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Mit Pflanzen gegen Kinderlähmung
Britische Forscher stellen virusfreien Polio-Impfstoff her

Dank weltweiter Impfkampagnen gilt das Virus, das die Kinderlähmung auslöst, zu 99 Prozent als ausgerottet. Allerdings basieren die Impfstoffe auf aktiven Viren. Das heißt: Sie bleiben in der Welt. Forschern aus Großbritannien ist es gelungen, eine exakte Kopie zu entwickeln.

Von Lucian Haas | 09.10.2017
    Ein Junge erhält die Kinderlähmung-Schluckimpfung und sperrt den Mund auf.
    Die Herstellung von Polio-Impfstoffen basiert auf lebenden, infektiösen Polio-Erregern. Um das Virus komplett auszurotten, muss man andere Wege finden. (dpa )
    Wenn es darum geht, den Erreger der Kinderlähmung aus der Welt zu verbannen, wird dies mit klassischen Impfstoffen gegen das Polio-Virus kaum gelingen.
    "Es existieren Polio-Impfstoffe, die sich als sehr wirksam erwiesen haben. Aber da gibt es ein Problem: Die Herstellung der Impfstoffe basiert auf lebenden, infektiösen Polio-Erregern. Um das Polio-Virus komplett auszurotten, muss man andere Wege finden. Die Weltgesundheitsorganisation hat ein Programm zur Ausrottung von Polio, das auf den Einsatz einer neuen Generation von Impfstoffen setzt."
    George Lomonossoff ist Molekularbiologe am John Innes Center für Pflanzenforschung im britischen Norwich. Er gehört zu einer Forschungsgruppe, die im Auftrag der WHO an der Entwicklung neuer, nicht-infektiöser Polio-Impfstoffe arbeitet. Gemeinsam mit Kollegen ist es ihm gelungen, einen entsprechenden synthetischen Wirkstoff zu entwickeln. Es handelt sich um sogenannte virusartige Partikel.
    Tabakpflanzen als Fabriken
    "Unser Impfstoff ist nie in Kontakt mit infektiösen Viren gekommen. Er besteht nur aus der äußeren Proteinhülle des Polio-Virus, enthält aber nichts von dessen Erbgut, das für die Ansteckung sorgt. Der Impfstoff kann also keine Infektion auslösen, er kann keine Viren in der Umwelt verbreiten und ganz sicher keine Krankheit verursachen."
    Eine Besonderheit des neuen Impfstoffes ist dessen Herstellungsweise. Die Forscher nutzen Tabakpflanzen als Fabriken. Die Pflanzen selbst müssen dafür nicht von Grund auf gentechnisch verändert werden. Vielmehr setzt George Lomonossoff auf eine Technik namens Infiltration. Dabei werden die genetischen Baupläne für die Hüllproteine der Polio-Viren erst in spezielle Bakterien namens Agrobacterium tumefaciens übertragen. Und zwar in Form eines Plasmids, das ist ein ringförmiger DNA-Strang. Anschließend werden die ausgewachsenen Blätter der Tabakpflanzen mit einer Lösung der Bakterien umspült. Agrobakterien haben die Fähigkeit, in Pflanzenzellen einzudringen und ihre Plasmide in deren Zellkern zu schleusen. Die Pflanzen beginnen dann mit ihrer molekularen Zellmaschinerie die im Plasmid codierten Proteine herzustellen. In diesem Fall die leere Virushülle für den neuen Polio-Impfstoff.
    "Ich war sehr erfreut darüber zu sehen, wie gut die Pflanzen die virusartigen Partikel bilden können. Es handelt sich ja um ein tierisches Virus, das normalerweise nicht in Pflanzenzellen vorkommt. Aber die Pflanzen machen das extrem gut, besser als ich erwartet hätte."
    Synthetischer Impfstoff ist exakte Kopie echter Virushüllen
    Forscher der Universitäten von Leeds und Oxford konnten das bestätigen. Sie untersuchten die von George Lomonossoff gelieferten virusartigen Partikel per Kryo-Elektronenmikroskopie und verglichen sie mit realen Polio-Viren. Die Analysen zeigten keine äußerlichen Unterschiede. Der synthetische Impfstoff entpuppte sich als eine exakte Kopie der echten Virushülle. Bei ersten Tests in Mäusen lösten die Partikel zudem die gewünschte schützende Immunreaktion gegen das Polio-Virus aus, ohne auch nur einen Schnipsel Virus-DNA zu enthalten.
    "Wir müssen jetzt Wege finden, um den Maßstab der Produktion zu vergrößern. Bisher haben wir nur im sehr kleinen Rahmen gearbeitet. Nun kollaborieren wir mit verschiedenen Firmen, um die nötigen Methoden zu entwickeln. Die Produktion muss unter streng kontrollierten Bedingungen im Gewächshaus stattfinden, um klinische Tests des Impfstoffs an Menschen zu ermöglichen. Ich hoffe, dass wir in ein paar Jahren soweit sind und den neuen synthetischen Polio-Impfstoff im nächsten Jahrzehnt einführen können."
    Derweil plant George Lomonossoff, auf Basis der guten Erfahrungen mit dem synthetischen Polio-Impfstoff, sein pflanzliches Produktionsverfahren auch auf Impf-Wirkstoffe gegen andere Krankheiten auszuweiten. Im Blick hat er unter anderem Viren wie Zika oder Ebola.