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Miteinander verklammert

Ob einer Stil hat oder eben keinen, ist in den letzten drei Jahrzehnten zu einer Frage mit deutlich gewachsener Bedeutung geworden. Von einer literarischen Bohème in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wiederbelebt, um gegen formlose 68er-Rebellen mit stilbewusstem Auftreten zu rebellieren und also das Fortschreiten des Fortschritts zu gewährleisten, ist Stil dem gegenwärtigen Bewusstsein zwischen Vanity Fair, Süddeutscher Zeitung und Frankfurter Allgemeinem Sonntagsblatt käuflich geworden. In Stil wird das Optimum eines Einkaufsberaters gesehen – und als Einkaufsberater steht Stil neben Erziehungsberatern, Gewissensfragen und Manieren hoch im Kurs.

Von Thomas Palzer | 15.10.2007
    Ulf Poschardt, Chefredakteur des deutschen Vanity Fair:

    "Stil ist die letzte Rebellion."

    Die letzte Rebellion? Gegen was? Poschardt publizierte seinen Aufsatz in der deutschen Zeitschrift für europäisches Denken, im Merkur, und zwar der neuen Ausgabe, die sich dem stilaffinen Thema Dekadenz widmet. Der Merkur wird mitherausgegeben von dem emeritierten Bielefelder Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer – und Bohrer nun hat zum Thema Stil ein ganzes Buch veröffentlicht, gerade eben, in der Edition Akzente bei Hanser. Ein Buch, das eine Reihe seiner Essays versammelt unter dem emphatischen Titel: Großer Stil - Form und Formlosigkeit in der Moderne.
    Bohrers Untertitel ist eine sachte Anspielung auf ein anderes Buch, das 2002 für ungewöhnliche Furore sorgte: Häresie der Formlosigkeit – Die römische Liturgie und ihr Feind. Autor des Werks ist der Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach, der mit Hilfe eines äthiopischen Prinzennamens ein Jahr darauf ein Werk ausgerechnet zum Thema Manieren veröffentlichte – ebenfalls mit großem Erfolg. "Stil oder maniera" heißt denn treffender Weise auch der Eingangsaufsatz in Bohrers Essaysammlung. Auch der Große Stil mit großem G ist eine Häresie der Formlosigkeit.

    Wie es der Autor schon im Vorwort ankündigt: Weder behandelt Großer Stil die populärhedonistische Auflösung des Stils im Alltag - geriert sich folglich als Einkaufsführer -, noch aber wird der dem Avantgardismus geschuldete Ansatz behandelt, der darauf zielt, die Kunst ins Leben zu verlängern, beide Pole in einem zweifelhaften, gewissermaßen fidusarti¬gen oder fidelen Lebensstil zu überhöhen. Bohrer verknüpft vielmehr Stil mit Begriffsarbeit. Stil, so formuliert er, sei eine...

    "... Ausdrucksgebärde, die Alltag und Leben transzendiert."

    Das erinnert an das Anliegen der Romantik, die Novalis zufolge...

    "...dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Endlichen einen unendlichen Schein..."

    ... geben will. Für Bohrer ist Stil jener Sinn, der im Alltag Möglichkeiten entdeckt, diesen zu überhöhen. Doch ist bei dem Autor die Romantik gewissermaßen durch Hegel diszipliniert, ist von innen ausgeglüht: Bohrer hütet sich, schon von der Begeisterung begeistert zu sein. Statt bloß, um es zeitgenössisch auszudrücken, die Party zu feiern, klagt er ein, dass es bei aller Begeisterung zunächst...

    "... immer um eine Fähigkeit zur Objektivierung von bloß tautologisch Gefühltem geht."

    Stil, das bedeutet für Bohrer: Ethos, Charakter, rigorose Selbstdisziplin – vor allem gegenüber dem Narzissmus des Ich. Wer Stil hat, so könnte man sagen, der denkt und fühlt aristokratisch – und für das weitgehende Fehlen aristokratischer Elemente unter den Deutschen - was Bohrer sogleich konstatiert - führt der Autor Gründe an, die dem Ideengeschichtler Isaiah Berlin dazu dienten, die deutsche Romantik als Kultur des Ressentiments zu demaskieren: Gegen die verhasste höfische Gesprächskultur wurden hierzulande bürgerliche Individualität und Blödigkeit ausgespielt - Heideggers Bauernschuhe gegen die Lackstiefelchen einer Pariser Kokotte.

    "Genannt werden muß aber die im 18. Jahrhundert bei deutschen Schriftstellern kultivierte Aversion gegen die französische hohe Form, d. h. gegen Versailles, sowohl gegen die hocharistokratische Etikette des Hofes wie gegen die heroische Form der Tragédie classique."

    Neben vorrangig philologischen Gegenständen thematisiert Bohrer in Großer Stil eine Reihe von gesellschaftlichen und kulturpolitischen Phänomenen: Das mangelnde Ausdrucksvermögen deutscher Banker gegenüber ihren britischen Kollegen etwa...

    "…zur Aktualität und Geschichte eines nationalen Unvermögens"

    ...oder die Verwechslung der Kunst mit Kritik ... die Flucht der Kulturwissenschaft vor der Kunst, insofern nämlich die Kulturwissenschaft dem historischen Interesse vor dem literarischen den Vorzug gibt – und damit, wie Bohrer zeigt, den literarischen wie ästhetischen Kanon, den Text zugunsten des Kontextes entwertet.

    Großer Stil hat Größeres im Auge als nur Philologie. Das Buch kann als Fortsetzung von Bohrers Essaysammlung Nach der Natur aus dem Jahr 1988 gelesen werden. Auch hier schon beklagte der Autor den Mangel an Symbolischem und Symbolisiertem und damit den Mangel an politischer Ästhetik (die nichts mit einer reflexhaft aufgerufenen Ästhetisierung des Politischen zu tun hat). Auch hier schon wurden die Suche nach sich selbst, die Sehnsucht nach dem Ganzen und nach Identität als Selbstverlust markiert. Und schon damals zeigte Bohrer, dass es zum Stil gehört, die Sphäre des Staates zu einem Teil der eigenen Existenz zu machen, sein Leben demnach zweifach zu führen, empirisch und politisch, sterblich und metaphysisch.

    Bohrer, der bekanntlich große Sympathien für Paris und den Geist der französischen Sprache hegt, hat sich ein französischen Ideal des 18. Jahrhunderts zu eigen gemacht: Den Geschmack vergeistigen und den Geist vergeschmacklichen. Als sozusagen nach Paris zumindest zeitweise übergetretener gebürtiger Kölner übernimmt er den aus Zeiten des Versailler Hofes stammenden französischen Gemeinplatz, der besagt, dass die Deutschen ein Volk ohne Geschmack seien. Bohrer anverwandelt sich diesen Gemeinplatz und bestätigt mit klugen Beobachtungen und Einlassungen dessen volle Gültigkeit auch heute noch.
    Zu Bohrers zentralen Bezugspunkten in der ästhetischen Tradition gehört Nietzsche, von dem ja auch das titelgebende Wort vom Großen Stil stammt. Über den Stil des Philosophen Nietzsche hat nun der Stuttgarter Emeritus Heinz Schlaffer ein Buch geschrieben – publiziert im selben Verlag wie Bohrers Apologie: Das entfesselte Wort – Nietzsches Stil und die Folgen.

    Schlaffer, um das vorweg zu sagen, nimmt Stil deutlich weniger nietzscheanisch als Bohrer. Er sieht in ihm zunächst nicht mehr als die Art, wie jemand schreibt, wie jemand den Griffel oder stilus hält. Nietzsche, und das zeigt der Autor in zwanzig knappen und eleganten Kapiteln, Nietzsche hielt den Griffel wie ein Mikrophon: Er inszenierte sich als Redner, als Künder, als Prophet, als Lehrer; er inszenierte seine Schriftsprache so, als spräche er live.

    Schlaffers Clou ist zu zeigen, dass Nietzsche die Sprache überwinden und dem Leser mündliche Unmittelbarkeit gewissermaßen soufflieren will. Präzise wird in Das entfesselte Wort das Stilrepertoire des Philosophen aufgefächert und analysiert – und es werden die Strategien benannt, mit denen der Philosoph versucht, in seiner Sprache einen Ton zu treffen, der alle anderen Töne überbietet: Er sucht den tonangebenden Ton, den Ton des einsamen, von weit her kommenden, aus dürftiger Zeit und engem Raum entlassenen Propheten.

    Weil es hierzulande keine republikanische Tradition der öffentlichen Rede gegeben hat und gibt - weder der politischen noch juristischen - konstatiert Schlaffer ähnlich wie Bohrer eine charakteristische deutsche Sprachlosigkeit oder Sprachungeübtheit. Die läßt Nietzsches sprachliche Virtuosität und Musikalität naturgemäß noch einmal stärker hervortreten. Schlaffer schreibt:

    "Nietzsche, als Komponist gescheitert und von Wagner enttäuscht, arbeitete seinen Text zum Notenblatt um."

    Eine erhellende Erkenntnis. Die Überwindung der Schrift, die Verschmelzung von Wort und Tat, diese romantische Sehnsucht ist ein prägendes Motiv deutschsprachiger Literatur bis in die jüngste Gegenwart: Texte, die mehr sein wollen als Texte.

    Bohrers Großer Stil und Schlaffers Entfesseltes Wort sind auf interessante und spannende Weise miteinander verklammert – und so sollte man es sich auf keinen Fall entgehen lassen, mit der Lektüre beider Bücher im eigenen Kopf die Figur einer zweipoliger Ellipse zu beschreiben. Auch Nietzsche wollte ja immer und vor allem: tanzen.

    Karl Heinz Bohrer: Großer Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne. Edition Akzente. München 2007: Hanser. 280 S., 21,50 Euro

    Heinz Schlaffer Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen. München 2007: Hanser. 224 S., 19,90 Euro