Punkrock in der DDR

Too Much Future

58:13 Minuten
Schwarz-Weiß Aufnahme eines Mannes in schwarzem Tanktop vor einem Fernseher mit einer Sprühflasche in der Hand.
Welchen Schikanen durch die Staatssicherheit waren sie ausgesetzt? Auch darüber gibt eine in diesem Herbst erschienene Compilation aus drei Vinyl-Schallplatten Auskunft. © Henryk Gericke
Von Margarete Wohlan, Henryk Gericke und Thomas Thyssen · 15.11.2020
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Die Punks im Osten sind ein wenig bekanntes Kapitel der DDR-Geschichte. Ähnlich wie bei den westdeutschen Punks sorgte ihr Zweifeln für Ächtung. Allerdings mit schwerwiegenden Folgen.
Wie groß war die Szene? Wie lebten Punks in der DDR? Wo und wie gaben sie Konzerte? Wie klang ihre Musik? Welchen Schikanen durch die Staatssicherheit waren sie ausgesetzt? Eine Compilation aus drei Vinyl-Schallplatten und ein 80-seitiges Booklet, erschienen in diesem Herbst und geben Auskunft. Henryk Gericke gehörte damals dazu, zu den Punks in der DDR, und er ist Autor des Booklets.

Gericke sprach mit dem Musikjournalisten und DJ Thomas Thyssen, der zur jüngeren Generation gehört und aus Westdeutschland stammt:
Der Tumult, den die Punks in der DDR provozierten, forderte einen Disziplinarstaat heraus, der seine Jugend steuern wollte, von dem sich aber die Punkrocker nicht lenken ließen. Das aufgeladene Verhältnis zwischen den Punks und der Partei beruhte auf der Spannung zwischen Subkultur und Diktatur.

"Du horchst mich aus"

Der Widerstand der Punks richtete sich gegen eine Musterutopie – das "No Future" der westdeutschen Punks hieß bei den Punks im Osten "Too Much Future".

Im Song "Schlange" von der Ostberliner Punkband Planlos klingt das an:
"Ich steh in der Schlange am Imbissstand,
Ich dreh mich nicht um, ich hab dich erkannt
Du bist mein Schatten, wohin ich komme,
Ein schwarzer Fleck in der Sonne.

Wenn ich laut denke, dann bist du da,
Wo ist der Monitor hinter der Kamera
Du steigst in meinen Freund und horchst mich aus,
Berichtest die Lügen wie du sie brauchst.

Hyäne bedroht, bedroht durch ʼne Maus,
Maus hinter Gittern, Hyäne kommt raus."

Zum ersten Mal zu hören: "DDR-Terrorstaat"

Dieser Song ist auf der Compilation und in der Sendung "Too much Future" genauso zu hören wie der "DDR Terrorstaat", erstmalig, betont Henryk Gericke:
"Nach d[ies]em [Song] gieren alle Leute, die sich für das Genre Ostpunk begeistern. Den kannte selbst zu DDR-Zeiten niemand. Der ist so explizit und politisch krass, dass der wirklich selbstmörderisch war. Die Leute, die den damals aufgenommen haben, haben ihn selber unter Verschluss gehalten. Und niemand wusste, bis vor anderthalb Jahren, von wem der Song ist. Und selbst wir, die wirklich mitten im Zentrum waren, wussten nicht, von wem der Song ist. Ich habe jahrelang recherchiert, und am Ende kriegen wir heraus, dass dieser Song von einem Kumpel von uns stammt, von Mike Göde von Betonromantik. Diese Compilation ist die erste Compilation, die diesen Song in ihrem Programm führt. Und das ist schon ein Coup! Und das ist ein Song, auf den ich, das kann ich sagen, stolz bin."
Die Punkbands wurden vom Staat radikal verfolgt und einige von ihnen wurden ins Gefängnis gesperrt. Jana, die Sängerin der Ostberliner Band "Namenlos" zum Beispiel, kam mit 18 Jahren nach Hoheneck, dem schlimmsten Frauengefängnis in der DDR. "Da kamst du nicht hin, um deine Zeit abzusitzen. Da kamst du hin, um gebrochen zu werden", erzählt Henryk Gericke im Gespräch mit Thomas Thyssen. Und sie war nicht die einzige.
Ostberliner Punks, Alexanderplatz 1981
Ostberliner Punks, Alexanderplatz 1981© Fischer / Archiv: SUBstitut
Darin lag – verkürzt auf eine Formel – der größte Unterschied zur Punkszene in Westdeutschland, meint Henryk Gericke: Dort war Punkrock ein popkulturelles Phänomen mit einem politischen Hintergrund und in der DDR war es ein politisches Phänomen mit einem popkulturellen Hintergrund.

Alltag des Punks Henryk Gericke in der DDR

Henryk Gericke selbst verbrachte bis zum Eintauchen in die Punkrockszene eine für DDR-Verhältnisse relativ normale Kindheit: Jungpionier, Thälmann-Pionier, FDJ, aber unter aktiver Vermeidung der NVA. Die Erfahrungen damit hat er auch in einem Song verarbeitet, wie er Thomas Thyssen gesteht:
"Du warst damals als Jungspund auch musikalisch aktiv, hast in einer Band gespielt, den Namen der Band finde ich großartig: The Leistungsleichen. Wie kann man sich den vermeintlichen 'Alltag' eines jungen Punks in Ost-Berlin vorstellen?"
"Also, Thomas, zunächst bedanke ich mich sehr, dass du sagst, dass wir musikalisch aktiv gewesen wären. Ich würde im Nachhinein den Begriff der Musikalität mit Einschränkungen betrachten. Der Song, der von den Leistungsgleichen auf dem Sampler ist, war ein reiner Schreianfall, der übrigens begründet war. Das hat damit zu tun, dass ich sehr drangsaliert wurde, wie viele andere auch, ich war keine Ausnahme, als 16-Jähriger in die Armee gepresst zu werden. Insofern war das eigentlich ein Wut-Gebet mit dem entsprechenden Punk-Kolorit."
Das Gespräch in voller Länge mit elf Songs aus der Compilation – jetzt hier zum Nachhören.
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