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Mit viel Sinn für leise Töne

"Wozu sind Wurzeln gut, wenn man sie nicht mitnehmen kann?" Diesen Gedanken von Gertrude Stein greift in ihrem neusten Buch die polnische Autorin Olga Tokarczuk auf und erklärt die Wurzellosigkeit, die Instabilität, die Bewegung zum Kern der Natur des Menschen.

Von Marta Kijowska | 16.11.2009
    "Reg dich, beweg dich, los, Bewegung, Unrast. Nur so kannst du ihm entkommen. Er, der die Welt beherrscht, hat keine Macht über die Bewegung, weiß, dass unser Körper in Bewegung heilig ist. Er hat nur die Herrschaft über das, was unbeweglich und erstarrt ist, was reglos und kraftlos ist. Also beweg dich, reg dich, wiege dich, geh, lauf, renn, sobald du dich vergisst, stehen bleibst, rastest, packen dich seine Hände, verwandelt er dich in eine Marionette, sein Atem hüllt dich ein."

    "Die Läuferin" nennt Olga Tokarczuk die Figur, aus deren Monolog diese Sätze stammen. Sie ist Angehörige einer russisch-orthodoxen Sekte, die vor allem an eines glaubt: dass der Mensch vom Teufel ereilt werde, sobald er sich im Stillstand befinde. Der Name der Sekte bildet sogar den Titel des polnischen Originals, doch auch das deutsche Wort "Unrast" entspricht durchaus der Beschaffenheit des Buches: Es ist ein aus Tagebuchaufzeichnungen, Erzählungen, Skizzen, Traumprotokollen und Briefen komponierter Prosatext, und die Zusammenhänge zwischen all diesen Formen sind auf den ersten Blick kaum erkennbar. Im Grunde verbindet sie nur eines: Sie handeln alle von der Befindlichkeit des modernen Menschen, für den eben die Bewegung, das Unterwegssein, die Reise zu der wichtigsten Lebensform geworden ist. Und der sein permanentes Nomadentum als einen Normalzustand betrachtet, der ihn dennoch immer wieder ins Staunen versetzt.

    "Wenn ich mich auf eine Reise begebe, verschwinde ich von der Landkarte. Niemand weiß, wo ich bin. An dem Punkt, von dem ich ausgegangen bin, oder an dem Punkt, zu dem ich strebe? Existiert ein 'Dazwischen'? Bin ich wie dieser verlorene Tag, wenn man nach Osten fliegt, und die gewonnene Nacht nach Westen?"

    Dieses Sinnieren über Raum, Zeit und manches andere war schon immer ein Bestandteil von Olga Tokarczuks Prosa. Eigentlich sei sie keine richtige Schriftstellerin, sagt sie manchmal. Denn sie brauche das Schreiben in erster Linie für sich selbst – um auf diese Weise besser mit sich und ihrem Weltbild zurechtzukommen. Diesmal geht sie gar so weit, dass sie Ereignisse aus ihrem Leben in die Handlung einfließen lässt. Sie gibt auch offen zu, dass die Idee zu diesem Buch auf ihre eigenen Reisen zurückgeht: auf die Notizen, die sie jedes Mal mitbringt, auf gehörte Geschichten, Betrachtungen. Und alles, was sie erkundet, beschreibt sie mal mit viel Sinn für leise Töne, mal mit einer geradezu wissenschaftlichen Präzision.

    "Ich bin handlich, klein und kompakt. Mein Magen ist anspruchslos, mein Bauch fest, meine Lungen sind kräftig, meine Armmuskeln stark. Ich nehme weder Medikamente noch Hormone und trage keine Brille. Ich habe gesunde Zähne, vielleicht nicht ebenmäßig, doch ganz, nur eine alte Plombe ist da, ich glaube im Sechser links unten. Leberwerte normal. Bauchspeicheldrüsenwerte normal. Die Nierenfunktion rechts und links hervorragend."

    "Die Eigenart von Olga Tokarczuks Prosa besteht darin, dass sie so sprachmächtig und zugleich so nüchtern daherkommt", schrieb neulich ein Rezensent. Das ist in der Tat eine der Stärken des Buches. Die besagte Vielfalt der Texte kommt ihm aber nicht immer zugute. Man versteht zwar, dass die in Bruchstücke aufgelöste Erzählform unsere heutige, fragmentartige Wahrnehmungsart widerspiegeln soll. Man spürt aber auch, dass diese Textcollage den Charakter eines schriftstellerischen Inventars hat, und zweifelt manchmal an ihrer diagnostischen Tauglichkeit. Zumal die Diagnose selbst alles andere als neu ist. Dass das Leben einer Reise gleicht? Dass wir alle Getriebene sind, auf der Suche nach etwas, was nicht zu finden ist? Handelt davon nicht die halbe Literatur?

    Es gibt viele schöne Passagen in diesem Buch – solche, in denen Tokarczuk wieder einmal ihr erzählerisches Talent zeigt. Und dieses besteht nicht zuletzt darin, eine alltägliche Situation in eine Katastrophe oder ein ungelöstes Geheimnis münden zu lassen. Wie in der Geschichte von dem Urlauber, dessen Frau und Sohn für drei Tage spurlos verschwinden und der niemals dahinter kommt, was in dieser Zeit passiert ist. Oder darin, Menschen zu schildern, die für kurze Zeit eine eigene, undurchdringbare Welt schaffen. Wie die junge Russin, Mutter eines Behinderten, die sich plötzlich der "Läuferin", der Sektenfrau, anschließt, um sie dann aber bald wieder zu verlassen und nach Hause zurückzufinden. Doch kaum fängt man an, das Klima dieser Geschichten zu genießen, schon wird man gezwungen, weitere Früchte von Tokarczuks Sammelwut zu bestaunen: Zitate, Glossen, Kommentare, biographische Fragmente, religiöse Betrachtungen. An einer Stelle gibt sie sogar zu, sie hätte für ihr Buch die Form eines Vortrags wählen können, und rechtfertigt sich für ihre schönen epischen Einlagen:

    "Erzählungen haben eine eigene Trägheit, die sich nie ganz unter Kontrolle bringen lässt. Sie brauchen Leute wie mich, die unsicher sind, unentschieden, leicht an der Nase herumzuführen. Naive."

    Gerade in ihren Erzählungen wirkt Olga Tokarczuk alles andere als naiv – im Gegensatz zu manchem anderen Teil dieses ungewöhnlichen Buches. Einige polnische Kritiker fanden es gar so ungewöhnlich, dass sie es mit dem Nike-Preis, der wichtigsten Literaturauszeichnung des Landes, bedachten. Dazu kann man der heute 47-jährigen Autorin nur gratulieren. Denkt man allerdings an all die Bücher, mit denen sie für den Preis bereits nominiert war, vor allem an ihren grandiosen Roman "Ur und andere Zeiten", findet man diese Entscheidung auch ein wenig ungewöhnlich.

    Olga Tokarczuk, "Unrast". Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky, Schöffling Verlag, Frankfurt am Main, 464 Seiten, 24,90 Euro.