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Mit Spannung erwartet

Heute Nachmittag wird der Internationale Gerichtshof in Den Haag seine Einschätzung zur Unabhängigkeit des Kosovo verkünden. Ein Jahr lang haben sich die Richter - auf Veranlassung Serbiens - mit der Frage beschäftigt, ob die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo rechtmäßig war.

Von Gesine Dornblüth | 22.07.2010
    Juristisch geht es bei dem Streit um die Unabhängigkeit des Kosovo um zwei einander widersprechende Grundprinzipien des Völkerrechts. Da ist zum einen die sogenannte territoriale Integrität. Sie besagt, dass Staatsgrenzen unverletzlich sind, und dass sich keine Region einseitig von einem Staat lossagen darf. Darauf berufen sich die Serben. Sie meinen, dass das Kosovo nach wie vor zu Serbien gehört.

    Dagegen steht zum anderen das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Das machen sich die Kosovo-Albaner zu nutze. Sie gehen davon aus, dass sie wegen der massenhaften Vertreibungen und Morde an Vertretern ihrer Volksgruppe in den 90er-Jahren das Recht erworben haben, sich von Serbien loszusagen.

    Die Richter in Den Haag sollen bewerten, welches der beiden Prinzipien im Fall des Kosovo stärker ist. Die Regierungen beider Länder geben sich in diesen Tagen siegessicher. Serbische und kosovarische Politiker polemisieren gegen die jeweils andere Seite. Im serbisch dominierten Norden des Kosovo stiegen in den letzten Tagen die Spannungen. Doch wie auch immer das Urteil der Richter ausfallen wird – es ist nicht bindend, sondern hat nur empfehlenden Charakter. Das räumt auch der Innenminister des Kosovo, Bajram Rexhepi, ein:

    "Jeder erwartet zu viel von diesem Haager Gericht. Auch wir Kosovaren. Dabei wird die Meinungsäußerung der Richter wahrscheinlich nicht viel Klarheit bringen. Jeder wird das als seinen Sieg auslegen können. Ich glaube allerdings, dass danach eine neue große Gruppe von Staaten, die bisher abgewartet hatte, das Kosovo anerkennen wird. Und wenn die internationale Anerkennung schneller läuft, dann werden auch die Serben in den Kopf kriegen, dass das ein unumkehrbarer Prozess ist."

    Der serbische nationalistische Oppositionspolitiker Milos Aligrudic bemüht sich gleichfalls, die Rolle des Gerichts herunterzuspielen.

    "Wenn die Entscheidung des Gerichts in die Richtung der serbischen Position geht, nach der die Anerkennung des Kosovo gegen internationales Recht verstößt, dann wird das bestimmt nicht sofort die Meinung der Regierungen in Großbritannien, Deutschland oder Washington ändern. Aber es wird uns die Energie geben, weiter für die Integrität unseres Staates zu kämpfen."

    Die Einschätzung der Haager Richter wird in vielen europäischen Hauptstädten mit Spannung erwartet. Denn nicht alle EU-Mitgliedsländer haben das Kosovo bisher anerkannt. Einige EU-Staaten fürchten separatistische Konflikte im eigenen Land. Und auch in der Nachbarschaft der EU schauen die Politiker nach Den Haag. Da ist zum einen Transnistrien. Es hat sich von der Republik Moldau abgespalten und für unabhängig erklärt. Und da sind Südossetien, Abchasien und Berg-Karabach im Südkaukasus. Die Separatisten in diesen vier Regionen betrachten das Kosovo als Präzedenzfall, um die eigene Anerkennung zu fordern. So zum Beispiel in Transnistrien. Der stellvertretende Außenminister des Separationsgebietes, Sergej Simonenko:

    "Wir haben viel über das Kosovo diskutiert. Und wir fragen uns: Wenn man auf dem Gebiet des zerstörten Jugoslawien das Kosovo schaffen durfte, warum dürfen wir dann nicht das gleiche Recht für uns in Anspruch nehmen, einen Staat zu gründen und von den selben EU-Mitgliedsstaaten anerkannt werden?"

    Die Transnistrier, besonders aber die Südosseten und Abchasen, werden in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen von Russland unterstützt. Russland hat Südossetien und Abchasien vor knapp zwei Jahren als unabhängige Staaten anerkannt, als Reaktion auf die Unabhängigkeit des Kosovo. In der Kosovofrage dagegen steht Russland eindeutig an der Seite Serbiens. Der Umgang mit den Separationsgebieten belastet das Verhältnis zwischen der EU und Russland. Die EU hat es in dieser grundsätzlichen Frage bisher nicht geschafft, eine einheitliche Position zu entwickeln.

    Der aserbaidschanische Politologe Tabib Huseynov von der renommierten International Crisis Group bezeichnet das als eines der größten Probleme der europäischen Außenpolitik. Er empfiehlt der EU, die heutige Äußerung der Richter in Den Haag zum Anlass zu nehmen, das zu ändern.

    "Dass es keine einheitliche Position in Bezug auf das Kosovo gibt, wirkt sich sehr negativ auf die Versuche aus, andere Sezessionskonflikte auf dem europäischen Kontinent und außerhalb zu lösen."