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"Mit Nordrhein-Westfalen hat das alles überhaupt nichts zu tun"

Präsidentschaftskandidat Gauck sieht die schwarz-gelbe Regierungskoalition nicht infrage gestellt, sollte er am 30. Juni in der Bundesversammlung zum Bundespräsidenten gewählt werden. Seine Kandidatur entspringe keinem taktischen Kalkül.

Joachim Gauck im Gespräch mit Stephan Detjen | 20.06.2010
    Stephan Detjen: Herr Gauck, wenn es nach dem Plan geht, der Sie in die Kandidatur zum Amt des Bundespräsidenten befördert hat, werden Sie übernächste Woche mit Stimmen der SPD, Grünen und Linken zum Staatsoberhaupt gewählt. Ein paar Tage später will sich Hannelore Kraft dann in Düsseldorf zur Ministerpräsidentin einer Minderheitsregierung wählen lassen, die ebenfalls auf Stimmen, auf das Wohlwollen der Linken angewiesen sein wird. Empfinden Sie, dass Sie in diesen Tagen Teil einer politischen Kräfteverschiebung in Deutschland sind?

    Joachim Gauck: Also, Sie müssen ja magische Fähigkeiten haben, Herr Detjen, weil Sie schon genau wissen, was passieren wird. Also, das ist ja nun eine Fiktion, und woher wissen Sie, dass – wenn denn Stimmen aus anderen Fraktionen kommen als aus denen, die mich nominiert haben –, dass die ausgerechnet von der Linken kommen? Die werden doch wahrscheinlich aus dem Lager der Freien Demokraten kommen und der Christdemokraten, denn ich bin ja denen vertraut, sie kennen mich, sie kennen mein Denken, meine politischen Einstellungen. So sehr ich Sie schätze, aber das wissen Sie nun nicht, was da passiert. Und dann zu Ihrer zweiten Frage. Mit Nordrhein-Westfalen hat das alles überhaupt nichts zu tun, überhaupt nichts. Dass es so angeschaut werden kann, das ist eine andere Geschichte. Aber die Nominierung ist ja erfolgt, bevor hier sich irgendetwas in diese Richtung bewegt hat, wie es zurzeit scheint. Jedenfalls bin ich außerstande, die Nominierung meiner Person für das höchste Staatsamt ausschließlich als politisches Kalkül der mich Nominierenden, als Machtkalkül zu bewerten. Da hätte ich wohl nicht mitgemacht, sondern ich sehe in dem Angebot, auch an die Koalition, mich mitzutragen und an der Präsentation meiner Person ein Angebot an die politische Mitte in Deutschland: "Hier ist ein Kandidat, der hoch vertraut ist mit politischen Werten und Zielvorstellungen im Unions- und liberalen Lager. - Das wäre doch etwas!" So, und das ist das Problem.

    Detjen: Aber Ihre Nominierung erfolgte auch aus einem parteipolitischen Kalkül. Es war der berechnete Versuch, einen Spaltkeil in das bürgerliche Lager zu treiben, und man sieht ja, das gelingt in Teilen auch. Erfüllt Sie das mit Zufriedenheit oder mit ambivalenten Gefühlen?

    Gauck: Nein, das erfüllt mich mit Unzufriedenheit, denn wir ringen gemeinsam immer darum oder wir einigen uns auch immer wieder darauf, dass es um diese Kandidatur geht und um nichts anderes. Natürlich geht es Parteivorsitzenden auch immer um machtpolitische Dinge, um Opposition und Koalition, um Stärkung der eigenen Position – darum geht es der Koalition – und um Verunsicherung der Koalition – darum geht es der Opposition. Und in dieser Phase wird der Kandidat nominiert. Deshalb denken wir natürlich auch solche taktischen Elemente durch. Aber die Kandidatur erschöpft sich eben nicht in diesem taktischen Kalkül, sondern sie ist nach wie vor ein tragfähiges Angebot. Und es ist auch nicht so, dass die Kanzlerin am Ende ihrer Gestaltungsmöglichkeiten wäre, wenn wider Erwarten der von ihr nicht favorisierte Kandidat durchkäme. Das ist doch alles eine Engführung, der man nicht folgen muss.

    Detjen: Aber lassen Sie es mich trotzdem noch einmal mit einer Prognose versuchen: Wenn Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt wird, ist es mindestens eine ganz schwere Erschütterung für diese Koalition, wenn nicht gar das Ende – auch das mögliche Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel.

    Gauck: Nein, das sehe ich nicht so. Ich habe immer mein Zutrauen zur Kanzlerin und meine Bewunderung ausgedrückt und sie als eine Politikerin erlebt, die in schwierigen Situationen sofort komplexe Zusammenhänge neu analysieren konnte und zum Teil kraftvoll und gestaltend hervorgetreten ist. Sie war unendlich wichtig, als die Union noch erstarrt war in ihrer Bindung an den Übervater Helmut Kohl, dem die Nation so viel verdankt. Und dann doch einen Absprung zu wagen und noch mal ein neues Ufer zu definieren und das auch zu erreichen, das hat doch gezeigt, dass das eine überaus kraftvolle Politikerin ist. Und warum sollte sie bei einer Personalfrage, in der sie auf einen Menschen trifft, den sie achtet und bei dem sie weiß, dass viele ihrer politischen Vorstellungen auch bei ihm beheimatet sind: Warum soll das zu dieser Krise führen? Ich sehe es nicht.

    Detjen: Die Würdigung von Angela Merkel haben Sie jetzt in der Vergangenheitsform vorgetragen. Wie spricht Joachim Gauck in Präsenz über die Kanzlerin und die Kanzlerschaft von Angela Merkel, wie beurteilen Sie die Politik der Koalition?

    Gauck: Ich sehe sie in einem außerordentlich schweren Wasser agieren, und zwar ist ein Teil davon natürlich der Situation in der Koalition geschuldet. Die Koalition ist immer noch in der Phase des Neubeginns. Es ist ganz deutlich zu erkennen, dass die einzelnen sie tragenden Parteien und Gruppen fremdeln. Sie sind eigentlich mit einem großen Erfolg gestartet, und wie es oft ist, wenn man einen großen Erfolg errungen hat, dass man dann einen Moment denkt: Das Wesentliche ist geregelt.

    Detjen: Was war der große Erfolg am Anfang der schwarz-gelben Koalition?

    Gauck: Der große Erfolg war der Wahlsieg. Und dann danach ist nicht in allen Teilen der Koalition mit der gleichen Intensität gestartet worden. Sondern es gab dann diese Versuche der Profilierung, und es gab gewisse Partikularinteressen. Das ist breit debattiert worden in der deutschen Öffentlichkeit und in der deutschen Publizistik, und deshalb müssen wir doch sagen: Sie hat es zurzeit schwer als Regierungschefin. Und dann kommen die Schwierigkeiten von außen dazu: Europa, Griechenland, dann immer noch die Auswirkungen der Finanzkrise. Und zu allem Überfluss tritt dann die Instanz zurück, die den Deutschen immer geholfen hat, Vertrauen ins Ganze zu setzen. Alle Bundespräsidenten waren – mochten die Regierungen geachtet sein oder weniger geachtet – der Bundespräsident war immer ein Garant, der den Menschen erlaubte, Vertrauen in ihr Gemeinwesen, in ihre Demokratie zu setzen. Und in dieser sehr problematischen Situation für uns alle, auch für diese Regierung, erfolgt dann sein Rücktritt, den ich hier nicht bewerten möchte. Aber es war natürlich so, dass dadurch dieses Lebensgefühl der Verunsicherung noch mal wieder gesteigert wurde. Und in dieser Situation erfolgte nun meine Nominierung.

    Detjen: Welche Rolle kann und welche Rolle sollte ein Bundespräsident übernehmen – im Verhältnis zu einer Regierung, die in einem so schwierigen Wasser ist, wie Sie das gerade mit Blick auf die schwarz-gelbe Koalition und Angela Merkel geschildert haben? Kann er Ratgeber sein? Kann er ein Gegengewicht sein, sollte er das vielleicht sein?

    Gauck: Sicher erwarten das viele. Und auch manche meiner Unterstützer im Internet wünschten sich vielleicht ein Gegenmodell gegen die Parteipolitik. Dazu eigne ich mich nicht. Ich habe mit großer Verwunderung – war eine Einzelstimme – gelesen, die meint, ich sei irgendwie unpolitisch. Ja, warum eigentlich unpolitisch? Weil ich nicht einer Partei angehöre? Sind nur die Menschen politisch, die Mitglied einer Partei sind? Was ist dann mit den ganzen Menschen, die in der Gewerkschaftsbewegung, in den Kirchen, in der Kultur, die im Journalismus tätig sind? Sind die alle unpolitisch oder wie oder was?

    Detjen: Aber die bewegen sich in einem anderen System als in dem System, das dominiert ist von den Eigengesetzlichkeiten der Parteipolitik, die das parlamentarisch-exekutive System beherrscht.

    Gauck: Ja, das muss man teilweise, und zwar in der Rolle des Bundespräsidenten oder des Kandidaten des Bundespräsidenten, übrigens auch in meiner vorigen politischen Rolle als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Da hatte ich einen politischen Spezialauftrag, hatte ein Gesetz mit Leben zu erfüllen, das geschaffen war, um den Zugang der Menschen zu den Akten der Unterdrückung zu organisieren. Das war ja nun alles andere als unpolitisch. Und das war auch alles andere als frei von politischen Kontroversen. Ich bin ein Mann, der aus dem politischen Raum kommt. Ich habe im politischen Raum in Zeiten der Diktatur für Freiheit gekämpft und in einer politischen Bewegung – der Demokratiebewegung der DDR – freiheitliche Politik gestartet und in Gang gesetzt. All das sind imminent politische Vorgänge. Und von daher ist von mir nun nicht zu erwarten, dass ich ein Repräsentant der außerparlamentarischen Opposition bin, sondern ich schätze unser parlamentarisches System. Und ich weiß, dass es ohne Parteien viel mehr Unordnung gibt, dass Entscheidungsprozesse viel langsamer werden. Es gibt von mir kein einziges verwertbares Zitat, das mich als "Gegen-Parteien-Kandidat" aufbauen würde. Und in meiner ersten Botschaft an meine Unterstützer im Netz habe ich gesagt: Nicht gegen die Parteien, sondern mit ihnen.

    Detjen: Sie haben das erwähnt, diese enorme und so ja wahrscheinlich von niemandem und wahrscheinlich auch von Ihnen nicht vorhersehbare Woge der Unterstützung für Sie im Internet – in sozialen Netzwerken, die das jetzt auch auf die Straße treiben. Wie haben Sie das wahrgenommen, wie haben Sie sich vorher in solchen Kommunikationsräumen bewegt, haben Sie sich da überhaupt bewegt? Wussten Sie, was Facebook ist, haben Sie einen Facebook-Account gehabt?

    Gauck: Also ich wusste, was Facebook ist durch die Gespräche in der Familie mit meinen Enkeln und mit meinen Kindern. Aber ich habe mein ganzes Leben noch nicht einmal Facebook aufgemacht, auch jetzt nicht. Wenn ich um diese Unterstützung weiß und über sie spreche, dann weil mein Sohn und andere Teile meiner Familie und Freunde mich anrufen. Mein Sohn Christian hält mich dauernd auf dem Laufenden – "weißt Du eigentlich, was da abgeht?" Er musste mir das alles erst erklären, was eine Gruppe ist, dann die unterschiedlichen Unterstützer, Foren, wie die heißen und so weiter. Dann hab ich es in der Zeitung gelesen, das Medium ist mir einfach vertrauter. Und dann hab ich es gehört im Hörfunk und im Fernsehen gesehen. Auf diesem Weg kommt's zu mir. Und so ein Mensch wie ich freut sich natürlich wie jeder Mensch über Zuspruch und Unterstützung. Das ist das eine Thema. Aber da ist man natürlich auch verwirrt und sagt sich: So schön bist Du nun nicht und Du heißt auch nicht Beckenbauer. Und wo kommt das alles her? Was will das alles?

    Detjen: Was ist denn Ihre Erklärung? Es ist ja nicht der erste Versuch, das Internet politisch zu mobilisieren. Da gab es die Piratenpartei, die ja auch schon nennenswerte Erfolge hatte bei verschiedenen Wahlen. Jetzt Joachim Gauck als Phänomen des Web zwei null – Politik Zwei Null.

    Gauck: Ja, das Interessante, so habe ich gelesen, sei, dass es eine Positivkampagne sei. Es sei leichter, Kampagnen gegen etwas zu entwickeln im Netz als für etwas. Ich kann das nur hören, ich kann das nicht bewerten. Aber was ich bewerten kann, ist dies: dass nämlich plötzlich aus einem Milieu heraus, das nicht vorrangig mit Politik beschäftigt ist, ein großes Maß an Zustimmung und an Interesse, an wachem Hinschauen, an Begleitung, auch an Engagement entstanden ist. Und das macht mich natürlich als Bürger froh. Also dass ich mich freue über Zuspruch, habe ich schon gesagt, aber Du kannst auf den zweiten Blick, ganz abgesehen von der Personalie Gauck, einfach Dich darüber freuen, dass hier Menschen plötzlich sagen: Da geschieht etwas in meinem Land mit dem wichtigsten Amt – oder zweitwichtigsten Amt – im öffentlichen Raum, und das interessiert mich, da will ich mitreden. Nun können sie nicht wählen, aber sie suchen nun Möglichkeiten zu sagen: Da gehen wir hin, wir wollen an dieses Land glauben. Und das ist die Sehnsucht, die dahinter steckt. Ich denke schon: Die Leute wünschen sich eigentlich, an ihr Land glauben zu können, sich verorten zu können: Das ist mein Land, ich will glaubwürdige Politiker, ich will glaubwürdige Institutionen. Und das könnte einer sein, so denken die. Und deshalb ist es ein doppeltes Signal – eins bezieht sich auf die Person, eins auf die von ihnen gewünschte Demokratie.

    Detjen: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem von SPD und Grünen nominierten Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, mit Joachim Gauck. Herr Gauck, eine Frage, die Ihnen vielleicht bekannt vorkommt, es geht um Afghanistan. Die Frage lautet: Brauchen wir ein klares Bekenntnis zu dieser kriegerischen Auseinandersetzung und vielleicht auch einen neuen politischen Diskurs?

    Gauck: Dass wir einen erweiterten politischen Diskurs, gerade bei heiklen Themen – und das ist ein heikles Thema – brauchen, das ist offensichtlich. Das ist einer der Problembereiche der gegenwärtigen Politik, dass die Verständigung zwischen denen, die regieren und denen, die regiert werden, zurzeit verbesserungswürdig ist. Da gibt es wirkliche Lücken. Es gibt Verständnisdefizite. Und manchmal tut die Politik auch zu wenig, um erklärbare Dinge der Bevölkerung zu erklären. Dass wir in Afghanistan sind, folgt einer völlig anderen Logik als jeder andere Militäreinsatz, den andere deutsche Armeen von früher befolgt haben. Früher zogen deutsche Soldaten aus, um andere Länder zu erobern, andere Menschen zu unterdrücken, Land und Ressourcen zu gewinnen. Heute sind sie im Auftrag der Vereinten Nationen unterwegs, um den Terror zu bekämpfen. Und deshalb sind die dort. Nicht, weil sie dort Bodenschätze für Deutschland gewinnen wollen. Es kostet uns Geld, wir gewinnen nichts. Und das ist neu, dass deutsche Soldaten für Bürgerrechte, für Menschenrechte und für Menschensicherheit streiten, ohne dass es der eigenen Nation direkt Vorteile bringt. Es bringt mittelbar Vorteile, aber doch nicht direkt. Und dass wir hier solidarisch sind, statt übermütig, das ist doch so ein anderes Signal an die Weltgemeinschaft. Wir gehen mit über 60 anderen Ländern in diese Solidarität und nicht in der Tradition des deutschen Militärs.

    Detjen: Die Frage, die ich Ihnen gestellt habe, ist wortgleich diejenige, die mein Kollege Christopher Ricke auf dem Rückflug von Asien am Freitag vor Pfingsten Horst Köhler gestellt hat. Wenn Horst Kohler damals so geantwortet hätte wie sie, wäre er möglicherweise noch im Amt. Köhler hatte einen Zusammenhang hergestellt zwischen wirtschaftlichen Interessen, zwischen Interessen an freien Handelswegen der Exportnation Deutschland und Militäreinsätzen und es war nicht ganz klar, meinte er Afghanistan, meinte er möglicherweise nur Somalia. Wie sehen Sie diese Verknüpfung? Ein früherer Bundesverteidigungsminister, Peter Struck, hat gesagt, die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt. Welche Sicherheit ist das, wenn nicht auch die Sicherheit von freien Handelswegen?

    Gauck: Nun, ich denke mir, dass die Situation so unglücklich war, dass wahrscheinlich im Kopf des geschiedenen Bundespräsidenten die Situation am Horn von Afrika war, wo Militär gegen Piraten eingesetzt wird. Das hat ja auch eine eigene Logik. Da gehen wir ja auch nicht einfach mal so hin, um ein paar andere da abzuschießen, sondern da hat es komplizierte Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Staaten gegeben und die leisten dort Verteidigungshilfe der friedlichen Seeschifffahrt. Das ist etwas völlig anderes. Das hat ja nun mit Afghanistan gar nichts zu tun. Und was Peter Struck betrifft und seine Äußerung, dann verstehe ich die so, dass er sagte: "wir sind in Europa nicht frei von terroristischer Bedrohung". Und möglicherweise würden die Spanier und die Briten eine solche Äußerung besser verstehen, denn in Madrid und in London hat es bösartige terroristische Anschläge gegeben, die wir in Deutschland nicht erlebt haben. Hoffentlich bleibt das so. Wir hatten Planungen erlebt, aber wir haben bei der Gruppe, die so aktiv war, Sprengstoff zu fabrizieren, eben keine Vollendung erlebt wie die Menschen in Madrid und in Großbritannien. Also, es gehörte nicht so viel Fantasie dazu, dass ein deutscher Verteidigungsminister sagt, das kann auch uns treffen. Und deshalb gehören wir zu denen, die das Recht auf Leben friedlicher Menschen verteidigen - als Ultima Ratio eben auch militärisch.

    Detjen: Herr Gauck, das Amt des Bundespräsidenten ist ein Amt, das aus historischer Erfahrung weitgehend entmachtet wurde. Die Macht des Bundespräsidenten ist im Wesentlichen die Macht des Wortes. Roman Herzog, der frühere Bundespräsident, hat mal in einem wissenschaftlichen Kommentar zum Grundgesetz geschrieben, die wichtigste Aufgabe und Macht des Bundespräsidenten sei es – Zitat – "zu mahnen, zu warnen und zu ermutigen". Fangen wir mit dem Mahnen an. Wozu würden Sie die Deutschen ermahnen?

    Gauck: Ich würde sie dazu ermahnen, die Tatkraft, die ihnen ja immer nachgesagt ist und die sie in verschiedenen Epochen auch an den Tag gelegt haben, an diese eigene Tatkraft weiter zu glauben und nicht zu meinen, dass Angst der beste politische Ratgeber ist.

    Detjen: Wenn ich da eine Nachfrage einschieben darf: Wird diese Tatkraft nicht geschwächt im Augenblick, in der Situation der Wirtschaftskrise, auch durch politische Entscheidungen, wenn wir etwa uns die in dieser Woche veröffentlichte Studie vor Augen führen, die vor einem dramatischen Wegbrechen der Mittelschicht, die ein Träger von Tatkraft in Deutschland immer gewesen ist, warnt?

    Gauck: Ja, das in der Tat eine sehr ernste Problematik. Schon vor Jahren sind wichtige Stimmen laut geworden, unter anderem in den Vereinigten Staaten, die die Angst vor dem Absturz der Mittelschicht thematisierten. Und wir kommen in eine Situation, in der unser traditionelles, vom Mittelstand geprägtes Wirtschaftsland einer neuen Herausforderung gegenübersteht. Das hängt natürlich mit der Globalisierung zusammen und wir erleben nun, dass das, was unserem Land Gewinn bringt, nämlich unsere Exportmöglichkeiten in die ganze weite Welt hinaus, gleichzeitig Strukturen hier bedroht. Und deshalb können Sie immer fragen, ja, die alte Tatkraft genügt nicht immer. Die alten Unternehmertypen können uns ein Vorbild geben, aber so wie wir die Demokratie immer wieder für jede Generation neu definieren und eigenständig gestalten müssen, muss natürlich auch im Bereich der Wirtschaft innovatives Denken und Umorganisieren und Umstrukturieren erfolgen. Wirtschaft ist ein lebendiger Prozess und wir müssen manchmal auch Wirtschaft neu denken, übrigens auch den Kapital- und den Finanzmarkt. Das erleben wir ja. Das Schlimme ist, dass bei diesem Neudenken immer eine Art von Hybris einreißen kann, sodass diejenigen, die – wenn man den Sportvergleich mal benutzt – Foul spielen, den größten Gewinn abgesahnt haben eine Zeit lang. Es ist wie im Radsport. Wenn bei der Tour de France der Oberdoper dann der Toursieger ist, dann stimmt etwas nicht. Und deshalb sollten wir es mit der Wirtschaft halten wie mit dem Sport. Wir sollten die Wirtschaft nicht einsperren in den Zwang des Staates. Aber gleichzeitig sollten wir das tun, was im Sport getan wurde: Wir setzen Regeln und wir achten auf die Einhaltung der Regeln. Und indem wir das tun, bewahren wir auch Freiheit in der Wirtschaft, weil nicht dann die, die der Hybris verfallen sind und dem Übermut, diejenigen sind, die die Wirtschaftsprozesse dominieren.

    Detjen: Müssen wir in diesen Zeiten eine neue soziale Marktwirtschaft denken?

    Gauck: Ja wissen Sie, ob das so neu ist, weiß ich nicht. Selbst die Liberalen sagen ja, dass in der liberalen Wirtschaftstheorie die Gesamtverantwortung mit gedacht wird. Und was wir brauchen, ist, für die jeweils aktuelle Situation diese Fähigkeit, Freiheit als Verantwortung zu definieren, umsetzen. Und das hieße für eine Situation auf den Finanzmärkten, wenn gerade Hybris Erfolg hat, zu sagen, so geht es nicht weiter, weil wir den Misserfolg schon vorausahnen. Diesmal sind wir zu spät gekommen. Und deshalb ist die Politik aufgefordert, mit der Wirtschaft in ein ordnendes Gespräch einzutreten.

    Detjen: Geschieht das in ausreichendem Maße oder würde ein Bundespräsident, um zur dritten Herzogschen Kategorie zu kommen, eine Bundesregierung ermuntern, hier bei dem Setzen von Regeln für Finanzmärkte, für die Wirtschaft noch weiter voran zu gehen?

    Gauck: Also, solange es beim Ermuntern bleibt, geht es wohl gut.

    Detjen: Gesetze kann er ja nicht machen, aber die Frage ist, ob Sie einen Bedarf sehen, hier stärker politisch zu regeln.

    Gauck: Da, glaube ich, würde ich in die Reihen derer gehören, die das Gespräch der Politiker mit dem Volk fördern und die sich auch nicht scheuen würden, den ausübenden Politikern Fragen zu stellen. Und ich würde auch darauf drängen, dass man mir diese Fragen beantwortet. Und dann kann auch mal ein Wort der Ermutigung kommen, das Ihnen vielleicht auch größere Freude daran auslöst: Ihren Auftrag, in bestimmten, gesetzlich begrenzten Rahmen dirigistisch einzugreifen. Das könnte passieren. Aber ich würde doch wirklich übermütig werden, wenn ich mir einbilden könnte, in dieser Funktion eine Gegenpolitik zu betreiben oder die Berufungsinstanz zu sein, wo die Bevölkerung dann sagen könnte: Die machen es falsch, mach du es bitte richtig. Also, so übermütig und so unkundig bin ich nicht.

    Detjen: Herr Gauck, wir sind in Zeiten der Fußballweltmeisterschaft. Deutschland ist Schwarzrotgold geflaggt. Ist diese ungezwungene, fröhliche Freude am Nationalen etwas, was Sie inzwischen als etwas ganz Normales empfinden, oder erstaunt Sie das noch?

    Gauck: Nein, jetzt erstaunt es mich nicht mehr. Es hat mich ein wenig erstaunt, die Welle der Begeisterung und die Fülle von Schwarzrotgold bei der letzten WM in Deutschland. Und Menschen meines Alters haben dann zunächst, also viele Intellektuelle waren total verunsichert, ist das Nationalismus? Und die einfache Antwort ist: Es war keiner. Es hat sich nicht gegen andere Nationen gerichtet, wir konnten uns mit anderen freuen. Wir mussten nicht Weltmeister werden und blieben trotzdem patriotisch und haben uns an Schwarzrotgold gefreut. Und das ist etwas Neues, es ist wirklich etwas Neues geworden. Es hat sich gelohnt, dass dieses Land schon 60 Jahre Freiheit trainiert hat und dass die Ostdeutschen für diese Freiheit sogar eine kleine Revolution gewagt haben. Und jetzt sind die Leute mehr zuhause bei sich in ihrem eigenen Land. Und wenn das so ist, dann sagen sie auch leichter ja dazu. Und dazu zeigen sie diese Farben Schwarzrotgold, die am Beginn der Demokratieentwicklung in Deutschland standen.

    Detjen: Würde die erste Dienstreise eines Bundespräsidenten Joachim Gauck am 11. Juli zum WM-Finale nach Südafrika führen?

    Gauck: Also, das ist nun wieder so eine Frage, die ich nicht beantworten mag. Also, ich bin da nicht, und wenn ich da bin, können Sie am nächsten Morgen bei mir anrufen und fragen: Wo geht denn Ihre erste Dienstreise hin?

    Detjen: Es waren jetzt auch eher die fußballerischen Prognosefähigkeiten von Joachim Gauck gefragt, hätte ein Bundespräsident Anlass, am 11. Juli zum Finale zu fahren?

    Gauck: Ja, wenn Sie mich anders fragen, sage ich: Ich hoffe schon, dass unsere Jungs da ins Endspiel kommen, aber wenigstens sollen sie nicht vor dem Halbfinale scheitern. Also, das ist doch das, was ihnen nun gar keiner wünscht.

    Detjen: Also, die deutschen Fußballer mögen es als Ermahnung, in jedem Fall als Ermunterung von Joachim Gauck verstehen. Herr Gauck, vielen Dank für das Gespräch.

    Gauck: Ich danke Ihnen.
    Präsidentschaftsjandidat Joachim Gauck und Deutschlandfunk-Chefredakteur Stefan Detjen (rechts)
    Joachim Gauck und Deutschlandfunk-Chefredakteur Stefan Detjen (rechts) (Deutschlandradio - Nils Heider)