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Monotone Innenansichten eines Konflikts

Der US-Amerikaner Jonanthan Littell hat sich im Januar diesen Jahres nach Syrien einschleusen lassen. Dort wurde er Zeuge des Aufstands in Homs gegen das Regime Assad. In seinen "Notizen aus Homs" bleiben jedoch zu viele gesichtslose Schatten.

Von Marc Thörner | 27.08.2012
    Wer die arabische Revolution anhand ihrer aneinandergereihten Kurzvideos verfolgen würde, sähe immer wieder folgenden Ablauf: Zunächst demonstrieren Menschen, dann schießen Sicherheitskräfte und lassen Panzer rollen, in bestimmten Staaten wie Libyen und Syrien tauchen dann Gruppen junger Männer mit Gewehren auf, dann Gruppen junger Männer mit Gewehren und Panzerfäusten, dann Gruppen junger Männer, die selber auf Panzern sitzen.

    "Die Schüsse gehen wieder los, heftiger und intensiver denn je."

    ...schreibt Jonathan Littell in seinem neuen Buch "Notizen aus Homs".

    "Mehrere Detonationen, eine nach der anderen. Krach wie bei einem Feuerwerk. Die Schüsse dauern an. Langes heftiges Gehämmer. Abu Adnan sagt uns, dass das die FSA (die Freie Syrische Armee) ist, die die Polizeipräfektur angreift."

    Der franko-amerikanische Reporter ließ sich im Januar 2012 in die syrische Rebellenhochburg einschleusen. Sein Bericht ist eines der wenigen Bücher über die syrische Revolution; und es ist anscheinend das erste Buch eines Kriegsreporters, das sich am Stil von YouTube orientiert. Die Abfolge von Szenen, die Littell aneinanderreiht, erinnert an jene Videoschnipsel, wie sie Rebellen ins Internet hochladen.

    Es geht durch Kellerverstecke, improvisierte Krankenhäuser, vorbei an Straßenecken und über Dächer; wir lesen Berichte von Misshandlungen und viele Namen.

    "Ein Junge gesellt sich zu uns, Mohammed, der Bruder von Omars Verlobter. Er ist 14. Sein Bruder Ijad, 24 Jahre alt, er wurde letzte Woche getötet. Drei Kugeln: Er zeigt uns die Stellen, Rippen, Schulter und Bein. Er ging mit seiner Familie in der Nähe des Friedhofs, die Armee rückte vor, um ins Viertel einzumarschieren und fing an zu schießen. Mohammed war auch dort, mit seinen Eltern und seiner Schwester. Ein Freund von Ijad wurde auch verwundet."

    Die Situationen sind bedrohlich. Ungeheuerliches spielt sich ab: Gemeinschaften, die jahrhundertelang miteinander gelebt haben, werden zu Feinden, Nachbarn schießen auf Nachbarn. Kinder werden systematisch hingemetzelt. Was könnte schlimmer sein. Doch nach ein paar Dutzend Seiten tritt ein Effekt ein, der geradezu pervers erscheint. Die Fülle an Namen und die einander gleichenden kleinen Szenen führen nicht dazu, dass der Leser mitfühlt, mitlebt, mitleidet. Achmed, Mohammed, Raschid wechseln einander ab wie gesichtslose Schatten. Persönlichkeiten wollen sich nicht herauskristallisieren. Man wünscht sich mit jeder Seite, den Menschen näher zu kommen, aber man entfernt sich mit jeder Seite mehr von ihnen. Das Bewusstsein kann der Dramatik dessen, was passiert, nicht folgen und die Aufmerksamkeit ermüdet langsam angesichts des monotonen Stils, in dem die Notizen abgefasst sind – kein Stil genaugenommen, sondern eher Aufzählungen nach dem immer gleichen Muster - Seiten über Seiten über Seiten.

    "Dies ist ein Dokument, kein literarisches Werk."

    ...so Littell über sein Buch.

    "Was die Veröffentlichung dieser Hefte rechtfertigt, ist die Tatsache, dass sie Bericht erstatten über einen Moment, der quasi ohne Zeugen von außen stattgefunden hat."

    Der Mehrwert läge demnach darin, dass ein westlicher Beobachter die haarsträubenden Menschenrechtsverletzungen bestätigt, wie sie die Aufständischen in Syrien selbst dokumentieren. Das ist nicht wenig, es ist aber weniger, als Journalisten dies zu allen Zeiten auf vielen Kriegsschauplätzen getan haben. Journalisten sind Beobachter, aber sie sind keine Berichterstatter für Menschenrechtsorganisationen, die auf einer der kriegsführenden Seiten Namen, Zahlen und Ereignisse zusammentragen. Zieht man andere Kriegsberichte heran, sticht der Kontrast besonders ins Auge. Etwa, um nur ein Beispiel zu nennen: die Reportagen, wie sie die italienische Autorin Oriana Fallaci in den 1960er und 1970er-Jahren über Vietnam verfasst hat. Sie ist ebenfalls mit einer der Konfliktparteien unterwegs; schiebt aber immer wieder kurze Reflexionen ein, nimmt ihre, in diesem Fall US-amerikanischen Begleiter über den Kriegsschauplatz unter die Lupe und deren Argumentation, die damals lautete:

    "Fällt Vietnam, dann fällt auch Laos, Kambodscha, Thailand, Indonesien." Das bekannte Lied. Ich hatte es schon so oft gehört. Zum ersten Mal vor vielen Jahren. Auf Französisch."

    Ein bisschen Abstand à la Fallaci täte Jonathan Littell gut, die Andeutung eines Kontrapunkts, denn ein paar Fragen drängen sich ja beim Verlauf der Arabellion geradezu auf: Wer finanziert die Aufständischen, wer vermittelt ihnen Waffen, wer leitet sie an, wann wird eine Gruppe zur Miliz, inwieweit lassen sich Strukturen von einem Land, zum Beispiel Libyen aufs andere, Syrien übertragen und last not least: Wieso wird die Revolution in einem Teil der arabischen Länder, in Saudi Arabien oder Bahrain in einem frühen Stadium zusammenkartätscht - während die Unterdrückten anderer Staaten weiterkämpfen bis zum Bürgerkrieg. Diese Fragen sind nicht akademisch, sie rühren an den Kern der Arabellion, an die Frage: Wofür kämpfen und sterben eigentlich diese jungen Männer und mit ihnen die vielen Zivilisten; für die Freiheit oder doch für etwas anderes. Angesichts der zahlreichen Amateurfilme, die sich allmählich anhäufen und die sämtliche Kriegsschauplätze einander ähnlich werden lassen, sind Profis wie Littell dringend gefragt. Analytiker, die in der Mitte des Geschehens sind und aufgrund ihrer Erfahrungen solche Stereotype nicht schlicht wiedergeben und damit wiederholen, sondern sie auflösen.

    Das ist der große Vorteil von Reportagebüchern gegenüber den elektronischen Medien. Bücher können einen ungeheuren Resonanzboden schaffen; einen Hintergrund vermitteln, vor dem ein Schuss nicht einfach nur ein Knall ist, sondern erschüttert und erschauern lässt. Das ist eine große Chance. Und diese Chance sollte nicht vergeben werden. Schon gar nicht um den Preis, schnell zu erscheinen. Denn wie rasch etwas veröffentlicht wird beziehungsweise wurde, dürfte schon in wenigen Monaten niemanden mehr interessieren, wenn es um die Frage geht: Wie konnte das alles passieren.

    Urteilt Marc Thörner über Jonathan Littell: "Notizen aus Homs", beim Hanser Verlag erschienen, das Buch füllt 240 Seiten und ist für 18,90 Euro zu haben."