nicht aufgearbeitet, ihren Kurs aber korrigiert. Weg von der Partei mit dem Image der sozialen Kälte hin in Richtung Sozialdemokratie, was so wohl nur mit Angela Merkel möglich war, wie ihr Biograf Gerd Langguth feststellt.

    "Sie macht in vielen Dingen eine Politik, die im Prinzip der Sozialdemokratie inhaltlich sehr stark entgegenkommt, aber sie macht es als christdemokratische Kanzlerin. Die Sozialdemokratie andererseits hat kein Interesse daran , dass der Konsens zu stark mit ihr wird, denn nur, wenn der Dissens öffentlich wird, selbst wenn jetzt in der Frage des Mindestlohns für Postbedienstete doch noch irgendein Kompromiss gefunden würde, würde ein neues Thema gesucht werden müssen, weil ja die Sozialdemokratie irgendein Thema braucht, mit dem sie insbesondere bei den bevorstehenden Landtagswahlen dann mit eigenständigen Positionen kommt und sagt, 'hier seht ihr, wir unterscheiden uns hier von der Kanzlerin'."

    Obwohl auch die Kanzlerin den Menschen im Land nicht das Gefühl nehmen konnte, dass es ungerecht zugeht in Deutschland, kreiden ihr die Bürger dies offenbar nicht an. Sich um Gerechtigkeit zu kümmern, wird immer noch in erste Linie von der SPD erwartet.

    So manchen Genossen wurmt, dass auch die Medien Angela Merkel weit weniger hart kritisieren als beispielsweise Helmut Kohl, der eine innige Abneigung Journalisten gegenüber an den Tag legen konnte ebenso wie Gerhard Schröder. Gerd Langguth hält Angela Merkel in sehr viel stärkerem Maße für eine Medienkanzlerin, was weniger auf ihr Agieren vor der Kamera als vielmehr hinter den Kulissen zurückzuführen sei.

    "Ich kenne keinen Kanzler, der so selber unmittelbar Medienarbeit gemacht hat wie Angela Merkel, die sich ja auch nicht zu schade ist, wenn es sein muss, auch mal einen Chefredakteur selber anzurufen. Auf diese Idee wäre meines Erachtens Helmut Kohl nie gekommen. Aber sie hat natürlich auch einen anderen Umgang mit den Medien. Und sie schafft eben die schönen Bilder."

    Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel gibt bei der Wahl des Bundeskanzlers im Reichstagsgebäude in Berlin ihre Stimme ab.
    Merkel bei ihrer Wahl zu Regierungschefin. (AP)
    Kein Spott mehr über Frisur und Kleidung
    Genau deshalb überlässt ihr Stab nichts mehr dem Zufall. Flaschengrüner Blazer in der Weinstube, orangefarbenes Jackett vor der marmorgrünen Wand der UNO, roter Anorak vor dem weißen Gletscher. Der Spott über ihre Frisur, ihre Kleidung gehört der Vergangenheit an. Frau Merkel hat in einem Maße einstecken müssen, das andere Politiker mit einem weniger dicken Fell wohl längst in die Flucht geschlagen hätte. Jaqueline Boysen, ebenfalls Merkel-Biografin, führt die scheinbar übergroße Leidensfähigkeit auf ein enormes Maß an Unabhängigkeit zurück, die nicht immer, aber mitunter durchaus gewollt war.

    "Sie war zwar bei den Jungen Pionieren, ist aber auch Pastorentochter. Das setzt sich fort auch in ihrem Leben an der Uni, an der Akademie der Wissenschaften. Das gibt ihr eine gewisse Stärke, weil sie frei ist von ihrem Bemühen, das ja viele Menschen auszeichnet, sich ihrer Umwelt anpassen zu wollen. Frau Merkel ist in extremer Weise bedacht, dass ihr niemand zu nahe kommt. Und selbst von diesen Personen hat sie sich in erstaunlicher Weise unabhängig gemacht. Wir sehen das daran, dass ihr Ehemann bei ihrer Vereidigung nicht anwesend ist, sie braucht das offenbar gar nicht."

    Ihre Widersacher unter den jungen Wilden der CDU, die Ministerpräsidenten Christian Wulf und Roland Koch, zog sie mit kluger Personalpolitik auf ihre Seite, als sie die Tochter des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, Ursula von der Leyen, und Kochs wichtigen Vertrauten, Franz Josef Jung, in ihr Kabinett holte.

    Dass sie sich auch ganz unerwartet lösen kann, bewies sie bei dem Unionsschwergewicht Friedrich Merz und zuvor bei ihrem Ziehvater Helmut Kohl. Für den Biografen Langguth ein Ausdruck durchaus vorhandener Risikobereitschaft.

    "Mit ihrem sogenannten Scheidebrief am 22. Dezember 1999, als sie in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung verkündete', dass die junge Generation, der sie damals angehörte, der Union, sich jetzt endlich von dem alten Schlachtross Helmut Kohl, wie er sich selber bezeichnet, trennen müsse. Und sie wurde dann ja Parteivorsitzende."

    Ob Risikobereitschaft oder Skrupellosigkeit, alles zusammen oder nichts von beidem, das Signal nach außen war deutlich: Mit dieser Parteifreundin ist nicht zu spaßen, diese Frau trägt Konflikte offen aus, weshalb, wie der Politologe Langguth vermutet, die Suche nach Leichen in ihrem Keller vergeblich sein dürfte.

    Die Physikerin, die ihre Leidenschaft für die Politik vergleichsweise spät entdeckte, umgibt sich mit einem überschaubaren Beraterkreis, dem unter anderem die Parteifreunde Thomas de Maiziere, Ronald Pofalla, Peter Hintze, Peter Altmeer angehören, auch Annette Schavan sowie derzeit ebenso Volker Kauder. Die wichtigste Rolle aber spielt ihre Büroleiterin Beate Baumann.

    "Frau Baumann ist jemand, die ungeheuer fleißig ist und die vor allem eins kann, sie kann Frau Merkel die Meinung sagen, sie sagen sich sogar teilweise lautstark die Meinung und sie ist sozusagen so was wie das Alter Ego von Frau Merkel."

    Bundeskanzlerin Merkel, Umweltminister Gabriel gemeinsam mit dem dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen und der dänischen Umweltministerin Connie Hedegaard in einem Fjord bei Grönland
    Merkel und Umweltminister Sigmar Gabriel gemeinsam mit dem dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen und der dänischen Umweltministerin Connie Hedegaard in einem Fjord bei Grönland. (AP)
    Merkel lässt sich nicht einschüchtern
    Ob auf Bundesebene oder internationaler Bühne, ob junge Wilde oder große Tiere: Angela Merkel lässt sich nicht einschüchtern. International versteht sie es, die Erwartungen so weit herunter zu schrauben, dass jeder Gipfel als Erfolg verbucht wird - auch das G8-Treffen in Heiligendamm. Dabei wurde im übergroßen Strandkorb vor den schneeweißen Kurhäusern im Ostseesand mit den widerspenstigen USA nichts weiter vereinbart, als dass internationale Klimaabkommen auch künftig am besten unter dem Dach der Vereinten Nationen ausgehandelt werden.

    "Ich kann mit diesem Kompromiss sehr, sehr gut leben, ich halte ihn für einen sehr großen Fortschritt und für ein sehr gutes Ergebnis."

    Wie sehr die Große Koalition sich selbst genug ist, erfährt, wer verfolgt, aus welcher Richtung der größte Teil der Kritik an der Kanzlerin kommt: nicht von den drei Oppositionsparteien, sondern vom Regierungspartner SPD. Der schimpft vor allem über ihren Leitungsstil, dass Merkel mehr moderiert als führt, sich selten positioniert, Probleme wie Helmut Kohl lieber aussitzt. Doch wenn sie beharrlich Russland oder China gegenüber Stellung bezieht, sich mit Oppositionellen trifft, deren Demonstrationsrecht anmahnt wie beim EU-Russland-Gipfel in Samara, den Dalai Lama im Kanzleramt empfängt, dann erbost das die Genossen ebenso. Als Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim SPD-Parteitag seinem Ärger darüber erstmals öffentlich Luft machte, wollte er als frischgewählter Partei-Vize zum einen zeigen, dass er auch parteipolitisch, nicht nur diplomatisch agieren kann.

    "Menschenrechtspolitik ist keine Schaufensterpolitik. Wir fordern Menschenrechte nicht für die schnelle Schlagzeile zuhause, sondern um Menschen, die in Unfreiheit leben müssen, die politisch verfolgt werden, konkret zu helfen."

    Zum anderen kommen dem Chefdiplomaten, der lieber unauffällig und mit Ausdauer zu Werke geht, die klaren Worte der Ostdeutschen fremd und falsch vor. Sein früherer Chef Gerhard Schröder kritisiert, dass sich seine Nachfolgerin in ihrer Außenpolitik von "größerer Emotionalität" leiten lasse, was auf ihren Erfahrungen in kommunistischen Systemen beruhe. Angela Merkel aber erstickt den Versuch, ihr ihre Ost-Biografie zum Vorwurf zu machen, sofort im Keim.

    Bei Steinmeier hat sich in einem halben Jahr EU-Ratspräsidentschaft und zehn Monaten G8-Vorsitz jede Menge Unmut angestaut. Er fühlte sich allzu häufig beiseite geschoben. Einmal mehr als an seiner Stelle die Regierungschefin vor der UNO sprach und das schon unter Rot-Grün verfolgte Bemühen um einen ständigen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat wieder aufnahm.

    ""In seiner jetzigen Zusammensetzung spiegelt der Sicherheitsrat nicht mehr die Welt von heute wieder. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, ihn den politischen Realitäten anzupassen. Deutschland ist bereit, auch mit der Übernahme eines ständigen Sicherheitsratssitzes mehr Verantwortung zu übernehmen."

    Angela Merkel, die sich als Klimakanzlerin auch international Sporen erwerben will, kam dem jetzigen Vizekanzler Steinmeier sogar bei dessen lange geplanter Grönland-Reise zuvor, weshalb er ihr auf dem SPD-Parteitag erstmals öffentlich einen Rat erteilte.

    "Wir alle empfehlen Angela Merkel, nehmen sie Afghanistan in ihren Reiseplan auf."

    So kurz vor der anstehenden Parlamentsabstimmung über die Verlängerung des Bundestagsmandats für die deutsche Beteilung an der US-geführten Antiterror-Operation "Enduring Freedom" konnte die Kanzlerin auf ähnliche Ermahnungen durch Abgeordnete, dann auch von der Opposition, gut verzichten. Bereits eine Woche später landete die deutsche Transall in Kabul und Masar el Sharif.

    "Mein erster Eindruck ist, dass die Soldaten hier einen sehr, sehr guten Job machen. Wir müssen noch etwas mehr tun beim Polizeiaufbau. Ich glaube aber, insgesamt der gemeinsame Ansatz in der Erkenntnis, das Militär ist eine Komponente, schafft aber die politische Lösung nicht, der ist richtig."

    Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier betreten zu Beginn einer Kabinettssitzung im Kanzleramt in Berlin den Kabinettssaal.
    Merkel und Bundesaußenminister Steinmeier. (AP)
    SPD sucht Profil
    Den einzigen Weg, sich von der erfolgreichen Kanzlerin zu emanzipieren und wieder an eigenem Profil zu gewinnen, sieht die SPD derzeit in ihrer Ausrichtung weiter nach links und in der Attacke auf die Regierungschefin, die Andrea Nahles nach ihrer Wahl zur SPD-Parteivize mit neuem Elan zu reiten scheint. Seit der letzten Koalitionsrunde vor gut einer Woche kursiert ein Vorwurf, der nicht verstummen will.

    "Was ist es anderes als Wortbruch, wenn wir einen einstimmigen Kabinettsbeschluss haben, dass es einen Mindestlohn für Postdienstleister gibt und die Kanzlerin dann davon abweicht. Nichts anderes als Wortbruch."

    Kabinettschefin Merkel zieht sich diesen Schuh nicht an. Im Sommer, zur etwas vorzeitig gefeierten Halbzeit der Legislaturperiode, freute sie sich noch, dass bis dahin kein einziger ihrer Minister von der Fahne gegangen war. Mit dem heutigen Tag ist der erste Wechsel jedoch perfekt: Als Vizekanzler rückte Frank-Walter Steinmeier auf, Arbeitsminister ist nun Olaf Scholz, ein Mann, der schon jetzt Anerkennung in Unionskreisen genießt. Doch auch er wird es erleben, dass Angela Merkel, die kühl kalkulierende Physikerin, ihre Hausaufgaben zumindest nicht schlechter als er gemacht hat.

    "Sie ist jemand, die auch ganz gerne auf Kabinettssitzungen ihren Ministern klarmacht, dass sie besser informiert ist in manchen Details als die eigentlichen Ressortminister. Bisher sind die Kabinettssitzungen noch relativ vom inneren Klima her so schlimm nicht, wie das immer nach außen erscheinen könnte, denn es wird auch relativ viel diskutiert. Mehr als in jedem anderen Vorgängerkabinett, wo irgendwelche Kanzler was verkündet haben."

    Die Vorwürfe, sie würde in der Großen Koalition ausschließlich moderieren, werden etwas leiser. Der Verlängerung der Zahlungsdauer für das Arbeitslosengeld I stimmte sie gerade eben noch zu, doch nur weil die SPD im Gegenzug die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages auf 3,3, Prozent erlaubte. Der Hoffnung aber, dass die Union den Linksrutsch der SPD mit nachvollzieht, erteilt sie eine klare Absage.

    "Wir dürfen die Rendite des Aufschwungs nicht verspielen. Das leitet meine Politik, das leitet die Politik der Bundesregierung, und das heißt, wir dürfen Arbeitsplätze nicht in Gefahr bringen. Wir müssen schauen, dass wir die Menschen entlasten, wo immer das möglich ist."

    Zwar ist der Versuch der SPD nicht aufgegangen, den Mindestlohn von Branche zu Branche zu tragen, doch noch treibt sie die Union damit immer weiter vor sich her. Die Kanzlerin hat Stellung bezogen, wie sie überhaupt immer seltener abwartet oder laviert. Gleich zu Beginn ihrer Kanzlerschaft hat sie mit ihrer Kritik an die Adresse Washingtons überrascht, als sie sich gegen das US-Gefangenenlager Guantanamo aussprach. Sie gab Steinmeier im BND-Untersuchungsausschuss Rückhalt, obwohl nicht seine, sondern erst ihre Bemühungen zur Freilassung des Bremer Türken Murat Kurnaz führten. Sie setzte mit Familienministerin Ursula von der Leyen sehr früh das Elterngeld durch, das Paare dann bekommen, wenn der Vater das sogenannte Wickelvolontariat absolviert. Sollten sich nun tatsächlich die Befürworter des Betreuungsgeldes durchsetzen, wäre das ihre erste innerparteiliche Niederlage, was sich schon auf dem Parteitag der CDU in der kommenden Woche herausstellen würde. Die Kanzlerin dürfte es wenig beeindruckt hinnehmen, wissend, dass sich auch die Konservativen in der Partei wiederfinden müssen. Es würde passen zu ihrem Regierungsstil.

    "Jeder führt auf seine Weise, aber Führung führt nicht dazu, dass in einer Sache, wo man unterschiedlicher Meinung ist, die Meinungsunterschiede etwa überbrückt oder übertüncht werden. Sachliche Übereinstimmung findet man auf dem Wege des Kompromisses. Da muss sich jeder bewegen, aber es kann nicht sein, dass einer seine Idee für richtig hält und sagt, nun muss man mal dafür sorgen, dass die durchgesetzt wird. In dieser komplizierten Welt muss man auch Ideen, Argumente, Überzeugungen austauschen können, ohne dass das sofort mit irgendwelchen Abriegelungsmechanismen unterbunden wird."

    Mit wohl eher kleineren als größeren Schritten wird sie die Koalition nun über die nächsten Hürden führen, als da wären: Reform der Erbschaftssteuer, der Pflegeversicherung, der Mitarbeiterbeteiligung oder der Umsetzung der anspruchsvollen Klimaschutzziele, wobei beide Partner einen zu frühen Ausstieg aus dem Regierungsbündnis tunlichst vermeiden werden. Angela Merkel hilft, dass sie ähnlich unideologisch agiert wie Gerhard Schröder, dabei sehr viel seltener mit einem Basta auf den Tisch hauen muss und sie unterm Strich ein keinesfalls geringeres Machtbewusstsein besitzt.