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Mögliche Große Koalition
"Man muss kompromissfähig sein"

Soll die SPD mit der Union über eine Neuauflage der Großen Koalition verhandeln? Johannes Kahrs vom konservativen Seeheimer Kreis der Sozialdemokraten spricht sich dafür aus. Er sagte im Dlf, wenn man inhaltlich zusammenkomme, sei eine stabile Regierung einer Minderheitsregierung vorzuziehen.

Johannes Kahrs im Gespräch mit Dirk Müller | 01.12.2017
    Johannes Kahrs, Chef des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, spricht im Bundestag.
    Johannes Kahrs, Chef des konservativen Seeheimer Kreises in der SPD, spricht im Bundestag. (dpa / picture-alliance / Michael Kappeler)
    Kahrs verteidigte die Haltung von Martin Schulz, eine erneute Große Koalition nach der Wahl zunächst auszuschließen. Alle hätten eine bürgerliche Koalition der "Besserverdienenden und Besserwisser" gewollt. "Da haben wir uns auf die Opposition eingerichtet", sagte Kahrs im Dlf. Aber bevor man Neuwahlen ausrufe, sei es sinnvoll, zu gucken, ob man doch mit der Union zusammkommen könne. Man müsse sich kompromissfähig zeigen.
    Kahrs sagte, seine Partei scheue aber auch Neuwahlen nicht. "Wenn man inhaltlich Dinge nicht durchsetzen kann, dann sollte man nicht in eine Regierung gehen, dann kann ich in die Neuwahl gehen". Er fordere etwa die Rente mit 63, die Einführung einer Bürgerversicherung und mehr Europa.
    Kahrs kritisierte den Alleingang von Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) bei der Glyphosat-Entscheidung. "Das gehört sich in einer Regierung nicht". Das Thema Glyphosat werde auf jeden Fall eine Rolle in möglichen Koalitionsverhandlungen mit der Union spielen.

    Das Interview mit Johannes Kars (SPD) in voller Länge:
    Dirk Müller: Wir wissen nichts über den Verlauf und über den Inhalt der Gespräche gestern Abend. Alle Beteiligten haben dichtgehalten. Aber zumindest eines ist hängen geblieben bei Stephan Detjen: betreutes Sondieren der großen Koalitionäre. Das sagen jedenfalls viele. – Bei uns am Telefon ist nun der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, Chef des konservativen Seeheimer Kreises bei den Sozialdemokraten, und er hat sich als einer der ersten öffentlich hingestellt und gesagt, wir dürfen uns nicht verweigern. Guten Morgen!
    Johannes Kahrs: Moin!
    Müller: Herr Kahrs, sind Sie jetzt der Betreuer von Martin Schulz?
    Kahrs: Ich finde die Wortwahl ein bisschen grenzwertig. Ich glaube nur, dass die SPD sich jetzt in Ruhe mit der CDU zusammensetzen sollte, um zu schauen, was inhaltlich geht und was nicht geht. Am Ende entscheiden bei uns da sowieso die Mitglieder.
    Müller: Sie betreuen ihn nicht? Sie raten ihm nicht, von seiner Position runterzukommen?
    Kahrs: Erstens ist er mein Parteivorsitzender und zweitens war die Position zum Beispiel am Wahlabend um 18:05 Uhr richtig. Die ganze Welt wollte diese Koalition der Besserverdiener und der Besserwisser; dann sollten sie sie auch haben. Da haben wir gesagt: Bitte, dann sollen die koalieren, dann sollen die verhandeln, dann sollen sie sondieren. Haben sie auch acht Wochen lang gemacht. Nachdem sie erbärmlich gescheitert sind, finde ich, können wir jetzt uns das in Ruhe angucken und können dann in Ruhe auch verhandeln.
    Müller: Aber jetzt verhandeln Sie mit denen, mit den Besserwissern?
    Kahrs: Wir werden in der SPD darüber reden, was für uns die Schwerpunkte sind, welche Inhalte wir wollen. Wir sind ja für Inhalte gewählt worden. Ich bin bei mir im Wahlkreis direkt gewählt worden und ich wollte zum Beispiel die Bürgerversicherung, die Rente mit 63 und mehr Europa. Und wenn ich die Chance habe, das umzusetzen, dann muss ich es zumindest probieren. Wenn es denn mit der Union klappt, muss man sehen, ob man es will, ob die Mitglieder das mittragen.
    "Das hat mit Schuld doch nichts zu tun"
    Müller: Aber reden wir noch einmal über Ihren Parteichef. Sie sind mir da bisher immer ausgewichen. Das ist natürlich Ihr gutes Recht. Ich möchte das noch mal versuchen, vielleicht mit einer anderen Wortwahl. Martin Schulz hat vor acht Wochen gesagt, wir gehen in die Opposition. Da haben Sie gerade gesagt, das war völlig richtig. Jetzt hatten wir ja vor zwei Wochen eine völlig andere Situation. Da hat er sich auch direkt vor die Kameras gestellt und hat gesagt, wir bleiben dabei, wir sind in der Opposition. Dann kommen Sie und suchen auch dementsprechend die Mikrophone und sagen dann oder sind angesprochen worden, will ich jetzt gar nicht unterstellen: Nee, nee, so geht’s nicht, wir müssen offen sein, wir müssen gegebenenfalls verhandeln. Das heißt, da ist doch eine riesen Diskrepanz dazwischen.
    Kahrs: Erstens ist da keine Diskrepanz und zweitens ist das ein Prozess im Moment, den wir haben. Martin Schulz hat am Wahlabend etwas gesagt, das hat die ganze Partei geteilt. Und am Montag nach diesem gescheiterten Jamaika-Debakel hat mein Parteivorstand inklusive Parteivorsitzender einstimmig erklärt, dass wir nicht der Notnagel für die sind. Als dann der Bundespräsident aber gesagt hat, jetzt ist es wichtig, dass alle miteinander reden und das tun, weil es eine Verantwortung gibt - und er hat ja schließlich auch die Autorität des Grundgesetzes hinter sich -, habe ich und viele andere in dieser Partei gesagt, dann müssen wir das auch tun und dann wollen wir das auch tun.
    Müller: Und das wussten wir vorher nicht? Das wussten Sie auch vorher nicht, dass der Bundespräsident das sagen würde?
    Kahrs: Der pflegt nicht, täglich bei mir anzurufen, so sehr ich ihn auch schätze.
    Müller: Sie konnten das auch nicht politisch daraus schließen, dass diese Absage von Martin Schulz, mitzuarbeiten, politisch nicht zu halten ist?
    Kahrs: Erstens ist es keine Absage von Martin Schulz gewesen, sondern des Parteivorstandes, und sogar einstimmig.
    Müller: Also sind alle schuld?
    Kahrs: Das hat mit Schuld doch nichts zu tun. Wir reden über einen Prozess. Nachdem alle wollten, dass die Koalition der Besserverdiener das dann macht, war es doch so, dass wir gesagt haben, dann richten wir uns auf die Opposition ein. Und jetzt ist es so, nachdem die gescheitert sind, muss man doch, bevor man in Neuwahlen geht, gucken, was möglich ist, und das ist ein Prozess. Da kann man über Umfallen reden, da kann man über Leute lästern. Aber wie in jeder Beziehung macht man Kompromisse, und so ist das auch bei uns. Wir schauen uns jetzt an, wie die neue Situation ist, was von der SPD gefordert wird, was wir inhaltlich durchsetzen können, und da geht es nur um Inhalte. Wenn ich die Bürgerversicherung durchsetzen kann und die Rente mit 63 und mehr Europa, dann muss ich doch vor meine Wähler treten können und sagen können, na ja, die Situation ist eine andere, jetzt haben wir die Möglichkeit, viel von dem durchzusetzen, was wir versprochen haben. Und dann, glaube ich, ist die SPD auch in der Lage, dann was zu verhandeln, was sie ihren Mitgliedern vorlegt, die darüber entscheiden, ob sie das wollen oder nicht, weil sonst landen wir in Neuwahlen.
    "Alle wollten diese Koalition der neuen Bürgerlichen"
    Müller: Herr Kahrs, ich verstehe das trotzdem nicht. Sie sagen, jetzt haben wir die Chance, etwas durchzusetzen. Hätten Sie ja auch nach der Bundestagswahl gehabt, wenn Sie von Anfang an gesagt hätten, wir sind mit dabei, wir gucken mal, wir sondieren, mal gucken, was rauskommt.
    Kahrs: Na ja. Ich habe ja eben schon gesagt, gewollt war, dass Grüne, FDP, CDU und CSU das übernehmen. Das war ja nun auch der Grundtenor in Film, Funk und Fernsehen und alle wollten diese Koalition der neuen Bürgerlichen.
    Müller: Das ist Ihnen normalerweise doch egal.
    Kahrs: Ehrlicherweise sollen sie es dann auch probieren. Und nachdem wir alle festgestellt haben, dass T-Shirts in Schwarz-Weiß vielleicht hübsche Werbung sind, aber nicht zum Regieren reichen, ist es so, dass man sich jetzt der Verantwortung stellt und das verhandelt – eins nach dem anderen und immer der Reihe nach.
    Müller: Sind Sie jetzt der Pragmatischste in der Partei? Sind Sie jetzt derjenige, der diesen pragmatischen moderaten Kurs vorgibt?
    Kahrs: Ich gebe überhaupt nichts vor, sondern ich glaube, dass die SPD in den 154 Jahren, die es uns gibt, immer dafür gestanden hat, wenn wieder die Bürgerlichen irgendwas gegen die Wand gesemmelt haben, dass man sich hinstellt und seine Verantwortung übernimmt und das prüft. Und das hängt daran, was die SPD in einer Koalition für die Menschen in diesem Land durchsetzen kann, weil dafür haben uns über zehn Millionen Menschen auch gewählt, dass man bestimmte Dinge durchsetzt. Und wenn man die Chance hat, dann soll man es probieren.
    Müller: Sie sind ja in den 154 Jahren aber auch immer kleiner geworden.
    Kahrs: Ehrlicherweise: Wir sind sehr viel größer gewesen. Wir waren auch schon mal kleiner. Das hat es alles gegeben. Aber die SPD hat immer gestanden, wenn es wichtig wurde, und hier gibt es jetzt die Möglichkeit, die Dinge durchzusetzen, für die die SPD steht. Das habe ich meinen Wählern versprochen und ehrlicherweise haben wir dafür einen Parteitag. Da wird das diskutiert. Und dann wird es vielleicht Verhandlungen geben oder nicht. Ich kann nur jedem raten, man möge mal das tun, was in anderen Ländern immer erst nach Entscheidungen gemacht worden ist: mal googlen, was eine Minderheitsregierung oder eine Tolerierung bedeutet. Und ich würde dafür plädieren, bevor man all dieses tut, erst einmal mit der CDU zu reden und zu gucken, was inhaltlich geht. Und dann kann man immer noch entscheiden, ob man in eine Koalition gehen will oder nicht.
    Müller: Da muss ich jetzt noch mal nachfragen. Das heißt, Sie sind aber in Abwägung dessen, Stand heute, für eine Große Koalition und gegen eine Tolerierung?
    Kahrs: Ich bin Stand heute dafür, mit der CDU zu reden, über Inhalte zu verhandeln. Und wenn wir die Dinge durchsetzen, die wir im Wahlprogramm stehen haben, in großen Teilen, dann kann ich mir vorstellen, dass man in eine Koalition geht, wenn die Mitglieder dies beschließen. Aber erst muss man verhandeln. Das heißt, im Moment bin ich für Verhandlungen.
    "Dass Herr Seehofer das wusste, war auch nicht besonders hilfreich"
    Müller: Sie sind für Verhandlungen. Das sind ja jetzt offenbar alle. Aber Priorität hätte für Sie eine stabile Regierung, so wie wir das in Deutschland gewohnt sind?
    Kahrs: Ich bin immer für eine stabile Regierung, wenn es die Inhalte hergeben. Klar! Denn ich muss ja bei mir am Infostand ob in Billstedt oder in Barmbek das vertreten, was ich da tue.
    Müller: Jetzt haben die Medien und auch die Sozialdemokraten, viele davon jedenfalls so getan, als sei die Welt untergegangen innerhalb dieser Woche, nämlich durch die Glyphosat-Entscheidung in Brüssel, durch Christian Schmidt. Ist das Ganze schon vom Tisch?
    Kahrs: Das ist nicht untergegangen. Aber in einer Koalition kann ich immer noch schauen, wie ich das Thema regele. Ich persönlich finde, der Umgang innerhalb einer Regierung ist ein anderer. Das gehört sich nicht. Wenn sich zwei Minister nicht einig sind, dann wird es eben nicht gemacht. Jetzt ist es halt so, dass Christian Schmidt das gemacht hat, und das wird am Ende dazu führen, dass das einer der Punkte ist, die wir dann auch in Verhandlungen regeln werden, und das kann man dann auch tun.
    Müller: Hat Martin Schulz gestern gesagt: Das ist für ihn die rote Linie. Es gibt kein Glyphosat in Deutschland. Können Sie das ernsthaft aufrecht erhalten?
    Kahrs: Ernsthaft wird das einer der Punkte sein, die wir diskutieren werden, und wenn wir das mit durchsetzen, dann ist es ein Argument mehr, in eine Koalition einzutreten. Dafür verhandeln wir ja.
    Müller: War das klug vom Parteichef, das gestern so zu sagen?
    Kahrs: Die Frage ist, ob es klug war von Christian Schmidt, eine Entscheidung in Brüssel zu treffen, die nicht mit dem Koalitionspartner abgestimmt war und wo er genau wusste, dass wir das anders sehen. Dass wir jetzt natürlich, wenn es zu Gesprächen kommt, alles dafür tun werden, um das für Deutschland rückgängig zu machen, das ist doch ganz natürlich.
    Müller: Aber war es klug von Martin Schulz, dann gestern zu sagen, das ist eine rote Linie?
    Kahrs: Natürlich nach dem, was in den letzten Wochen passiert ist. Das ist eine sachliche Entscheidung und wir haben gesagt, wir lassen uns nicht hinten herum über den Tisch ziehen in dieser geschäftsführenden Regierung. Und wenn Frau Merkel nicht daraus die Konsequenzen zieht, ihren Minister entsprechend anzuweisen, dann ist das so. Dass Herr Seehofer das wusste, war auch nicht besonders hilfreich.
    "Es gibt halt große Unterschiede zwischen CDU/CSU und SPD"
    Müller: Herr Kahrs, jetzt muss ich Sie noch was fragen. Sie sagen, wir sind jetzt offen oder wir sind zumindest offener geworden. Sie haben dazu ja beigetragen. Jetzt werden wir in irgendeiner Form verhandeln oder sondieren und dann wird eine Entscheidung fallen. Wären Sie denn zur Not bereit, wenn Sie das nicht alles durchsetzen, was Sie heute Morgen hier auch skizziert haben, die ganze Sache platzen zu lassen, dann auf Neuwahlen zu gehen?
    Kahrs: Ja, natürlich! Ich glaube, wenn man inhaltlich die Dinge durchsetzt, die man zu einem großen Teil im Wahlprogramm versprochen hat, dann kann man in eine Regierung gehen. Wenn nicht, kann ich in eine Neuwahl gehen, weil ich kann den Menschen dann erklären, warum wir in keine Regierung gegangen sind, weil wir die wesentlichen Punkte, die wir durchsetzen wollen, nicht bekommen haben. Es gibt halt eben große Unterschiede zwischen CDU/CSU und SPD. Da macht man immer Kompromisse. Wir haben beim letzten Mal den Mindestlohn gegen die CDU/CSU durchgesetzt und ärgerlicherweise habe ich der PKW-Maut zugestimmt, weil das war ein Teil des Kompromisses. Jeder gibt, aber am Ende muss man kompromissfähig sein. Wenn aber nicht am Ende ein Paket herauskommt, dem man zustimmen kann, weil nicht mehr Europa dabei ist und weil man nicht die Rente mit 63 oder die Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit bekommt, dann muss man sich fragen, was für einen Sinn das macht.
    Müller: Bei uns heute Morgen im der SPD-Bundestagspolitiker Johannes Kahrs, Chef des konservativen Seeheimer Kreises. Danke, dass Sie wieder für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Kahrs: Immer gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.