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Modernes Wortpanorama

"Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch" ist der erste deutschsprachige Roman von weltliterarischem Rang. Er bietet das grandiose Panorama einer verwirrten, verrohten Epoche: Leben und Leiden im 30-jährigen Selbstzerfleischungskrieg, der den fatalen Rückstand Deutschlands im Wettstreit der europäischen Mächte bedingte. Simplicius, der Held und Ich-Erzähler, ist der Sohn eines Spessartbauern. Als Kind erlebt er, wie kroatische Söldner den Hof seiner Eltern verwüsten, wird Zeuge von Folter, Vergewaltigung, Mord:

Von Wolfgang Schneider | 07.02.2010
    Es ist eine Schande, davon zu berichten – aber unsere Magd wurde im Stall dermaßen traktiert, dass sie nachher nicht mehr herauskommen konnte. Den Knecht legten sie gefesselt auf die Erde, sperrten ihm mit einem Holz das Maul auf und schütteten ihm einen Melkeimer voll Jauchewasser in den Leib. Das nannten sie einen schwedischen Trunk.

    Simplicius flüchtet in den Wald und verbringt dort zwei Jahre bei einem Eremiten, seine zweite Kindheit. Nach dem Tod des alten Mannes kehrt er in die Welt zurück – als komische, narrenhafte Figur zunächst. Später verdingt er sich als Soldat, wobei er als Kriegshandwerker die Seiten des Öfteren wechselt, wo eben gerade das Glück winkt oder die Not ihn hintreibt. Als "Jäger von Soest" gewinnt er Ruhm, zwischenzeitlich begegnen wir ihm dann aber wieder als ehrlosem Straßenräuber – um erst einmal nur zwei seiner vielen Rollen zu nennen.
    Der Krieg erschüttert die alte Stände-Ordnung. Nicht nur Simplicius, viele Menschen werden aus ihren sozialen Bindungen herausgerissen. Bürgerleute werden zu Kriegsmännern, Vaganten und Bettlern. Die eigentliche Frontlinie verläuft aber nicht zwischen den Kriegsparteien, sondern zwischen Soldaten und Bauern. Ein Grund dafür ist die martialische Praxis des Fouragierens, wie sie im Roman eindrucksvoll beschrieben wird: Wenn die Versorgungsleistungen an die Soldaten ausblieben, gingen diese zur Selbsthilfe über. Ganze Landstriche wurden zum Plündern freigegeben.
    Der Roman ist berühmt als Schreckensgemälde des 30-jährigen Krieges. Die Schlacht bei Wittstock im Jahr 1636 wird jenseits militärischer Logik als Albtraum der Körper-Zerstückelung dargestellt:

    Im Gefecht aber versuchte jeder, dem eigenen Tod zu entgehen, indem er sein Gegenüber niedermachte. Das gräuliche Schießen, das Klappern der Harnische, das Krachen der Piken, die Schreie der Verwundeten und der Vorwärtsstürmenden und dazu die Trommeln, Trompeten und Pfeifen – das alles ergab eine grausige Musik. Man sah nur dicken Rauch und Staub, der den grauenhaften Anblick der Verwundeten und Toten verdecken zu wollen schien. Darin hörte man das jämmerliche Wehklagen der Sterbenden und das beherzte Geschrei derer, die noch voller Mut waren.
    Da lagen Köpfe, die ihre natürlichen Herren verloren hatten, und Leiber, denen die Köpfe fehlten. Manchen hingen grausiger-, beklagenswerterweise die Eingeweide aus dem Leib, anderen war der Kopf zerschmettert und das Hirn zerspritzt. Da sah man entseelte Leiber blutleer liegen, während lebendige von fremdem Blut trieften. Da lagen abgeschossene Arme, an denen sich noch die Finger regten ... Da sah man verstümmelte Soldaten um die Beschleunigung ihres Todes flehen und andere um Gnade und Verschonung ihres Lebens.


    Solche grausamen Beschreibungen sind jedoch nicht häufig. Viel ausführlicher widmet sich Grimmelshausen den Normalsituationen der Kriegsepoche, den elenden Winterquartieren und langwierigen Belagerungen, den kleinen Beutezügen, dem täglichen Überlebenskampf. Schon auf die martialischen Szenen von Wittstock folgt unmittelbar eine ausführliche Schlachtbeschreibung der anderen Art: der Kampf mit den Läusen, so heftig geführt, dass Simplicius darüber seine Umgebung vergisst und wieder einmal in Gefangenschaft gerät.
    Der "Simplicissimus" ist ein wunderbar lebenspralles Buch. Ein neues Interesse an der empirischen Wirklichkeit und ihren Widersprüchen, am genussvoll erzählten Tatsachendetail macht sich geltend. Zugleich aber ist der Roman, worauf bereits Richard Alewyn hingewiesen hat, Literatur, die aus Literatur gemacht wurde. Er steht in der Tradition des spanischen Picaro-Romans mit seiner antiidealistischen Tendenz, seiner Unterminierung des "hohen Tons" – es ist die Rache der Diskriminierten und Outcasts an der Ständegesellschaft. Weitere Bezüge reichen von den Konfessionen des Augustinus bis hin zur geläufigen Narrenliteratur der Zeit, der sich viele satirische Szenen des Buches in allerdings verfeinerter Form verdanken.

    Im Namen des Helden klingt die "Sancta Simplicitas" an, die heilige Einfalt. Sie leitet ihn durch alle Abenteuer und Fährnisse und sorgt bei aller Verruchtheit für einen Grundstock an Unschuld. Davon abgesehen bleibt Simplicius nicht lange ein tumber Tor. Sein jäher Zuwachs an Wissen und Weltkenntnis setzt jede realistische Psychologie außer Kraft und verblüfft die Umgebung. Fehlten ihm eben noch die einfachsten zivilisatorischen Begriffe – beim Tanzen überkommt ihn Panik, weil er glaubt, dass alle sich verabredet haben, das Haus zum Einsturz zu bringen –, so hält er kurz darauf seinem Herrn eine geschliffene Schelt-Rede über die Mächtigen der Welt. Simplicius ist ein wilder Leser, der von den Klassikern über christliche Legenden und Erbauungsbücher bis zu den Amadis-Schmonzetten nichts Gedrucktes verschmäht und nebenbei durch alle Fakultäten damaliger Wissenschaft schweift. Auch der zur Schau gestellte Bildungsanspruch des rückblickenden Erzählers steht in merkwürdigem Gegensatz zum Gestus der Simplizität.

    Nicht zuletzt ist Simplicius ein gottsuchender Mann, so sehr vor dem Hintergrund des weltverwüstenden Religionskriegs die verlogenen Pfaffen und Priester der Satire ausgesetzt werden. Der Kriegszustand entspricht aber auch der bestialischen Verfassung des Menschen: Fluch der Erbsünde. Früh wird Simplicius von seinem Eremiten im Christentum unterwiesen; alles Weitere ist ein Wechselspiel von sündigen Rückfällen und erneuter Zerknirschung. Die vom Mittelalter überkommenen Sündenkataloge werden im Lauf des Romans abgearbeitet, der Luxus und die Moden werden ebenso angeprangert wie Spielsucht, Völlerei, Wollust. Ein hochkomisches Kapitel widmet sich dem Geiz – der Kölner Herbergsvater, bei dem Simplicius zwischenzeitlich unterkommt, ist ein Mann von radikalster Sparsamkeit:

    Die Speisen, die man uns vorsetzte, waren nur halb gar – was unserem Hausherrn in zwei Punkten zupass kam: erstens, weil er auf diese Weise am Holz für den Herd sparte, und zweitens, weil wir nicht soviel davon verdauen konnten. Ich hatte ohnehin das Gefühl, er zähle bei jedem Bissen mit, den wir nahmen, und kratzte sich hinter dem Ohr, wenn wir mal kräftig zulangten. Sein Wein war reichlich verwässert und der Verdauung wenig förderlich. Der Käse, den man nach jeder Mahlzeit anbot, war meistens steinhart, und die holländische Butter so versalzen, dass niemand mehr als ein paar Gramm davon bei einer Mahlzeit genießen konnte. Und wenn dann der eine oder andere eine spitze Bemerkung fallenließ, so fing er deswegen in unser aller Beisein einen großen Streit mit seiner Frau an, sagte ihr aber nachher insgeheim, sie solle weitermachen wie bisher.

    Mit der wachsenden Bedeutung der Geldwirtschaft rückt das Laster der materiellen Begehrlichkeit stärker in den Blick. Das Geldbürgertum, die Kriegsgewinnler und die neuen "Nobilisten" werden ins Visier genommen. Simplicius selbst hat allerdings nicht das Talent für dauerhaften Reichtum. Hier gilt: Wie gewonnen, so zerronnen; er plündert und wird geplündert.
    Ist der Titelheld nun ein überzeugender Charakter oder ein bloßes Ensemble von Rollen, die unter der Bezeichnung "Ich" auf Linie gebracht werden? Als sich rundende, entwickelnde Persönlichkeit im Sinn der klassischen Bildungsromantradition lässt sich Simplicius sicher nicht begreifen. Zu disparat tritt er in Erscheinung, zu selten folgen auf Irrtümer und Einsichten Konsequenzen.
    Es ist kennzeichnend, dass seine Lebenswege nicht Entschlüssen und Entscheidungen folgen, sondern äußerlichen Faktoren, Zufällen, Fremdbestimmung. Er ist kein typischer Landsknecht oder Söldner, eher ein Glücksritter, der immer wieder in den Krieg verwickelt wird. Mit erstaunlicher Energie entzieht er sich allerdings den Zwängen des Familienlebens: Obwohl er viele Kinder mit vielen Frauen zeugt (in einer kuriosen Angstvision sieht er von allen Seiten frisch geborene Säuglinge auf sich zukrabbeln), lässt er sich nirgends als Vater verpflichten. Er scheint unter dem Zwang zu stehen, sein eigenes Schicksal der Verwaisung an die nächste Generation weiterzugeben.
    Simplicius ist auch deshalb eine so ergiebige Figur, weil er zwischen den sozialen Rollen steht: zwischen Militär und Bürgertum, Adel und Elend, Einsiedelei und Weltleben, Draufgängertum und Besonnenheit. Es gibt mehrere Nebengestalten, bei denen die im Helden angelegten Möglichkeiten ausformuliert sind: im sanft-gottergebenen, aber kaum lebenstauglichen Herzbruder, im gefallenen Bürgersohn Olivier, einem brutalen, skrupellosen Machiavellisten auf eigene Faust, und im zerrütteten Intellektuellen Jupiter, der sich in der Poesie "gewaltig verstiegen" hat. In seinen Narrenreden als Himmelsvater hält Jupiter der Zeit den Spiegel vor. Und weiß, warum der Krieg nicht enden will:

    Neulich fragte ich einen elenden Schneider, ob ich den Frieden bringen soll. Da antwortete er, es sei ihm egal, er müsse in Kriegs- wie in Friedenszeiten mit der stählernen Stange fechten. Die gleiche Antwort bekam ich von einem Erzgießer, der mir sagte, wenn er im Frieden keine Glocken zu gießen habe, habe er doch im Krieg reichlich mit Kanonen und Mörsern zu tun. So antwortete mir auch ein Schmied: 'Zwar habe ich im Krieg keine Pflüge und Bauernwagen zu beschlagen, aber mir kommen doch so viele Kavalleriepferde und Armeewagen unter die Hände, dass ich auf den Frieden gut verzichten kann.' Da siehst du es, lieber Merkur! Warum sollte ich ihnen den Frieden gewähren?

    Die erste Übersetzung des "Simplicissimus" in ein gegenwärtiges Deutsch ist Reinhard Kaisers Fassung nicht; da übertreibt die Verlagswerbung ein wenig. Die Geschichte der Übertragungen begann gleich nach Erscheinen des Romans im Jahr 1668: Wegen des großen Erfolges gab es eine raubgedruckte Fassung in allgemeinverständlicherem Deutsch, während das Original noch stärker mundartlich geprägt war. Seit die Romantiker den Roman im 19. Jahrhundert wiederentdeckten, wurden viele Versuche der Vermittlung unternommen: oft grob kürzend, glättend und entstellend. Vor dieser Literaturgeschichte der Unzulänglichkeit ist Kaisers Übersetzung ein Ereignis. Sie gewinnt ein Hauptbuch der deutschen Literatur, Lektüre für Germanisten mit der (auch in Fachkreisen begrenzten) Lust auf Barocksprache, für die breite Leserschaft zurück. Plötzlich ist das sperrige, mit Willensstärke und Wörterbuch durchzuarbeitende Werk wunderbar unterhaltsam und spannend. Der Blick wird direkter auf die Handlung selbst gerichtet, als würde die Übersetzung die Geschehnisse wie durch ein gutes Fernglas heranholen.

    Das Aufbrechen der gelehrten Schriftsprache durch das wirklich gesprochene Deutsch – darin besteht die formale Sprengkraft des Buchs. Grimmelshausen lässt sich die Ausdrucksmöglichen nicht eingrenzen durch poetologische Normierungen. Ob Hochsprache oder fränkisch-alemannische Mundart, ob deftige Volkstümlichkeit oder mythologische Verweise, ob gelehrte Einschübe oder Gauner-Rotwelsch – zum Reiz des Romans gehört sein registerreicher Stil, die Vielstimmigkeit der Tonlagen, mit der die zeitgenössische Unterscheidung von Hochliteratur und niederen Possen souverän in den Wind geschlagen wird. Anders als in früheren "Lesefassungen" des Romans bleibt dieser sprachliche Reichtum in Kaisers Übersetzung weitgehend erhalten.
    Viele Worte und Wendungen haben in den Jahrhunderten den Sinn geändert oder sind kaum noch verständlich. Da heißt es zum Beispiel im Original, dass Landsknechte einem Bauern ein Seil um den Kopf legen und dann mit einem "Bengel zusammenraiteln", dass ihm das Blut aus Nase, Mund und Ohren schießt. Bengel? Zusammenraiteln? Bei Kaiser erfährt man, was das zu bedeuten hat: Mit einem Knebel haben die Folterknechte das Seil zusammengedreht.

    Die syntaktische Komplexität Grimmelshausens ist außerordentlich – artistisch verschachtelte Konstruktionen tun der barocken Lust an Verschnörkelung und Bandwurmsätzen Genüge. Für heutige Leser wohl eher ein Lektürehemmnis. Kaiser vereinfacht den Satzbau und beseitigt viele Stolperfallen. Manchmal klingt die Übersetzung vielleicht etwas weniger barockderb: Wenn wir im Original erfahren, die Frau des Simplicius sei eine Trinkerin, "der selten das Kännchen vom Maul ging", so heißt es bei Kaiser milder, dass sie das "Kännchen selten absetzt". Kaiser findet aber viele geglückte Formulierungen. "Ein Unglück hockt auf dem anderen" – das klingt sogar ausdrucksstärker als im Original, wo es bloß heißt "kein Unglück allein". Und wie flüssig und elegant klingen die Sätze, in denen Simplicius seine exorbitanten Erfolge als Frauenheld mitteilt:

    Denn wo meine Liebe hinfiel, da bekam ich leicht und ziemlich mühelos, was ich begehrte, sodass ich keinen Grund zum Klagen hatte, wie andere Liebhaber und Frauenfreunde, die sich in fantastischen Gedanken, in Mühen und Begierden, in heimlichen Leiden, Zorn, Eifersucht, Rachgier, Raserei, Weinen, Protzen, Drohen und tausend anderen Torheiten ergehen und sich aus lauter Aufgeregtheit den Tod wünschen. Ich hatte Geld und brauchte mir in diesem Punkt keine Sorgen zu machen. Außerdem besaß ich eine schöne Stimme und übte mich beharrlich auf verschiedenen Instrumenten. Dazu hatte ich ein schönes, glattes Gesicht und machte mir ein liebenswürdiges Auftreten zur Gewohnheit, sodass mir, ohne dass ich mich groß ins Zeug legte, mehr Frauen von sich aus nachliefen, als ich begehrte ...

    Auch auf erotischem Feld ist Simplicius ein Abenteurer; ein Verschwender, der sich gern prächtig ausstaffiert. Wer die Eitelkeit der Welt beklagt, muss ihr schließlich selbst gefrönt haben. Auch das Haupt-Laster des vorwitzigen Helden ist aus Sicht des Lesers zweifellos eine Tugend: die Curiositas, seine unstillbare Weltneugier, die ihn auf der Suche nach Abenteuern und Wundern um den Globus und in dessen Innerstes treibt. Dieser Roman über den deutschen Krieg ist zugleich ein erstaunlich weltläufiges Buch. Als Hofmeister zweier Adelsprösslinge kommt Simplicius nach Paris und macht dort Karriere. Seine Attraktivität und Musikalität ermöglichen eine Blitzkarriere an der Hofoper. Er gibt den Orpheus, und bald liegt ihm auch die Pariser Frauenwelt zu Füßen. Er wird in den Venusberg geführt, maskierte Damen halten sich an ihm schadlos und bezahlen ihn gut für seine Liebesdienste. Was er bald darauf für Syphilis hält, sind die Blattern, die ihn in Windeseile komplett verunstalten:

    Ich hatte solche Gruben im Gesicht, dass ich aussah wie eine Tenne, auf der man Erbsen gedroschen hat. Ich wurde so hässlich, dass sich selbst meine schönen Locken, in denen sich so manche Frau verfangen hatte, meinetwegen schämten und ihre Heimat verließen. An ihrer Stelle wuchsen mir Haare, die aussahen wie Schweineborsten und mich nötigten, eine Perücke zu tragen. Und so wie mir äußerlich nichts Ansehnliches blieb, verlor ich auch meine liebliche Stimme, denn ich hatte auch den Hals voller Blattern gehabt, und meine Augen, in denen das Liebesfeuer früher nie erloschen war und jede Frau entflammt hatte, waren jetzt rot und tränten immerzu wie bei einem triefäugigen Weib von achtzig Jahren.

    Auf dem Rückweg von Paris muss er also kleinere Brötchen backen. Als Marktschreier und Quacksalber preist er selbst gepanschte Medizin an. Nach dem Friedensschluss geht Simplicius dann nach Russland, wo er Kriegsingenieur des Zaren wird, zuständig für die Pulvermühlen; später begibt er sich auf Pilgerfahrt und wird bei den Pyramiden von arabischen Räubern verschleppt, die ihn als "wilden Mann" auf den Märkten zeigen. Schließlich führt die Continuatio noch hinaus über die Grenzen der bewohnten und kolonisierten Welt: ein Abgesang aufs Abendland und dessen heillose Zustände. Das schon zu Beginn groß eingeführte Einsiedlermotiv kommt im Finale groß zur Geltung: Aus dem weltlustigen Simplicissimus wird ein frommer Robinson auf der Kreuzinsel. Als er von holländischen Seefahrern dort entdeckt wird, verzichtet er gern darauf, sich retten und nach Europa zurückverfrachten zu lassen.
    Eine hinreißende Partie des Romans ist die fantastische Reise vom Mummelsee zum Mittelpunkt der Erde. Hier wird die noch von Plinius bestimmte Naturphilosophie der Renaissance umgesetzt: Kopernikus bestimmt zwar schon das Weltbild; andererseits hat man noch die Vorstellung, dass das Erdinnere von merkwürdigen Elementargeistern bewohnt sei. Und so erteilt Simplicius dem von Weltuntergangsgerüchten beunruhigten Fürsten der Sylphen Auskünfte. Er schildert ihm die Menschenwelt oben im Bestzustand; eine ironische Utopie, die umso deutlicher auf die Mangelhaftigkeit der irdischen Verhältnisse hinweist. Gerade weil die Gegenwart so heillos und Besserung nicht in Sicht ist, spielt der Roman immer wieder solche utopischen Modelle durch und sucht Alternativen zur Kriegsgesellschaft, auch wenn keine die pessimistische Lebensphilosophie überzeugend entkräften kann.
    Wenn wir der Fiktion glauben, schreibt Simplicius seine Lebensbeichte als Eremit auf der Kreuzinsel nieder, zum frommen Nutzen des Lesers. So zumindest der Anspruch der Erzählperspektive. In Wahrheit haben der Erlebnisstolz, die Weltlust und die pure Freude am Kuriosen den Erzähler jedoch fest im Griff, jetzt erst recht, denn vieles, was unter Leid erlebt wurde, lässt sich aus dem Abstand der Jahrzehnte erst mit Genuss erzählen. Eine asketische Lebensbeichte sieht jedenfalls anders aus. Man erinnert sich daran, wie es sich der Schelm schon bei seiner Schweizer Wallfahrt auf Erbsen etwas bequemer zu machen wusste:

    Die Nacht zuvor hatten wir in Schaffhausen verbracht. Die Füße hatten mir von den Erbsen furchtbar weh getan, und aus lauter Furcht, am nächsten Tag weiter auf Erbsen laufen zu müssen, hatte ich sie kochen lassen und mir wieder in die Schuhe getan, sodass ich bequem nach Zürich wanderte, während sich mein Gefährte grausam marterte und zu mir sagte: "Bruder, Gott ist dir gnädig, dass du trotz der Erbsen in den Schuhen so gut vorankommst."
    "Ja, sagte ich, "lieber Herzbruder, ich habe sie gekocht, sonst hätte ich auf ihnen nicht so weit laufen können."
    "Ach, dass Gott erbarm!", rief er. "Ich fürchte, dafür wird Gott uns beide strafen."


    Glück und Unglück, Gewinn und Verlust wechseln in diesem Roman wie Aprilwetter. Auf Kriegsgräuel folgt Sinnenlust, auf Ausschweifung und Schlemmerei bußfertige Zerknirschung. Das Rad der Fortuna rollt und begräbt am Ende alle unter sich. Nichts ist verlässlich, überall wankt der Boden. Mit diesem Gefühl totaler existenzieller Verunsicherung, das im Gegenzug einen radikalen Genusswillen und die Skrupellosigkeit des schnellen Glücks befördert, empfiehlt sich dieses große Buch den heutigen Lesern in Zeiten der "Krise".

    Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: "Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch". Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser, Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, 2009, 762 S., 49,95 Euro