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Monolog an einen Toten

Der Roman des französischen Schriftstellers, Künstlers und Fotografen Édouard Levé ist sein Vermächtnis. Er erhängte sich nach Vollendung seines Manuskriptes, eines sensiblen und kühnen Textes über das, was vom Leben übrig bleibt.

Von Helmut Mörchen | 13.09.2012
    Édouard Levés Roman "Selbstmord" ist ein atemberaubender Text. Auf nur 110 Seiten erzeugt dieses bei Matthes & Seitz eben erschienene Buch einen geradezu unheimlichen Sog. Und das unabhängig von dem Faktum, das sowohl 2008 bei der Originalveröffentlichung in Frankreich als nun auch beim Erscheinen der deutschen Übersetzung dem Leser mitgeteilt werden muss, dass der Autor kurz nach Vollendung des Manuskripts und vor seinem Druck im Alter von 42 Jahren selbst seinem Leben ein Ende gesetzt hatte.

    Texte autobiographisch zu interpretieren, war bis zur Einführung der werkimmanenten Interpretation in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vorherrschende gängige Praxis, die nach zeitweiliger Überstrapazierung strukturalistischer Methoden wenig reflektiert wieder aufgenommen wurde. In Levés Fall empfiehlt es sich jedoch, die Trennung zwischen Autor und Text rigide zu betonen.

    Denn sprachlich und gedanklich ist der Roman des Malers, Fotografen und Schriftstellers Levé eine kühne und kalte Konstruktion. Der Monolog des Ich-Erzählers, gerichtet an seinen toten Freund, der sich mit 25 Jahren das Leben genommen hat, ist mehrfach verschachtelt. In dichter Du-Anrede wird das Leben des Verstorbenen in Erinnerung gerufen. Nach dem Selbstmord eines Sängers während eines Konzertes auf offener Bühne kommt der Freund mit Unbekannten in ein langes Gespräch:

    Ihr habt euch auf die Bänke eines Platzes in der Nähe des Bahnhofs Saint-Lazare gelegt und die Formen der Wolken gedeutet. Um sechs Uhr habt ihr gefrühstückt. Um sieben habt ihr den ersten Zug zurück nach Hause genommen. Als deine Freunde am nächsten Tag wiederholten, was du zu den Unbekannten im Café gesagt hattest, konntest du dich an nichts erinnern. Es war, als hätte ein anderer in dir gesprochen. Du konntest weder deine Worte noch deine Gedanken wiedererkennen, aber du mochtest diese Worte umso mehr. Du hast dir notiert, was man dir erzählte. Vom Text, den du niederschriebst, warst du zweifach der Urheber.
    Dein Selbstmord war das Wichtigste, was du in deinem Leben gesagt hast, aber du wirst die Früchte davon nicht ernten.
    Du bist ein Buch, das zu mir spricht, wenn ich es wünsche. Dein Tod hat die Geschichte deines Lebens geschrieben.


    Der im Stil des "constrained writing" oder auch der "écriture automatique" verfasste Monolog des Ich-Erzählers ist eine Lektüre dieses "Buches", dessen Autor der Tod ist. Fast zwanghaftes Stilprinzip ist die Anapher, die Wiederkehr desselben Wortes zu Beginn aufeinanderfolgender Sätze. Es gibt wohl nur wenige Texte, in denen nicht nur so oft "Du" gesagt wird, sondern in denen die meist kurzen, dicht parataktisch aneinandergereihten Sätze auch mit "Du" beginnen:

    Du hast Tennis, Squash und Pingpong gespielt. Du bist geritten. Du bist geschwommen. Du bist gejoggt. Du bist gesegelt. Du bist durch Städte gelaufen und übers Land gewandert.

    Wie bewusst Levé die Anapher einsetzt, zeigt der Umstieg vom Du-Staccato auf die Kein-Aufreihung nur eine Seite später, als er einen zeitweiligen Verzicht des Freundes auf Sport beschreibt:

    Um die Auswirkungen eines Entzugs zu ermessen, hast du einmal einen Monat lang keinen Sport getrieben. Kein Tennis, kein Ritt, keine Bootstour, kein Schwimmen, kein Lauf, keine Wanderung.

    In der Spannung zwischen manischer Bewegung und mühsam erzwungener Ruhe ist schon für den 20-jährigen Freund der Tod Zentrum des Lebens. In der mündlichen Prüfung zur Aufnahme in eine Elite-Hochschule musste er sich der Frage "Muss man bezweifeln, dass man seinen Tod zu leben hat?" zuwenden. Das chaotisch verlaufende Prüfungsgespräch mündete in das Resümee einer der Prüfer: "Also ist der Tod für das Leben dasselbe wie die Geburt für die Leblosigkeit?" Der Freund blieb stumm in der Gewissheit, durchgefallen zu sein. "Hinter den Tod gekommen zu sein und hinter die Verständnislosigkeit, die ihn begleitete, erschien dir wichtiger als das Ergebnis der Prüfung." Obwohl er diese dann doch bestanden hatte, lehnte er die Aufnahme in die Hochschule ab.

    Levés Einstellung zum Tod ist der von Norbert Elias ähnlich, der in seinem Essay über "Die Einsamkeit der Sterbenden" den Tod entmythologisierte:
    "Der Tod verbirgt kein Geheimnis. Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen. Was von ihm überlebt, ist das, was er anderen Menschen gegeben hat, was in ihrer Erinnerung bleibt." So weit Elias.

    Entsprechend Levé: "Du lebst noch genau so lange, wie jene, die dich kannten. Mit dem letzten von ihnen wirst du sterben."

    Was so trivial klingt, fasst Levé in seinem Monolog in anrührende Bilder.
    Etwa im Blick auf einen Pariser Geschäftsmann, der den toten Freund wegen eines Ticks fasziniert habe:

    Sein zwanghaftes Hobby bestand darin, seine alltägliche Existenz zu dokumentieren. Er bewahrte Briefe auf und Einladungskarten, Zug-, Bus- und U-Bahnfahrkarten, Tickets von Flug- oder Schiffsreisen, seine Verträge, Hotelrechnungen, Speisekarten von Restaurants, Prospekte von Tourismusattraktionen aus Ländern, die er bereist hatte, Theaterprogramme, Notizbücher, Tagebücher, Fotos … Ein Zimmer seiner Wohnung, dessen Wände vollständig mit Ordnern zugestellt waren, diente als Sammelstelle seiner ständig wachsenden Archive.

    Levés Bericht mit den vielen mosaikartig verknüpften Geschichten archiviert das Leben und Sterben des Freundes. Auch ein kleiner, fast essayistischer Einschub zum literarischen Leben thematisiert das Bewahren. Der tote Freund habe lieber in der Buchhandlung stehend die Literatur von heute entdeckt als sich im Lesesaal einer Bibliothek sitzend in tote Klassiker zu vertiefen. Andererseits hätten ihn aber auch die Toten mehr als die Zeitgenossen interessiert. "Lebende Tote", also "gestorbene Schriftsteller, die noch immer veröffentlicht werden", seien ihm manchmal besonders lieb gewesen. Im Blick auf die "Vergegenwärtigung des Wissens von gestern" hätte er den Verlegern vertraut:

    Du meintest, die Zeit erledige die Auslese, und dementsprechend solle man eher Autoren der Vergangenheit lesen, die heute verlegt werden, als Autoren von heute, die morgen vergessen sein werden.

    Dass Levé gelegentlich zur Erholung der Leser auch mal abschweift, zeigt die der Gegenüberstellung von Buchhandlung und Bibliothek unmittelbar folgende Alltagsbeobachtung, bei der sich vermutlich viele Leser des Buches erkannt fühlen.

    In der Stadt gab es zwei Buchhandlungen. Die kleine war besser als die große, aber in der großen war es eher möglich zu lesen, ohne sich zum Kauf genötigt zu fühlen. Es gab mehrere Verkäufer und mehrere Räume, keiner lauerte den Kunden auf. In der kleinen spürtest du den Blick des Buchhändlers auf dir. Dort gingst du nicht hin, um Bücher zu entdecken, sondern um die zu kaufen, die du bereits ausgewählt hattest.

    Alles, was der Ich-Erzähler an Erinnerungen zusammenträgt, hält den Freund am Leben, ohne dem Motiv zum Selbstmord auf die Spur zu kommen. Wie sinnlos eine solche Suche ist, illustriert Levé mit dem Comic, der aufgeschlagen neben dem Toten durch eine Achtlosigkeit herunterfiel.
    Der Versuch des Vaters, das Rätsel durch monomanisch wiederholte Lektüren des ganzen Comics zu lösen, musste scheitern.

    Wohl zwangsläufig, wie der Ich-Erzähler resümiert. "Du bist der Eigentümer des Selbstmords" ist das Fazit dieses leisen, traurigen, aber letztlich nicht bedrückenden Romans. Denn schließlich dürfen wir den Satz "Dein Selbstmord intensiviert das Leben derer, die dich überlebt haben", als ermutigenden Gruß Levés an uns Leser verstehen.

    Édouard Levé: Selbstmord.
    Aus dem Französischen von Claudia Hamm
    Matthes & Seitz, Berlin 2012. 110 Seiten, 17,90 Euro