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Moderne Klaviermusik
Klänge mit allen Mitteln

Für manche Zeitströmungen und im Schaffen vieler Gegenwarts-Komponisten war und ist das Klavier unverzichtbar. Für einige ist es das zentrale Instrument, das ein Oeuvre prägt, eine Handschrift ausformt, für das besondere Werke entstehen. Die drei kürzlich erschienenen Tonträger sind Belege dafür.

Von Frank Kämpfer | 04.10.2015
    Kalisz, Polen
    Das Klavier wird bei neuen Kompositionen vielfach nicht mehr nur im klassischen Sinne - auf der Tastatur bedient. (picture alliance / dpa / Foto: Jakub Kaczmarczyk )
    Seine Beanspruchung reicht vom Anwenden immer neuer kompositorischer Techniken auf die konventionelle Mechanik, über das Erweitern des Klangs- und Aktionsraums bezüglich Saiten und Korpus bis hin zum Einsatz diverser Elektroakustik: Für manche Zeitströmungen und im Schaffen vieler Gegenwarts-Komponisten war und ist das Klavier unverzichtbar. Für einige ist es das zentrale Instrument, das ein Oeuvre prägt, eine Handschrift ausformt, für das besondere Werke entstehen. Die drei kürzlich erschienenen Tonträger, die ich Ihnen heute vorstellen will, sind Belege dafür. Wir beginnen mit ... ja, genau – irgendetwas kommt uns dabei doch bekannt vor!
    Musik 1:
    György Kurtág – Hommage à Verdi
    Helena Bugallo und Amy Williams, Klaviere
    CD WERGO WER6766 2, LC 00846
    Zwei Sprachen begegnen einander: die eine hell, etwas wie eine Melodie formulierend, dabei fast ein wenig swingend – die andere spröde, grüblerisch und ... gegen den Takt der ersten gesetzt. Ein dunkler Kommentar, gewissermaßen. Komponist György Kurtag indes hat die zwei Stimmen unabhängig voneinander gedacht: Eine formuliert sich ganz auf den weißen, die andere auf den schwarzen Tasten des Instruments. Die weiße Stimme begründet den Titel des Stücks: 'Hommage à Verdi'. Genau! Eine Phrase aus der Auftrittsarie der Gilda aus Verdis Oper 'Rigoletto' klingt auf – kunstvoll verfremdet, in faszinierender Einstimmigkeit. Kurtag, Jahrgang 1926, Webern-Schüler im Geiste, ist ein Meister der Reduktion. Sein umfängliches Oeuvre für das Klavier besteht aus zahllosen Miniaturen, Fragmenten, Aphorismen, die – subsummiert unter dem Titel 'Jatékok' (Spiele zu deutsch) – in nunmehr acht Bänden veröffentlicht sind. Die spieltechnischen Anforderungen reichen von der Einhändigkeit bis zum Gebrauch von Handteller, Faust und Unterarm; die Tastatur allerdings wird niemals verlassen. Es ist höchst intime Musik – eher für häusliches Musizieren gedacht denn für eine Bühne. Das Private als Bezugsraum verdeutlicht sich aber vor allem im Inhaltlichen: Was 1973 zunächst als pädagogische Lehrreihe begann, entwickelte sich über mehr als 10 Jahre zu einer Art musikalischem Tagebuch – einer kleinen Enzyklopädie persönlicher Widmungen, Erinnerungen, Notizen und Experimente.
    35 solcher Miniaturen aus besagten 'Játékok'-Büchern finden sich hier auf einer neuen CD beim Label WERGO – eingespielt haben sie die Pianistinnen Helena Bugallo und Amy Williams. Desweiteren enthält ihre Platte eine ganze Reihe ebenfalls fragmentarischer Begegnungen mit Alter Musik: Machaut, Lasso, Schütz, Frescobaldi, Purcell und Bach. Auf dem gewissermaßen a-historischen Instrument gespielt, wirken sie wie Exzerpte, zerbrechlich, zum Teil naiv, auf einen Wesenskern reduziert.
    Musik 2:
    György Kurtág – Heinrich Schütz: Matthaeus Passion, Introitus
    Helena Bugallo und Amy Williams, Klaviere
    CD WERGO WER6766 2, LC 00846
    Ein Fragment aus der 'Matthaeus Passion' von Heinrich Schütz – entnommen einem Band Transkriptionen, die im Oeuvre Kurtags eine besondere Stellung einnehmen. Verdeutlichen sie doch nicht weniger als die Intimität der Zwiesprache, die der ungarische Komponist mit musikalischen Urhebern früherer Jahrhunderte hält oder hielt. Im Zuge ihrer Vergegenwärtigung entreißt er sie ihrem geschichtlichen Kontext. – Ein höchst bemerkenswertes Gesamtbild skizziert sich dabei: dieser eigentümliche Moderne ist gar kein materialtechnischer Avantgardist. Kurtag, von Anton Weberns Werk fasziniert, strebt vielmehr nach einer Universalität, die Vieles zeitgleich einschließt und in der Historizität relativ wird.
    Die argentinische Pianistin Helena Bugallo und ihre US-amerikanische Kollegin Amy Williams, die hier im Duo agieren, nehmen sich Kurtags mit großer Behutsamkeit an, mit Sensitivität; ihr 'Kurtag Album', das das Gesamtschaffen des Komponisten für Klavier zu vier Händen bzw. für zwei Klaviere enthält, versucht Eigentümlichkeiten der jeweiligen Miniatur zu erfassen – zugleich ist es dem Wesen des Kurtag'schen Fragments auf der Spur. Die Platte endet mit einem Frühwerk, der 'Suite für Klavier' zu vier Händen, komponiert Anfang der 1950er Jahre, als Kurtag mit Mitte 20 unter dem Einfluss des sozialistischen Realismus komponierte:
    Musik 3:
    György Kurtág – Suite. Daraus: I. Vivace
    Helena Bugallo und Amy Williams, Klaviere
    CD WERGO WER6766 2, LC 00846
    Die 'Suite' von 1950, Transkriptionen und fünfunddreißig Miniaturen aus den 'Játékok'-Büchern – das Gesamtwerk für Klavier zu vier Händen bzw. zwei Klaviere, eingespielt von den Pianistinnen Helena Bugallo und Amy Williams, als Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk neu bei WERGO erschienen.
    Bei der nächsten CD, die ich Ihnen anspielen will, begegnet uns das Klavier kaum als konventionelles Musikinstrument. Es dient vielmehr als Projektionsfläche für eine künstlerische Bewegung, die Anfang der 1960er Jahre den 'fließenden Übergang' zwischen Kunst und Leben für sich entdeckte. FLUXUS kam aus New York und war in erster Linie Aktion, nicht Konzert – nicht Hochkultur, sondern ein Aufbegehren dagegen. Ebenso anarchisch wie interdisziplinär mischte FLUXUS Film, Musik, Geräusch, Bewegung, Licht und diverserlei Materialien, oder besser: Splitter von alledem. Und zwar derart, dass Künstlerisch-Künstliches und Alltagsrealitäres miteinander zu etwas Neuem, ganz und gar Ungehörigem verschmolzen. Georg Maciunas holte FLUXUS aus New York nach Wiesbaden, wo die US-Army stationiert war und wo er 1962 "Internationale Festspiele Neuester Musik" initiierte. Historisch belegt ist ein Programm mit Aktionen am und im konventionellen Klavier – die Partituren waren nicht ausnotiert, vielmehr beschriebene Anleitungen.
    Dieses legendäre Event war für Steffen Schleiermacher ein Auslöser, im Rahmen seiner bereits umfänglichen CD-Edition beim Label MDG, eine Sonderproduktion aufzunehmen. Unter dem Motto "Fluxus Piano" gibt der Leipziger Avantgardespezialist einen Überblick über Vertreter und Werke der seinerzeit neuen Strömung. Mit je einem Opus dabei: Sylvano Busotti, Toshio Ichiyanagi, Philipp Corner, Dick Higgins, Yoko Ono und selbstredend John Cage. Die ersten Titel der Platte muten wie avancierte Klaviermusik an – nach und nach verlagert sich Klingendes in Korpus und Innenraum – etwa ab Mitte der Platte sind kaum mehr als pianistische Rest- und Nebengeräusche zu vernehmen. Das Extremste ist womöglich das Schlussstück: György Ligetis Reaktion auf Cage's berühmte Miniatur '4:33'. Ligetis 'Drei Bagatellen', von Karl-Erik Welin im September '62 uraufgeführt, enthalten im ersten Satz ein kurzes Cis, im zweiten ein hörbares Umblättern, im dritten Satz hat der Pianist Pause.
    'Die Fluxer', so kommentiert Bookletautor Stefan Fricke in seinem Verständnis der neuen, kurzlebigen Kunstart, 'interpretierten die ausschließlich verbalen Partituranweisungen in der extremsten Lesart, aus der konsequenter Weise die völlige Zerstörung des Instruments resultieren musste.' Derlei bleibt hier aus und sei auch historisch in Frage gestellt. Zu zerstören war vielmehr ein Nimbus von Hochkultur, die ihrerseits den Bezug zur Wirklichkeit der Gesellschaft verweigerte.
    Der folgende Ausschnitt belegt: In Philip Corners 'Piano Activities' für mehrere Spieler ist pianistische Tonerzeugung mittels Tasten nur eine Rand-erscheinung.
    Musik 4:
    Philip Corner – Piano Activities
    Steffen Schleiermacher, Klavier
    CD MDG 613 1911-2, LC 06768
    Steffen Schleiermachers neue Solo-CD beim Label MDG versammelt Klavier-aktionen des FLUXUS.
    Zum Abschluss geht es um ein pianistisches Gesamtwerk – genauer gesagt um ein Oeuvre für Klavier solo. Denn das Tasteninstrument findet sich bei Urheberin Galina Ustvolskaya auch in allen größer besetzten Kompositionen. Die russische Komponistin erkannte und nutzte in ihrer Musik das besondere Potenzial der 88 Tasten, extreme Gegensätze artikulieren zu können, und bis ans Äußerste des Spielbaren zu gehen. Die sechs Sonaten, die einen Zeitraum von 40 Jahre umschließen sind ein Paradebeispiel dafür. Marianne Schroeder, Oleg Malov, Markus Hinterhäuser und Ivan Sokolov haben sie bereits komplett eingespielt – zuletzt, spannungsreich-radikal, auch Sabine Liebner.
    Natalia Andreeva beginnt ihr bei 'Divine Arts' editierte Doppel-CDs mit scheinbar leichterer Literatur: Ustvolskayas 12 Preludes, die weniger komprimiert anmuten. Erst dann entfaltet sie das Sonatenwerk: Die Nummer Eins von 1947, in der noch der Einfluss ihres Lehrers Schostakowitsch anklingt, die unerbittlich schreitende Zweite, die kontraststarke Dritte. Andreeva, ausgebildet in Sydneys und Sankt Petersburg, interpretiert unaufgeregt, beinahe lakonisch – aus der vermeintlich hart behauenen, schroffen Musik arbeitet sie sehr detailliert höchst unterschiedliche Motive, Abschnitte, ja Einzelsituationen heraus, aus denen sich das Ganze zusammen setzt. Zwischen der Vierten Sonate von 1957 sowie der umfänglichen Fünften 1986 und der sehr knappen Sechsten zwei Jahre darauf klaffen knapp drei Jahrzehnte. Charakterisch für Ustvolskayas Spätwerk sind motivische Reduktion, Verdichtung, Clusterbildung – im folgenden Ausschnitt aus der Sechsten Sonate bringt Natalia Andreeva dies unmissvertändlich zum Klingen.
    Musik 5:
    Russian Piano Music – Vol. 11 Galina Ustvolskaya – Sonate Nr. 6
    Natalia Andreeva, Klavier
    CD divine art dda25130, LC 12671
    Galina Ustvolskayas Werke für Klavier solo – als Doppel-CD eingespielt von Natalia Andreeva beim österreichischen Label 'Divine Arts'. In der fortlaufenden Subreihe 'Russkaja Fortepiannaja Musika' bildet Andreevas Einspielung hier die Nummer 11. Zuvor habe ich Ihnen Steffen Schleiermachers bei MDG aufgelegte Platte 'FLUXUS Piano' angespielt, sowie György Kurtags Musik für Klavier zu vier Händen, die jüngst bei WERGO erschien.