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Modellfliegen

Eigentlich ist Marcel Mörings Novelle "Modellfliegen" ein literarischer Unfall. Eines morgens, so erzählt der Autor, fiel aus heiterem Himmel der erste Satz auf ihn herab.

Elke Biesel | 25.01.2002
    Als er in einer Anwandlung von plötzlichem Stolz seinen alten Job gekündigt und noch keinen neuen gefunden hatte, beschloss mein Vater Modellflugzeuge zu bauen.

    Weitere Sätze folgten, 17 Seiten in zwei Tagen. Da wusste Möring, dass er in Schwierigkeiten war, denn die Personen und die Geschichte begannen ihn zu faszinieren. Er unterbrach also sein großes Romanprojekt, das im nächsten Jahr endlich fertig werden soll, und ließ sich auf die neue Geschichte ein.

    Sie spielt in den Niederlanden Anfang der 60er Jahre und wird von einem 40jährigen Drachenbauer und Puppendoktor erzählt, der sich an einen Teil seiner Kindheit erinnert. David ist gerade zwölf, da kündigt nach dem Vater auch die Mutter ihren Job und aus der kindlichen Idee des Sohnes, Modellflugzeuge für den Spielwarenhändler im Haus zu bauen, wird eine ernsthafte Überlebensstrategie.

    Wir lebten in einer Luftblase, in der alles ruhig, geschützt und freundlich war. Der Tee stand auf dem Stövchen, Geräusche wehten zu den offenen Balkontüren herein.

    Einmal bückte ich mich, um ein heruntergefallenes Teil aufzuheben, und sah, dass meine Mutter ein Bein über Vaters Bein gelegt hatte. Seine Hand ruhte weit oben auf ihrem Schenkel. Ihr Schuh lag auf dem Boden, und mit dem bestrumpften Fuß streichelte sie seine Wade.

    Diese Szene zählt zu Marcel Mörings Lieblings stellen im Buch. Eine "glückliche Kindheitserinnerung" nennt er sie, doch wenig später schon wird die Luftblase zerplatzen, werden die Gefühle der Eltern sich wandeln. Von Anfang an überschattet die Vergangenheit des Vaters die kleine Familie. Als Jude ist er im Krieg vor den Deutschen geflohen. Er, der begeisterte Sportflieger, hat sich einfach in eine kleine Maschine gesetzt und sie nach England gesteuert. Seine Eltern aber sind in Holland zurück geblieben, in Lagern umgekommen, wie er nach dem Krieg erfährt. Er kehrt nach Holland zurück, aber er verunglückt und muss seine große Passion, das Fliegen, aufgeben. Möring:

    Im Buch steht das Fliegen für die Freiheit, die Möglichkeit die alltäglichen Sorgen hinter sich zu lassen, aber gleichzeitig ist es verbundne mit Unfall und Tod, denn der Vater des Jungen hat diesen Flugunfall. Man könnte sagen, dass sein Leben abgeschnitten worden ist. Er lebt weiter, aber er wird nie mehr sein, was er einmal war (...) Er ist ein gefallener Ikarus.

    Modellfliegen ist auch eine Geschichte über die Juden der zweiten Generation, zu denen auch Möring gehört. Die Überlebenden gründeten nach dem Krieg Familien, begannen neue Familiengeschichten, nachdem die alten durch Krieg und Lager ausgelöscht worden waren.

    Meine Eltern trafen sich 1957, neun Monate später wurde ich geboren. Damit begann die Familie, es gab sonst niemanden mehr, die meisten waren gestorben. ... Wir haben keine Dokumente, keine Photographien oder Antiquitäten ... Ich fand es immer faszinierend, dass eine Geschichte, eine Familiengeschichte ausgelöscht werden kann und dann wieder beginnt im Jahr 1957 und völlig neue Geschichten entstehen.

    David ist ein typisches Kind der zweiten Generation. Früh erwachsen geworden versucht er Verantwortungen und Pflichten seiner versehrten Eltern zu übernehmen. Erstmals habe er beim Schreiben autobiographische Teile wieder erkannt, sagt Möring. Die Person des Vaters, die Liebe zu Modellflugzeugen und die Kochkünste des zwölfjährigen Erzählers. So unwahrscheinlich es klingt, die Passion fürs Kochen packte Marcel Möring in einem Alter, in dem andere Jungs gerade im ersten Zenit ihrer Fußballbegeisterung stehen und ihre erste Musikinitiation erleben.

    Ich war dieser 12-Jahre-alte Junge und habe mich wahnsinnig fürs Kochen interessiert …Durch Zufall bin ich auf ein Kochbuch gestoßen, habe es gelesen, noch mehr Kochbücher gelesen und angefangen zu kochen. ...Das Merkwürdige am Kochen ist, dass es sinnlich ist zugleich aber auch Chemie. Ich hatte auch einen Chemiebaukasten.

    Bis heute ist Möring ein begeisterter Koch geblieben. Dabei werde sein Geist leer, sagt er, ebenso wie beim Drachen bauen, seinem zweiten Hobby. Dann ist der Rest der Welt ist für einen Moment vergessen.

    Über das Vergessen selbst hat Möring auch schon ein Buch geschrieben. "Das große Verlangen" heißt es und handelt von einem, der den ersten Teil seines Lebens verliert weil er sich nicht mehr an seine Jugend erinnern kann. Den Anstoß zu dieser Buchidee gab Mörings eigener zäher Kampf um seine Jugendzeit-Erinnerung. Er führte ihn zur Vorbereitung seines ersten Buches und hatte damit gleich eines seiner wichtigsten literarischen Themen gefunden, die Erinnerung.

    Ich glaube fest daran, dass Erinnerung das ist, was ein menschliches Wesen ausmacht. ... Erinnerung ist eine Geschichte, die man über sich erzählt. Erinnerung bedeutet nicht Wahrheit. Erinnerung ist die Art und Weise, wie jemand die Welt wahrnimmt. Deine Erinnerung kann total falsch sein, aber es ist deine Geschichte ... Und das finde ich interessant ... Ich interessiere mich für Lügen, nur um sie geht es in der Literatur.

    Marcel Möring führt seine Leser gern hinters Licht, er stellt literarische Fallen und dazu, schwärmt er, sei der Roman das ideale Medium. Je opulenter und symphonischer, desto besser. Kurzgeschichten sind zu kurz für ihn. Trotzdem hat er für "Modellfliegen" auf eine Form zurück gegriffen, die fast in Vergessenheit geratene ist, die Novelle.

    Wenn Sie Modellfliegen lesen, dann fühlen sie, dass eine größere Geschichte darunter liegt und man könnte sie greifen, wenn der Autor sie nur nieder geschrieben hätte. Aber das hat er nicht getan, denn er wollte nur einen flüchtigen Eindruck geben. Genau das sehen wir vom Leben, wir sehen, wie unvollkommen es ist.