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Möbel und Trödel

Womit umgeben sich Menschen und was bedeuten all diese Sachen für sie? Der Ethnologe Daniel Miller geht in 15 Porträts der Beziehung zwischen Mensch und Ding völkerkundlich auf den Grund.

Von Sabine Peters | 24.09.2010
    Der Mensch, heruntergekommen zum hemmungslosen Konsumenten, zum Schnäppchenjäger und -sammler; die moderne Gesellschaft, die immer oberflächlicher und materialistischer wird - das sind abstrakte Behauptungen, die der Londoner Ethnologe Daniel Miller auf ihren konkreten realistischen Kern hin untersucht. In seinem neuen Buch "Der Trost der Dinge" stellt er fest: Unser Verhältnis zu den Dingen ist keinesfalls oberflächlich; im Übrigen strukturiert es Beziehungen; es sagt etwas über das eigene Selbstverständnis und über unsere Vorstellung von der Welt.

    Daniel Miller, Jahrgang 1954, hat mit einer Kollegin eine ganz normale Straße im südlichen London besucht und in einem Zeitraum von mehr als einem Jahr die Bewohner nach den Gegenständen ausgefragt, mit denen sie sich umgeben; aus diesen Eindrücken sind 15 Porträts entstanden, die einem in vieler Hinsicht die Augen öffnen. Miller besuchte Einfamilienhäuser und Reihenhäuser, traf Alte und Junge, Londoner Urgestein und Zugezogene, erfolgreiche und gescheiterte Existenzen; sie gaben ihm mehr oder weniger bereitwillig Auskunft.

    Und die Dinge selbst sprachen, wobei in einem Fall der tröstende Besitz in einem alten Labrador-Hund bestand. Sein ebenfalls alter Besitzer empfand sich sichtlich als bloßen Stellvertreter des Tieres, dem er morgens gern den Tee ans Körbchen bringen würde und dem zuliebe er den Beifahrersitz seines Wagens ausbaute. Das Verhältnis zwischen Herr und Haustier, schreibt Miller, lasse sich nur schwer respektvoll schildern - aber es ist ihm in diesem wie in den anderen Porträts gelungen, gelegentlich auch seinen leisen Spott anzubringen, ohne dass das seine spürbare Sympathie für fast alle Befragten schmälern würde.

    Das ganze Buch "Der Trost der Dinge" ist mit bewundernswerter Leichtigkeit geschrieben, diskret, ohne kalt zu sein, und bei aller gebotenen Neutralität gelegentlich von kurzen, bewusst subjektiven Kommentaren durchfunkelt - eine schöne Lektüre, für die die Bezeichnung "Sachbuch" viel zu dröge klingt. Nach dem Lesen stellt man sich die Ethnologie als freundliche Wissenschaft vor. Denn Miller ist ein neugieriger Mensch und ein Geschichtenerzähler, der einem ganz nebenbei so manches Brett vom Kopf nimmt: Da geht es etwa um die alleinerziehende junge Mutter Marina, die ihre Kinder davor schützen will, so schlechte Erfahrungen zu machen wie sie selbst als Kind. Ihre eigenen Eltern empfand sie als kalt, als desinteressiert und heuchlerisch. In ihrer Wohnung dagegen tobt das Leben in Form der Plastikfiguren, die die Kinder anlässlich der Happy Meals bei McDonald´s sammeln. In den Augen der berufstätigen Mutter ist die Fast-food-Kette ideal: Wickeltische, Spielzeug, gleichbleibende Qualität des Essens; die Kinder können toben, ohne anderen Gästen lästig zu werden, und die Plastikfiguren sind unwahrscheinlich haltbar. Neben selbst geschneiderten Kostümen für die Kinder sind diese kleinen Figuren Ausdruck von Marinas Mutterliebe. In den wenigen gemeinsam verbrachten Stunden werden sie zu den Helden immer neuer Abenteuer, die Mutter und Kinder miteinander erfinden.

    Viele Dinge, die beim ersten Ansehen Spott auslösen oder die Irritation, Ärger und Abwehr provozieren könnten, verwandeln sich im Verlauf der Beobachtung, sie nehmen einen eigenständigen Charakter an. Das Ehepaar Clarke richtet jährlich ein Weihnachtsfest für mittlerweile 5 Kinder und 10 Enkel aus, bei dem die Dekoration, über 500 Sterne, Krippenfiguren, Kugeln, Selbst gebasteltes und Geerbtes, eine wichtige Rolle spielt. Die Sorgfalt und Zuwendung, die den Dingen gilt, setzt sich in den Beziehungen fort. Mr Clarke sammelt nebenher auch Briefmarken, aber im Grunde, schreibt Miller, "sammeln" er und seine Frau Menschen. Das Schenken von Dingen, die man teilweise getrost "Kram" nennen kann, gehört zu den Ritualen, die vielfältige Beziehungen festigen. Spielen und Schenken fließen bei den Weihnachtsfesten der Clarkes ineinander, der Kreis hat sich längst über die Familie hinaus erweitert, und "die Dinge" haben, ohne dass das den Befragten bewusst war, eine soziale Funktion - ihr Wert bemisst sich nicht nach einer Geldsumme, er besteht im Fließen zwischen den Menschen.

    Ob es nun Kleider, Schmuck, Nippes, der Laptop, die CD-Sammlung oder Möbel sind: All diese Dinge sind nicht nur sie selbst, sie haben nicht nur einen Körper, eine fest umrissene Form - sie sind auch durchlässig. Sie transportieren Gefühle und Erinnerungen. Sie selbst und ihre Anordnung im Raum sagen etwas über unsere Wert- und Ordnungsvorstellungen. Im Nachwort ordnet Daniel Miller seine Fallstudien in einen größeren wissenschaftlichen Kontext ein. Waren es zunächst die Götter, die man schuf, um selbst erdachte Regeln zu legitimieren, trat dann ein übergeordnetes staatliches Gemeinwohl an deren Stelle. Es gehört zu den aus der Soziologie ins Allgemeinwissen abgerutschten Behauptungen, dass die moderne Gesellschaft in isolierte Individuen, in bloße Konsumenten zerfällt und jede Ordnung verliert. Und tatsächlich räumen ja die Londoner Zeitgenossen weder einem religiösen noch einem säkularen kollektiven Ordnungssystem großen Platz in ihrem Leben ein. Miller interessiert sich wenig für eine theoretische Konstruktion, die das Individuum der Gesellschaft als deren Anderes gegenüberstellt, er begreift die einzelnen Haushalte als eine je eigene Art von Gesellschaft.

    Trotz gewaltiger Unterschiede in der Lebensführung haben etwa der ehemalige Söldner, der Pornos sammelt und im Internet tauscht, und die alte Frau, die die Kleider ihrer verstorbenen Angehörigen aufträgt, um ihnen nahe zu sein, etwas gemeinsam: Ihre Beziehungen zu den Dingen spiegeln ihre Beziehungen zu Menschen, und sie konstruieren ihre Identität. Sie alle haben Werte und Ordnungsvorstellungen, die sich in einem Punkt gleichen: Jeder Einzelne sieht sich als einen Knotenpunkt in einem Beziehungsnetz, dem er sich verpflichtet fühlt und das nicht nur er selbst autonom bestimmt, sondern das auch ihn selbst definiert und schafft - bis hin zu den Gegenständen, die eine Person, auch, ausmachen.

    Solche abstrakten Erkenntnisse wirken nicht unbedingt groß - wusste man das nicht schon immer? Es ist weniger das Nachwort als die konkreten Porträts, diese Bildergalerie, die Millers Buch zu einer erfreulichen Lektüre macht: Man staunt, wie kunstfertig wir in der Gestaltung unserer Beziehungen zu Dingen und Menschen sind.

    Daniel Miller: Der Trost der Dinge. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Edition Suhrkamp, 230 Seiten, 15,00 Euro.