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Montmartre
Das Viertel der Bohème

Einst war Montmartre ein verruchtes Viertel am Rande von Paris, gehörte noch nicht einmal offiziell zur Stadt. Dann wurde es zum Künstlerviertel und zum Mythos, heute ist das Viertel eines der wertvollsten Schmuckstücke der Stadt.

Von Annika Erichsen | 11.05.2014
    Blick auf Sacré-Coeœur de Montmartre am Donnerstag (23.06.2011) im französischen Paris.
    Paris - Blick auf Sacré-Coeœur de Montmartre (Friso Gentsch / dpa)
    "Steig den Berg hinauf", singt Sophie Mansard und meint damit den Hügel von Montmartre. Mit seinen 130 Metern ist er die höchste natürliche Erhebung der Stadt. Und einer der größten Touristenmagnete. Dabei hatte das Viertel lange einen mehr als zweifelhaften Ruf und gehörte bis 1860 noch nicht einmal offiziell zu Paris. Wie kam es, dass aus einem verrufenen Vorort eines der wertvollsten Schmuckstücke der Stadt wurde?
    Eine Antwort hat der Schriftsteller und Fremdenführer Jean-Manuel Gabert. Er kennt die Geschichte Montmartres wie seine Westentasche - auch wenn er mehr der Typ langer dunkler Mantel, Hut und Brille ist. Er wartet auf uns an der Place Pigalle, einer der Außenlinien des Viertels.
    "Paris wurde im Laufe der Jahre immer größer. Drei Jahre vor der Revolution wurde eine Stadtmauer errichtet mit Zollämtern. Und natürlich mussten Steuern gezahlt werden. Das hatte zur Folge, dass alle Cafés und Tanzlokale innerhalb der Stadtmauern viel teurer waren als die, auf der anderen Seite der Mauer, die keine Steuern zahlen mussten. Und so entstanden entlang der Mauer auf der Seite von Montmartre lauter Kabaretts und Amüsierstuben."
    "Montmartre war zu der Zeit noch ein Elendsviertel mit bitterarmen Arbeitern und Ganoven, die dort ihren Unterschlupf hatten. Es gab auch mehrere Künstler, die das Quartier Latin, das Studentenviertel, verlassen hatten, weil die Mieten dort immer teurer wurden. Sie kamen also nach Montmartre, weil die Mieten dort sehr viel billiger waren."
    Auch Michela Niccolai hat sich ausgiebig mit der Vergangenheit Montmartres beschäftigt. Die dunkelhaarige Italienerin mit den wilden Locken kam als Studentin nach Montmartre, weil sie sich mit dem Leben des französischen Komponisten Gustave Charpentier beschäftigte, der ab Ende des 19. Jahrhunderts hier lebte. Damals gehörte der ehemalige Vorort zwar schon zu Paris, aber er unterschied sich nach wie vor gravierend von der Stadt.
    Im 18. Jahrhundert gab es hier 13 Windmühlen
    "Montmartre hatte wahrhaft rustikale Eigenschaften und eine Stimmung wie auf dem Land. Im 18. Jahrhundert gab es hier 13 Windmühlen, die Paris mit Mehl versorgten. Davon sind heute noch zwei übrig, nicht wie das Moulin Rouge, sondern echte Mühlen, von denen eine in die Kunstgeschichte eingegangen ist."
    Le Bal au Moulin de la Galette ist eines der berühmtesten Gemälde des Impressionisten Pierre-Auguste Renoir. Es zeigt festlich gekleidete, im Sonnenlicht tanzende Menschen.
    "Neben den Windmühlen gab es mehrere Orte, an denen gefeiert wurde. Die Pariser Bourgeoisie pflegte sich hier sonntags unters gemeine Volk zu mischen."
    Montmartre hatte seine ganz eigene Stimmung und Mentalität und bewahrte diese auch mit der Eingemeindung 1860.
    "Wir stehen vor dem berühmten Wasserbecken der Place Pigalle mit dem kleinen Springbrunnen, den Georges Ulmer in seinem Lied erwähnt. Nach der Eingemeindung wird der Platz neu gestaltet und zu einer Art Symbol, um das herum sich das künstlerische Leben entfaltet. Um 1870 versammelt sich hier die Künstlergeneration, die die Kunstgeschichte revolutionieren wird: die Impressionisten."
    Blick ins Pariser Viertel Montmartre
    Blick ins Pariser Viertel Montmartre (AP Archiv)
    "Viele Leute haben Bilder aus den 30er Jahren vor Augen, mit Prostituierten an jeder Straßenecke. Die Korsen haben damals die Kabaretts übernommen und Prostitution und Drogenhandel eingeführt. Aber die Frauen und Männer, die man in Wirklichkeit auf den Bildern des Platzes sieht, waren Künstlermodelle. Man nannte den Platz auch den Modellmarkt. Man konnte hier alte Männer mit weißem Bart finden, die als Zeus posierten, es gab Apollos und prachtvolle Venusmodelle. Das waren vor allem italienische Einwanderer und Einwanderinnen mit dem passenden Aussehen."
    Die Boheme entstand erst mit dem Impressionismus
    "Ihre Kunden waren vor allem die wohlhabenden Künstler aus den Nachbarvierteln. Montmartre selbst bestand damals noch aus einfachsten Hütten, in denen sich die erfolgreichen Künstler niemals niedergelassen hätten. Die Boheme entstand erst mit dem Impressionismus und allem, was danach folgte."
    Die Impressionisten wurden in der Anfangszeit von den etablierten Kunstsalons vollkommen abgelehnt und hatten infolgedessen kaum Geld zum Leben. Der französische Chansonnier Charles Aznavour verklärt in seinem Lied "La Boheme" das Leben eines armen Künstlers und eines Nacktmodells. Und in der Tat schlugen sich damals einige Frauen als Modell oder Tänzerin durch. Die größte Gruppe der Frauen in Montmartre waren allerdings die Näherinnen.
    "Die Frauen wurden die Montmartroises genannt und waren wirklich eine Kategorie für sich. Viele von ihnen arbeiteten für das Modehaus Le Printemps, das sich auch heute noch neben der alten Pariser Oper befindet. Jeden Tag liefen sie also über den ganzen Hügel bis in die Stadt hinab. Sie liefen immer zu zweit, Arm in Arm, mit einem Lied auf den Lippen, begleitet vom Klappern ihrer Absätze."
    Aus einer dieser kleinen Näherinnen wird später die bekannteste französische Sängerin ihrer Zeit: Yvette Guilbert. Sigmund Freud entdeckt sie 1890 auf einer Studienreise in Paris und wird einer ihrer lebenslangen Anhänger. Die Wahl ihrer Themen ist für die damalige Zeit ein Tabubruch: Sexualität, Alkoholismus, Einsamkeit. Auch ihr Vorbild Aristide Bruant singt über den Alltag der kleinen Leute, über das Leben auf der Straße und prägt damit eine neue Liedform – die Chanson Réaliste, die das französische Liedgut bis heute beeinflusst.
    Sein Konterfrei mit schwarzem Umhang, rotem Schal und Hut mit breiter Krempe, einst festgehalten von seinem Freund Henri de Toulouse-Lautrec, steht bis heute sinnbildlich für Montmartre. Um die Metrostation Abesses herum, erinnern mehrere Bars und Restaurants an ihn, auch eine Straße ist hier nach ihm benannt.
    "Vor zwanzig Jahren war das Viertel Les Abesses noch in derselben Stimmung wie um 1900. Als wäre die Zeit stehengeblieben. Handkarren mit Gemüse, Tante Emma Läden, einfache Leute, genau wie Max Jacob es 1900 beschreibt, wie er morgens die Krämer in der Straße rufen hört, sodass es zwischen den Häusern widerhallt. Oder auch die Messerschleifer. All diese volkstümlichen Berufe und der einfache Charakter waren noch da, bevor der Trubel losging."
    Wie die Gassen in Montmartre früher ausgesehen haben
    Inzwischen gehört Les Abesses zu den absoluten In-Vierteln und teuersten Ecken der Stadt. Nicht zuletzt seit hier der Film "Die fabelhafte Welt der Amélie" gedreht wurde. Aber es gibt immer noch der Kunst vorbehaltene Orte in Montmartre. Man muss sie nur finden.
    "Wir stehen hier auf dem Gelände eines ehemaligen Bauernhofs mit einem großen verwilderten Garten. Heute sind in den Gebäuden Künstlerateliers untergebracht. Es ist so eine Art Villa Medici wie in Rom, nur weniger glamourös. Die Stimmung ist eher ländlich, nicht pariserisch, eben wirklich montmartrois. Das Ganze hier ist wirklich noch in einem Zustand geblieben, bevor der moderne Urbanismus Paris erreicht hatte."
    Die sogenannte Cité des Arts, die Stadt der Künste, ist eine städtische Künstlerresidenz, die sich hinter einer Mauer verbirgt. Die einfachen Behausungen stehen mitten in wild wuchernder Natur. Obwohl wir nur wenige hundert Meter vom Touristenrummel entfernt sind, ist der Raum so geschützt, dass sich viele Vögel hier ihren Nistplatz suchen. Und auf den Trampelpfaden muss man aufpassen nicht auszurutschen, denn natürlich liegt auch hier alles am Hang.
    "Die kleinen, rutschigen Trampelpfade geben eine Idee davon, wie die Straßen und kleinen Gassen in Montmartre früher ausgesehen haben."
    - "Hallo Alain. Wie geht’s?"
    - "Gut, und Dir?"
    - "Das ist Alain Letoct, der hier seit - ja seit wie vielen Jahren lebst Du hier eigentlich?"
    - "Seit 20 Jahren."
    Alain Letoct schließt uns die Tür seines kleinen Ateliers auf. Man sieht, dass es aus einer anderen Zeit stammt, alles ist noch aus Holz. Er streift seinen kuttenartigen Mantel ab, der ihm zusammen mit dem grau-weißem Haar etwas mönchhaftes verleiht. Alain ist in Montmartre geboren und aufgewachsen, er erinnert sich gerne an alte Zeiten zurück:
    Eine Frau betrachtet am in der Schirn Schirnkunsthalle in Frankfurt am Main Werke der Ausstellung "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900"
    Das Bild von der Boheme lebt in der Kunst weiter. (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Im Bateau Lavoir wohnte auch Pablo Picasso
    "Wir ärgerten die Hausmeister. Wir fuhren mit selbst gebauten Seifenkisten den Hang hinunter und das machte einen Riesenlärm. Damals gab es noch keine Plastikrollen, sondern die Rollfüße waren aus Eisen. Und die Hausmeister kamen mit einem Riesengeschrei herausgerannt. Es wurden auch Banden gegründet und wir bekämpften uns untereinander mit Kohlebriketts. Ich weiß noch, dass meine Mutter einmal vor lauter Schreck in die Apotheke über dem Bateau Lavoir lief - dort bin ich geboren, neben dem Bateau Lavoir. Waren Sie schon dort?"
    "Wir stehen nun auf dem kleinen Platz vor dem berühmten Bateau Lavoir. Man hört die Glocken läuten, als wären wir auf dem Land. Der Platz ist klein, mit ein paar Bäumen und Bänken und einem kleinen Springbrunnen. Und vor uns dieser kleinen Holzkasten."
    Bateau Lavoir heißt übersetzt Waschboot, obwohl es sich um eine Holzbaracke handelt. Es wurde so getauft, wegen seiner Ähnlichkeit mit den Waschbooten auf der Seine. Denn das vermeintliche Erdgeschoss ist von hinten gesehen ein 5. Stock, das Gebäude ist nach hinten abschüssig an den Hang gebaut. Um die Jahrhundertwende herum lebten hier lauter damals unbekannte junge Maler: Amadeo Modigliani, Kees van Dongen, Juan Gris und: Pablo Picasso.
    "Im Winter war es hier bitterkalt, die Dielen waren undicht, die Tapete zerfiel in Fetzen, und im Sommer kam man vor Hitze fast um. Aber - Van Dongen zum Beispiel lebte am Ende seiner Karriere in Monte Carlo - und wie nennt er seine atemberaubende Villa mit Blick aufs Meer? - Le Bateau Lavoir! Diese Gemeinschaft, die Freiheit, die Unbekümmertheit. Sie gingen zum Zeichnen in den Zirkus Medrano, das war nicht teuer. Und abends amüsierten sie sich im Lapin Agile. Dieser übersprudelnde Erfindungsreichtum, die Jugend, die sie damals hatten, löste bei allen eine Nostalgie aus, die sie nie wieder verließ."
    "Sie haben soeben den Lapin Agile betreten. Bravo. Jetzt werde ich Ihnen das Haus zeigen, es ist nicht groß. Gebaut wurde es um 1810/1820 herum. Und seit 1860 ist es ein Kabarett. Wir müssen nur fünf Stufen hinauf und schon sind wir dort, wo gesungen wird. Alte Holztische und Stühle stehen hier herum, es sind noch dieselben wir damals. Und natürlich ein Klavier. Und hier singen wir und bringen alle zum Singen. Aber ohne Mikrofon, ohne Scheinwerfer, ohne Lasershow - alles ganz natürlich."
    "Das ist der Sonnenuntergang über der Adria."
    Der Lapin Agile hat keine Bühne. Die Sänger sitzen wie auch das Publikum um einen der großen Holztische herum. Yves Mathieu, der Leiter des Kabaretts singt auch mit seinen 85 Jahren noch mit, genau wie seine Frau und sein Sohn. Bei seinem Vorvorgänger Frédé versammelten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Maler, Dichter und Schauspieler. Apollinaire rezitierte hier seine Verse, Picasso malte sich an der Bar als Harlekin. Der Lapin Agile war damals eine wahrhafte Künstlerinstitution. Und Frédé, auch Vater Frédé genannt, war für jeden Spaß zu haben.
    "Roland Dorgeles war ein großer Schriftsteller. Und er war gegen die abstrakte Malerei, die zu dieser Zeit aufkam. Frédé hatte einen Esel, der im Garten wohnte, und das brachte Dorgeles auf eine Idee. Er holte einen Gerichtsbeamten und beauftragte ihn, genau aufzuschreiben, was er sah. Dann befestigten sie einen Pinsel am Schwanz des Esels und hielten eine weiße Leinwand dahinter. Sie tauchten den Pinsel von Zeit zu Zeit in Farbtöpfte mit verschiedenen Farben und gaben dem Esel Gemüse zu essen und Tabak, den mochte er besonders gerne. Der Esel kaute und fing an, immer stärker mit seinem Schwanz zu wedeln und so entstand mit der Zeit ein farbenfrohes Gemälde. Als der Gerichtsbeamte fragte, was das nun sein solle, sagte Dorgeles: "Das ist der Sonnenuntergang über der Adria."
    Dann stellte er das Bild bei einer großen Ausstellung 1910 aus, wo viele Kritiker hinkamen. Signiert hatte er mit Boronali - das ist das Anagramm von Ali Boron, so nannte La Fontaine in seinen Fabeln immer den Esel. Ein paar Tage später veröffentlichte Dorgeles den Bericht des Gesichtsbeamten in der Zeitung und Picasso, die abstrakten Maler und die Kubisten waren mächtig sauer. Das war der größte Kunstscherz des 20. Jahrhunderts."
    Aber eines hatten Picasso, Dorgeles und die restlichen Künstler Montmartres doch gemeinsam - die Nostalgie der Bohème, der Zeit, die sie als junge, arme Künstler in Montmartre verbracht hatten.