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Moderner Telegrammaustausch

Nach fast 15 Jahren ist jetzt erstmals wieder ein Buch von Jürg Laederach bei Suhrkamp herausgekommen. Laederach, Jahrgang 1945, zählt zweifellos zur literarischen Avantgarde Schriftstellern der Schweiz und gilt als "radikaler Minimalist". Claus Lüpkes hat die "Depeschen (nach Mailland)" gelesen und Laederach ins Basel besucht:

Eine Besprechung von Claus Lüpkes | 25.05.2009
    Still war es um ihm geworden, seit seinem Rückzug aus dem Suhrkamp-Verlag: 1996 hatte er den Verlag unter Protest verlassen, nach dem Eklat um Peter Handke und dessen Parteinahme für die serbischen Nationalisten. Vor sechs Jahren gab Urs Engeler noch "vier minimale Stücke" von Laederach heraus, und im September 2006 brachte Anna Viebrock seine "69 Arten den Blues zu spielen" in Basel auf die Bühne, nach den gleichnamigen Erzählungen (aus den 80ern).
    Jetzt also endlich wieder was Neues von Jürg Laederach, und das gleich in mehrfacher Hinsicht:

    Ein "E-mail-Buch", eines der ersten seiner Art, mit dem dieser experimentierfreudige Autor literarisches Neuland betritt.
    Ein Buch, das ausschließlich aus Mitteilungen besteht, die Jürg Laederach seinem jungen Kollegen Michel Mettler als E-Mail schrieb, über einen Zeitraum von fünf Jahren.
    Mitteilungen über seinen Alltag, seine Katze, kleinere und größere Ausflüge, seine persönlichen Befindlichkeiten ebenso wie die weltpolitischen Begebenheiten: vor allem die US-amerikanischen - wir befinden uns immerhin in der Bush-Ära und zudem in der Zeit des Irak-Kriegs. Aber auch über Western und andere alte Filme, über Trivialliteratur, und natürlich: über Musik, vor allem den Jazz.
    So auch am 29. Juli 2003 um 18:05 Uhr:

    Jetzt aber, ja, ich sag dir, jetzt aber, nun atm' mal ein, heut war ich nämlich aus lauter Blödsinn wieder Mal im Damenunterwäscheladen, in dessen hinterster Ecke auch noch ein abgefackter Kleinhändler seine Bops betreibt; ... Dinge, die man sicher weltweit nirgends mehr findet, die insgesamt 10 Minuten im Verkauf lagen und sofort ausverkauft waren.

    Immer wieder geht es in diesen Mails um Musik, um Jazz:
    Vielleicht ein Lebensthema von Laederach, auf jeden Fall seine große Leidenschaft, die er auch aktiv als Musiker pflegt, und eben als Hörer und Sammler.
    In seinen Mails berichtet er, wie er stundenlang alte Platten und Aufnahmen kopiert und archiviert, sie auch neu abmischt und klangtechnisch auffrischt, mit den Möglichkeiten digitaler Technik.
    Wie er sich überhaupt allen technischen Neuerungen gegenüber ausgesprochen aufgeschlossen zeigt: So versucht er sich im Herbst 2003 auch im "simsen", also im Schreiben von sogenannten "Sms" mit dem Handy. Nach anfänglicher Begeisterung jedoch verwirft er diese Art der Kommunikation bald wieder. Am 30. Dezember um 10.08 Uhr mailt er Michel Mettler mit seinem unnachahmlichen ironischen Unterton:

    Diese Sms sind Teufelszeug. ... ist aber schlechter als der reine Tomatensaft.

    Schuld an diesem E-mail-Buch hat eigentlich der DRS:
    Im Februar 2002 hatte der Schweizer Rundfunk Jürg Laederach zusammen mit Michel Mettler, selber Musiker und auch Autor bei Suhrkamp, zu einer Sendung mit und über Jazz eingeladen.
    Mettler, der Laederach und dessen Arbeiten schon seit Langem kennt und schätzt, verwickelte den Basler Autor anschließend in einen regen
    E-mail-Austausch, eben über Musik und Jazz im Besonderen, bald aber auch über allen möglichen anderen Aspekte des Alltags.
    Und Mettler war es dann auch, der die Idee zu diesem Buch hatte und als Herausgeber fungierte. Und die editorischen Spielregeln erstellte:

    "Und ich fand eben deswegen Mettlers Idee eines Buches sehr raffiniert, weil mir klar wurde, dass das natürlich Mails bleiben, das sind sie, ganz eindeutig. Ich durfte auch nachträglich nichts korrigieren daran, man durfte kürzen. Mettler hat sofort ein Regulativ entwickelt, das man genau befolgen musste: Das Buch kann nur so und so bearbeitet werden, man kann, sagen wir, eine Mail mal zwischendurch weglassen, aber eben in der Formulierung darf man nichts ändern, das ist bei mir hart angekommen. Und mir war klar, dass dann die Gattung nicht ganz rein wird: Es ist schon ein Mail-Buch, aber man sieht natürlich auch andere Gattungen in dieser Gattung gespiegelt."

    Wie zum Beispiel den herkömmlichen Briefwechsel, den verschiedene Verlage momentan wieder favorisieren. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass der Adressat Mettler sich hier in dieser Edition mit seinen Schreiben rausgenommen hat, sie nur der Anstiftung dienen und Laederachs Schreibfluss in Gang halten sollten.
    So erinnert diese E-mail-Sammlung auch eher an ein Tagebuch, mit ihren alltäglichen Beobachtungen ebenso wie mit ihren kulturellen und politischen Bemerkungen.
    Und wie bei jeder Publikation einer eigentlich privaten Textsammlung, zumal dem Tagebuch, stellt sich die Frage:
    Wie viel Privates gibt der Autor/Schreiber preis, wie sehr stellt er sich bloß:

    "Die Einheit des Buchs und des Gesamttextes profitiert davon, dass ich natürlich immer an Mettler schrieb. Das heißt, ich habe nur soviel Privatheit, wie ich eben einem Freund mitteile, das heißt, wir haben keinerlei intimen Briefwechsel geführt, dazu hätte er eine Frau sein müssen, das ist ja doch wohl klar, nicht? Und mir war eben der Vorteil von vornherein auch rasch bewusst, dass da auch ganz altmodisch zwei Burschen miteinander mailen. Das könnte natürlich, gebe ich zu, auch schiefgehen und das ist hier ganz gut geraten, und insofern ist es nicht allzu privat. Aber ich wollte natürlich doch auch immer wieder über die Grenzen hinaus, weil ich sonst mit der normalen Zensur, die Autoren in ihren Texten üben, nicht einverstanden bin."

    Konsequenterweise berichtet Laederach auch freimütig zum Beispiel über einige zum Teil schwere Krankheiten, die ihn über Jahre sehr eingeschränkt haben und wohl ein weiterer Grund waren für seine publizistische Enthaltsamkeit.
    Andererseits hat sich Jürg Laederach in diesen Mails auch künstlerische Freiheiten herausgenommen und manches aus seinem Alltag inszeniert und fantasiert. Wie eben auch der Autor und seine Figur – obwohl namensgleich – nicht unbedingt und immer deckungsgleich sein müssen.
    Insofern ist Vorsicht geboten: Bei aller grundsätzlichen Offenheit streut dieses Buch doch kaum autobiografischen Spuren oder bedient gar irgendeine voyeuristische Neugier des Lesers. Spannung sollte sich auf andere Weise herstellen:

    "Wir haben die Themen genau durchforstet, die da zur Sprache kamen und haben geschaut, dass immer ein Thema so ein bisschen breiter behandelt wird und dann einen Übergang zu einem nächsten gesucht und dann geschaut, dass insgesamt, also klimaktisch, von der Klimax her, das Buch gut funktioniert, dass es auch spannend bleibt und der Leser den Eindruck erhält, es werde eine Geschichte erzählt. Ich muss da also meinem Kollegen Mettler ein großes Kompliment machen, ich bin nicht dazu verpflichtet, aber er hat da eine spezielle Begabung zu sehen, wie Gesamttexte funktionieren, und der kann einem tatsächlich sagen: am Anfang sind zwei Seiten zuviel, in der Mitte würde ich drei hinzutun und zum Schluss müssen wir noch schauen, da gehen eventuell eineinhalb weg. Und das funktioniert bei ihm dann auch sehr gut, und das gab aber auch enorm viel zu tun. Ich bin richtiggehend erschöpft, obwohl ich keine Zeile zum Anlass des Buches selber habe schreiben müssen."

    "Depeschen nach Mailland": Der Titel dieses Buches spielt natürlich auf den virtuellen Raum des neuen Mediums an.
    Zugleich blickt der Titel aber auch zurück auf die Anfänge/eine frühe Form der elektrischen Kommunikation: schließlich waren Depeschen nichts anderes als Telegramme:

    "Sie erinnern sich an die Western, wo die Poststation angegriffen wird, und der Postmaster tippt verzweifelt mit Morsezeichen um Hilfe, nicht? Das war natürlicher logischerweise die schnelle Mitteilung in früheren Zeiten, war gleichzeitig die Mitteilung höchster Not: das letzte Telegramm der Titanic vor dem Untergang, nicht wahr?
    Und "Mailland" habe ich genommen, weil es so eine interessante Assoziation mit der Stadt gibt: Mailand. Aber man könnte auch sagen: es könnte Mailland sein, also ein französisches Wort. Es schien mir so ein irisierendes Wort zwischen den Sprachen, das mir ganz gut auch wieder die nicht ganz erforschte Gattung des E-mails wiederzugeben schien."

    Ganz nebenbei hat dieser anspielungsreiche Titel Laederach selber zu einer kuriosen Fantasie angeregt:

    "Also unter "Mailland" habe ich mir immer einen Chefkoch vorgestellt, und einer hat einfach immer Hunger, und das Essen zuhause ist ihm nicht gut genug und er telegrafiert beziehungsweise eben: mailt einem Chefkoch irgendwo in Frankreich: könntest du mir nicht ein Mittagessen entwerfen? Und das kocht er dann... Das war für mich so eine lustige Zweithandlung des Buches, die natürlich jetzt nicht drin ist."

    So entstand im Laufe von fünf Jahren in einem virtuellen Zwischenreich ein Buch, das den herkömmlichen Briefwechsel wie das Tagebuch aufgreift, aber auch die improvisierte Lesung, die Performance - ein Zwitter, der auf seine direkte Art dem Leser in seinen besten Momenten teilhaben lässt am Leben und am Denken dieses neugierigen und leidenschaftlichen Autors und Zeitgenossen Jürg Laederach.

    Jürg Laederach: "Depeschen nach Mailland". Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 191 Seiten, 17,80 Euro.