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Modell eines politischen Gesellschaftsromans

Benjamin Disraeli kennen wir als englischen Premierminister der Konservativen, als großen Gegenspieler von Gladstone, zwischen 1852 und 1880 viermal an der Regierung, mit Erfolgen, die ihm den Titel Earl of Beaconsfield einbrachten, dazu den Hosenbandorden und die Ehrenbürgerwürde der City of London.

Von Alexander von Bormann | 24.12.2004
    Disraeli stammte aus einer spanisch-jüdischen Familie, die am Ende des 15. Jahrhunderts nach Venedig geflüchtet und 1748 nach England übersiedelt war. Sein Vater war der Schriftsteller Isaak Disraeli, der sich 1817 mit seinem Sohn hatte taufen lassen.

    Obwohl ausreichend in einer Advokatur beschäftigt, publizierte Benjamin Disraeli früh schon Romane. Sie erregten Aufsehen und fanden reißende Abnahme, weil sie einen intim vertrauten Blick auf die tonangebenden Kreise warfen. Hierdurch und durch seine interessante Erscheinung und seinen sprühenden Witz spielte Disraeli früh eine Rolle in der aristokratischen Gesellschaft Londons.

    Mit einer Gruppe einflussreicher Freunde bildete er eine Gruppe, die man als das "junge England" bezeichnete. Deren Grundgedanken hat er in mehreren viel gelesenen Romanen vorgetragen, auch im "Tancred"-Roman, den der Manesse Verlag nun auf Deutsch – in der vorzüglichen Übersetzung von Ingrid Rein – vorgelegt hat; dafür kann nicht genug gedankt werden.

    Was war der Grundgedanke der Jung-England-Kämpen? Dass die herrschende Whig-Aristokratie nicht als wahre Vertretung der Interessen und Bedürfnisse des Landes gelten könne; die notwendige Regeneration Englands könne nur von der regenerierten Tory-Partei ausgehen; die müsse sich der Interessen des Volkes annehmen und dies mit einem starken, populären Königtum verbinden.

    Disraelis "Tancred" erschien 1847 als Teil einer Romanserie. Hierin verband Disraeli das Modell eines politischen Gesellschaftsromans mit dem traditionellen Liebes- und Abenteuerroman, ganz ohne Zweifel ein Erfolgskonzept. In Deutschland ließe sich an Heinrich Laubes Romantrilogie "Das junge Europa" (1833) denken und ein wenig später an "Die Europamüden" (1839) von Ernst Adolf Willkomm.

    Disraeli ist ein ganz besonderes Erzähltalent, seinen zeitgenössischen deutschen Kollegen turmhoch überlegen. Es macht Spaß, ihm zu folgen, auch in ganz absonderliche Gegenden, man legt das Buch nur im Notfall aus der Hand. Sein Held ist der englische Herzogssohn Tancred von Bellamont. Mit schnellen gekonnten Strichen skizziert Disraeli die Abkunft Tancreds und leuchtet unbarmherzig genau in die Familiensphäre und das gesellschaftliche Klima der Zeit um 1800. Tancred aber wächst behütet auf, die Erzählung beginnt mehr oder weniger mit dem Fest zu Ehren seiner Mündigkeit, und die Erzählkunst Disraelis bewährt sich hier in der Schilderung der Gäste und Feste.

    Er lässt uns an den Organisationsproblemen teilhaben, an den Sorgen der Köche, der Damen, der herzoglichen Eltern. Der gewaltige Zauber des hohen Festes wird vom Erzähler, scheint es, nur entfaltet, um seinen Helden Tancred als hiergegen resistent zu zeigen. Tancreds Haltung wird als "anmutiger Ernst" umschrieben, er ist weder aufgeregt noch unbekümmert. Seine Eltern haben auch schon eine Braut für ihn ausgesucht, müssen aber befremdet erfahren, dass er weder gleich heiraten noch den vorgesehenen Platz im Parlament einnehmen möchte.

    Die folgende Auseinandersetzung zeigt den jungen Lord als skeptischen Denker. Er möchte nicht einem System dienen, dessen Sinn er nicht einsieht: "Unsere Zeit glaubt an nichts, nicht an Religion, Regierung oder Moral – nirgendwo im kirchlichen, politischen oder gesellschaftlichen Leben finde ich Glauben"; und dann setzt der junge Mann zu einer radikalen Kulturkritik an, die ihn als späten Rousseau-Schüler erscheinen lässt.

    Tancred beschließt nach Jerusalem zu gehen und bekommt auch die Unterstützung seiner Eltern (die keine Wahl haben). Vorher wird er in London in die Gesellschaft eingeführt und macht sonderbare Erfahrungen. Disraeli erweist sich als Meister einer spitz satirischen Feder, und wie ein gesellschaftlicher Aufstieg geplant und inszeniert wird, hatte man vorher so genau nirgends lesen können. Die Gespräche der Salons haben einen weltpolitischen Zuschnitt, und man wünschte, Fontane hätte mehr Disraeli gelesen. Die Grundfrage bleibt, worauf es in der Politik mehr ankommt, auf das Volk oder auf die richtigen Führer. Die Antwort bleibt in der Mitte: Volksverbundenheit, ein Konzept, das vom alten Landadel getragen wird und das auch die Aufklärung in Deutschland friedlich gehalten hatte.

    Nach einem fehlgeschlagenen Liebesabenteuer schifft sich Tancred nach Jerusalem ein. Dort beginnt eine höchst abenteuerliche Handlung, die Erfindungsgabe des Autors scheint unerschöpflich. Dem deutschen Leser darf Lessings "Nathan" in den Kopf kommen: Der junge Ritter verliebt sich in eine schöne Jüdin namens Eva, die das Religionsgespräch sehr viel gebildeter als alle Bischöfe und Rabbis zu führen weiß.

    Tancred wird der Freund eines jungen arabischen Fürsten, der ihn für seine Machtspiele missbraucht. Dieser Fakredin wird durchaus als Gegenfigur aufgebaut, liebenswürdig, schön, einflussreich, aber ganz auf Macht versessen, auf die Herrschaft im Libanon und in Syrien; menschliche Beziehungen sieht er nur instrumental, und Glauben ist ihm ein Fremdwort. Tancred wird sich von ihm nach manchen befremdlichen Abenteuern trennen, ihm widerstrebt eine solche Geistesverfassung in höchstem Maße.

    Gerade im Orient hoffte er, Menschen zu finden, die auf nichtmaterielle Werte gerichtet waren. Für ihn ist Asien das "Land, in dem Gott sein Wort verkündet, in dem er so viele Wunder gewirkt hat", und so träumerisch wie emphatisch setzt Tancred hinzu: "Sein Schlummer ist von mehr Leben beseelt als der gesamte übrige Erdball im wachen Zustand, wie der Traum eines Genies kostbarer ist als das nächtliche Grübeln gewöhnlicher Sterblicher." Es sind Vorstellungen, wie sie auch die deutsche Spätromantik beseelen. Ein großer Gedanke sollte neu von diesen heiligen Gegenden ausgehen und den Materialismus Europas überwinden helfen.

    Seine Suche führt Tancred noch zu den Drusen, den Kurden und sogar zu den Ansariern, einem Volk, das von einer schönen Königin regiert wird (natürlich verliebt sie sich in Tancred) und das, in unzugänglichen Bergschluchten lebend, dem Glauben an die griechischen Götter treu geblieben ist. So sammelt Tancred genaue Erfahrungen mit allen Weltreligionen und erwirbt einen ganz undogmatischen und doch genau konturierten, reich dimensionierten Begriff von aktueller Gläubigkeit.

    Die Königin bietet ihm ihr Reich an, aber Tancred lehnt ab: "Ich muss in die Wüste zurückkehren, um die Reinheit meines Herzens wiederzuerlangen. Arabien allein vermag die Welt zu erneuern." Immerhin hilft er, einen türkischen Angriff auf das Land abzuwehren. Am Schluss verlobt er sich mit Eva, seine Eltern tauchen in Jerusalem auf, und dem Leser bleibt es überlassen, sich zwischen einem festlichen oder einem problematischen Ende zu entscheiden. Die Tonart lässt ein Fest vermuten, und auch die vorgenommene Heirat wird man im Sinne Lessings als Versöhnung der Kulturen und Religionen auffassen müssen, eine Versöhnung, die zuvor die Gegensätze ausgereizt, besprochen, schicklich gemacht hat. Ein wunderbar spannendes und geistreiches Buch, das sich just für die Weihnachts- und Wintertage anbietet.