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"Mitleid" an der Schaubühne
Die unerbittliche Logik des Gewehrs

Warum wiegt ein ertrunkener Flüchtlingsjunge an den Toren Europas moralisch offenbar mehr als zum Beispiel 1.000 Tote in den kongolesischen Bürgerkriegsgebieten? Das fragt der Schweizer Theatermacher Milo Rau in seinem neuesten Stück "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs" an der Berliner Schaubühne. Dafür hat er sich auch wirklich in den Kongo begeben.

Von Eberhard Spreng | 17.01.2016
    Die Berliner Schaubühn
    Die Berliner Schaubühne (dpa / picture alliance / Hubert Link)
    "Es gibt im europäischen Theater einfache und schwere Übungen. Die einfachen Übungen sind: Das Auswendiglernen von Figurentext. Die Performance. Oder das sogenannte dokumentarische Theater."
    Milo Raus Vertrauen in die Kraft der Bühne ist beschränkt. Vor allem glaubt er nicht, dass die Bretter die Welt bedeuten können, oder dass ein Schauspieler das verkörpern kann, was sich vor dem Engel der Geschichte unentwegt an Elend, Mord und Qual aufschichtet. Aber, woran er mit seiner Protagonistin Ursina Lardi in seinem Essay vom Mitleid und dem Maschinengewehr glaubt, ist, dass er von der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit einer Europäerin erzählen kann, die als junge Frau mal in einer NGO im Kongo aktiv war und später Schauspielerin wurde.
    Eingerahmt wird die Reise ins Herz der Finsternis einer Wohlmeinenden von einem Pro- und Epilog: Die in Burundi geborene belgische Schauspielerin Consolate Sipérius sitzt hinter einem Tisch, ihr Gesicht erscheint groß auf einer Leinwand hinter der halbrunden Bühne. Ihre Eltern waren 1993 vor ihren Augen ermordet worden, berichtet sie, erschossen mit Maschinengewehren. Später kam sie als Adoptivkind nach Belgien, in ein Dorf, wo sie als einzige Schwarze begafft wurde. Consolate bleibt während Lardis Solo stumme Zeugin, als Nachweis des Authentischen im Dokumentartheater des Milo Rau. Natürlich weiß der Autor und Regisseur um sein Spiel mit der schwarzen Hautfarbe und der Opferrolle der Schauspielerin. "Schwarz ist immerhin ein klares Statement" sagt die Lardi provozierend, ironisch in ihrem Monolog.
    Milo Rau verletzt Klischee-Botschaften der medialen Erregungsproduktion
    Sie steht inmitten einer zerstörten Einrichtung: ein halb verkohltes Sofa, kaputte Plastikstühle, zerfetzte Kleidung. Vor ihr ein Mikrofonständer, hinter ihr die breite Leinwand, mit ihrem Video-Abbild. Das Foto des zwischen dem türkischen Bodrum und dem griechischen Kos ertrunkenen Jungen Ailan hält sie vor die Videokamera und dann erzählt sie zunächst von einem Besuch in einem Flüchtlingslager an der mazedonischen Grenze und den jungen syrischen Männern, die alle wie Hipster aussehen, sich zieren, Wasser aus einem Container zu trinken, bevor sie in klimatisierte Busse einsteigen.
    "Es tut mir Leid
    Aber ich verstehe das nicht:
    Das soll die Katastrophe unserer Zeit sein?
    Das?
    Eine Helferin sagte mir:
    Es ist 1.000 Mal schwieriger, ein ACDC-Konzert zu organisieren als so ein Lager."
    Milo Rau verletzt Klischee-Botschaften der medialen Erregungsproduktion. Die Dinge sind nicht, was sie scheinen sollen, hinter jeder Bildebene steckt eine andere, Verborgene. Aber im Kern geht es ihm um die bittere Erkenntnis einer jungen Frau, die ihre hehren Vorstellungen in ihrer Arbeit als junger Helferin in der NGO "Teachers in Conflict" verraten muss. Das war in dem Sammelsurium der im Kongo aktiven Nicht-Regierungs-Organisationen, die die nach dem Völkermord an den Tutsis aus Ruanda geflohenen Hutu-Mörder versorgten, bevor Kagames Tutsi-Armee die Grenze überquerte und diese Lager ihrerseits in ein Blutbad verwandelte. Ein Soldat habe der "Weißen auf ihrem Feldherrenhügel" ein paar Mal zugewinkt, und Freude habe sie empfunden beim Geräusch der Maschinengewehrsalven, die die Völkermörder trafen. In einem Traum wird sie von lachenden Männern gezwungen, ihre ehemalige Freundin zu bepinkeln, auch um ihre Haut zu retten. Filme wie von Triers "Dogville" und Tarantinos "Inglorious Basterds" werden zitiert, wenn es um die Folgen der Selbsttäuschung und das Recht auf Rache geht.
    Milo Rau schreibt nach eigenen Recherchen, lässt sich aber ebenfalls inspirieren von dem Roman "Hundert Tage" des Landmannes Lukas Bärfuss. "Was geschieht, wenn die Verdrängung nicht mehr funktioniert, wenn einen die Realität plötzlich heimsucht?", hatte der gefragt. Im Kongo findet, so will Rau offen legen, seit langem das wohl best-verschwiegene Massensterben der Gegenwart statt, ein Holocaust, dem der Regisseur schon in seinem groß angelegten Kongo-Tribunal gerecht werden wollte. Die Hintergründe: Abbau von Rohstoffen, von Koltan, von Kobald, Kupfer, Gold und Diamanten.
    Dies aber ist ein kleiner Abend. Er zeigt mit Brecht, dass niemand gut sein kann, wenn die Verhältnisse nicht so sind, mit Adorno, dass es nichts Richtiges im Falschen geben kann. Niemand, und vor allem kein Mensch aus dem Abendland, richte sich also ein im Glauben an die eigene Wohltat. Das ist nach Jahrhunderten von Kolonialismus und Neokolonialismus, Imperialismus und Neo-Imperialismus nicht mehr möglich. "Was ist deine Situation" bleibt Raus zentrale Frage beim Ausloten des moralisch Möglichen und er bemerkt lakonisch: "Am Ende des Tages kommt es drauf an, wer die Maschinengewehre hat." Ein verstörender Abend. Und hochaktueller Beitrag zu laufenden Debatten.