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Monika Siedentopf
Verdeckter Widerstand im deutschen Geheimdienst

In ihrem Buch "Unternehmen Seelöwe" beschäftigt sich die Historikerin Monika Siedentopf mit der deutschen Spionage in England zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Nach ihren Recherchen war der Dilettantismus des deutschen Geheimdienstes in Wahrheit eine Form von Widerstand.

Von Moritz Küpper | 11.08.2014
    Es klingt ungeheuerlich, fast unglaublich, doch die Erkenntnis der Historikerin Monika Siedentopf, die mit "Unternehmen Seelöwe" bereits ihr zweites Buch über Agenten-Tätigkeiten im Zweiten Weltkrieg geschrieben hat, ist eindeutig: Der Dilettantismus der deutschen Abwehr war in Wahrheit eine Form von Widerstand. Und das angesichts der Tatsache, dass Fehler im Krieg, erst recht bei der Geheimdienstarbeit, Menschenleben kosten können. Wie war die Situation damals, rund um 1940, dem Zeitraum, in dem das "Unternehmen Seelöwe", also die Invasion Großbritanniens durch die Wehrmacht vorbereitet werden sollte? Mehr als 20 Spione hatte die deutsche Abwehr nach England eingeschleust – alle wurden verhaftet, wie Autorin Siedentopf eher beiläufig rausfand:
    "Dann las ich zufällig ein Buch, dass die Deutschen Spione nach England geschickt haben, die alle gefasst wurden. Und die Engländer sagten: Die Deutschen waren eben ungeschickt und dumm. Und das konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht aus übertriebenem Nationalstolz, aber jeder Geheimdienst weiß ja, was man in solchen Fällen machen muss, worauf man achten muss, damit die Agenten nicht auffallen."
    "Absprung über Feindesland. Agentinnen im Zweiten Weltkrieg", so hieß Siedentopfs erstes Buch zu diesem Thema. Ein kleiner britischer Geheimdienst, der in Europa die Nazis ausspionieren sollte:
    "Nach Frankreich sind 39 Frauen für diesen Geheimdienst geschickt worden. Da hatte ich mich überhaupt mal ernsthaft mit Agententätigkeit und Agentenausbildung befasst und dabei erfahren, wie detailliert und ausführlich die Engländer das gemacht haben. Diese Frauen wurden einer strengen Auswahl unterzogen, mussten natürlich alle französisch fließend beherrschen, akzentfrei und wussten sehr viel über Frankreich, damit sie nicht auffallen. Und die 13, die von den Deutschen gefasst wurden, es ist nicht eine durch Ungeschicklichkeit gefasst worden, sie waren alle verraten worden."
    Im krassen Gegensatz dazu standen eben nun die Spione der Deutschen. Siedentopf zitiert daher auch – zu Beginn ihres zweiten Buches – die Einschätzung von Guy Maynard Lidell, damals Direktor der Spionageabwehrabteilung des britischen Inlandsgeheimdienstes MI 5:
    "Heute Abend sprach ich mit Kenneth Strong vom War Office, der bis zum Kriegsbeginn Assistent unseres Militärattachés in Berlin war. Er hält sehr viel von der Tüchtigkeit der Deutschen und kann einfach nicht glauben, dass ihr Geheimdienst so dumm ist, diese Leute ohne eine richtige Ausbildung und ohne einen ausgeklügelten Plan herüberzuschicken."
    Keine Ausbildung, kein Plan, offenkundig gezielt ausgewählt und entsandt, um rasch zu verbrennen. Auf rund 156 Seiten – ergänzt durch ein Personenregister, Literaturverzeichnis und Anmerkungen sowie Belege – schildert Siedentopf die Geschichte der einzelnen Agenten, um ihre These zu stützen – wie beispielsweise bei der Abwehr-Operation "Lena", Kommando "Hummer Süd":
    "In der Nacht zum 3. September 1940 landete an der Küste der süd-englischen Grafschaft Kent in der Nähe des Leuchtturms von Dungeness ein aufblasbares Beiboot, ein sogenanntes Dingi, mit zwei Männern, dem Deutschen Josef Waldberg und dem Deutsch-Holländer Karl Meier."
    Mit dem Blick für Details rekonstruiert die Autorin die einzelnen Aktionen:
    "Sie führten ein kleines batteriegetriebenes Morsefunkgerät mit sich, das allerdings nur Nachrichten senden, aber keine empfangen konnte, eine Pistole, Geheimtinte, einen Sack Lebensmittel mit Wurst, Fleischkonserven, Schokolade und Zigaretten – alles deutsche Produkte – dazu Landkarten und 60 Pfund Sterling in Fünf-Pfund-Noten."
    Auch der weitere Verlauf wird fast schon detektivisch nachempfunden. Dadurch wird das Buch nicht nur gut lesbar, sondern man kann nachvollziehen, warum die Einsätze scheiterten.
    "Später machte sich Meier, der im Unterschied zu Waldberg recht gut Englisch sprach, zur nächstgelegenen Ortschaft Lydd auf, um etwas zu trinken zu kaufen. Gegen 10 Uhr pochte er an die Tür des Gasthauses "Rising Sun" und verlangte von der Wirtin eine Flasche Apfelwein – offenbar kannte er die englischen Ausschankvorschriften nicht, die den Verkauf von Alkohol am Vormittag untersagten."
    Der weitere Fortgang – der detailliert in den erstmals ausgewerteten britischen Akten nachzulesen war – wundert angesichts dieses Verhaltens nicht:
    "Gerade die Verhaftungen der Spione sind da sehr ausführlich dokumentiert. Bei unterschiedlichen Befragungen durch unterschiedliche britische Abwehroffiziere waren die Details manchmal nicht ganz klar. Ich habe mich darauf beschränkt, was übereinstimmend von allen notiert worden war. Und die Verhöre der Abwehr-Offiziere sind auch sehr genau dokumentiert. Das Problem bei all diesen Akten, die eine Regierung freigibt, sag ich mal generell, ist, dass sie vorher durchgesehen werden."
    Insgesamt sechs Kapitel umfasst das Buch: Neben der Beschreibung der allgemeinen Ausgangslage zur der Zeit, Kurzporträts der Gegenspieler "Amt Ausland", "Abwehrstelle Hamburg", dem MI 5 und MI 6 sowie der bereits geschilderten Versuche der Invasionsspione, porträtiert Siedentopf die Protagonisten und bilanziert zwischendrin:
    "Es genügten einige zum Widerstand entschlossene Männer mit Ideen und Risikobereitschaft und dazu dem unerlässlichen Quäntchen Glück."
    Der Effekt war gering, kein Widerstand konnte Hitler stoppen oder auch den Krieg gegen die Engländer verhindern. Und dennoch sagt Siedentopf ein wenig einnehmend:
    "Meine Abwehroffiziere, die nun diese "Operation Seelöwe" versuchten zu sabotieren. Was ich ihnen besonders hoch anrechne, ist, sie haben es sehr früh gemacht. Der Krieg war ja gerade erst ein Jahr alt, als sie schon beschlossen haben, etwas zu unternehmen."
    "Unternehmen Seelöwe" entführt in die Welt des Zweiten Weltkrieges und der Geheimdienste. Es sind spannende Geschichten, mitunter Einzelschicksale:
    "Es gibt jede Menge Autoren, die könnten daraus einen Thriller machen. Nur ich bin Historikerin, ich kann das leider nicht."
    Dafür – glaubhaft und schlüssig in der Beweisführung – die ganzen Mosaiksteinchen zu einem Gesamtwerk zusammensetzen, das ein – wenn auch zugegeben kleines – aber bislang unentdecktes Kapitel im deutschen Widerstand ist.
    Monika Siedentopf: "Unternehmen Seelöwe. Widerstand im deutschen Geheimdienst"
    Deutscher Taschenbuch Verlag
    192 Seiten, 14,90 Euro
    ISBN: 978-3-423-26029-9