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Moral spielt keine Rolle

Bis zu 30 Prozent Marktanteil haben die sogenannten Scripted Realitys im deutschen Privatfernsehen jeden Nachmittag. Es geht um Intrigen, Schulschwänzer und kaufsüchtige, verzweifelte Hausfrauen. Eine Berliner Casting-Agentur macht sich den Boom zunutze und versorgt die Reality-Formate Fernsehdeutschlands mit neuen Gesichtern.

Von Johannes Nichelmann | 14.07.2012
    "Komparsen und Kleindarsteller kriegst Du viel eher, als echte Geschichten. Wer stellt sich schon hin und sagt: "Hallo, ich schlage meine Kinder. Ich bin Hure, ich bin Drogenhändler, oder, oder, oder."

    Imke Arntjen, 48 Jahre alt, ist Chefin der Casting-Agentur "030-Casting Berlin". Sie versorgt die Reality-Formate Fernsehdeutschlands mit neuen Gesichtern. In einem kleinen Haus am Stadtrand von Berlin sitzen sie und ihre beiden Mitarbeiter am Computer - vermitteln zwischen Willigen und Fernsehmachern.

    "Die nehmen natürlich nur Casting-Firmen für die schwierigen Fälle. Die Redakteure müssen ja auch bezahlt werden. Das heißt, wir haben nur die perversen, extremen, schwierigen Fälle. Wir haben 11.300 Leute ungefähr bei uns in der Kartei. Jeden Tag kommen fünf bis acht Leute dazu."

    Gerade hat sie eine junge Frau an den Sender gebracht. Sie soll für einen Dreh mit der versteckten Kamera den Lockvogel mimen. Arntjen hat ihre blonden Haare streng nach hinten gekämmt, krault eine Katze, die auf ihren Schoß springt. Nach einem kurzen Blick auf ihr E-Mail-Programm erzählt sie, was sie in der Diskussion wütend macht. In der Medienwelt prangern viele an, dass die gescripteten Handlungen nicht immer als solche zu erkennen sind. Die Zuschauer würden hinters Licht geführt.

    "ARD, ZDF sagen ja ‚Oh, wie böse, böse, böse!’ Aber im Endeffekt gucken sie sehr neidisch auf RTL mit ihren dreißig Prozent Quote und man muss sich ja eher mal fragen, wie kommt es? Also da sind sie immer alle Nutten und alles ist so konstruiert. Aber woran liegt denn das? Will denn der Zuschauer vielleicht konstruierte Wirklichkeit?"

    "Ich habe nicht gesagt, dass du dick bist. Jemand anders hat gesagt, du bist dick."
    "Is egal! Wollt mich nur mal so vorstellen, wa!"
    "Du bist ´ne weibliche Person. Aber 36 ist es nicht. 38!?"

    Eine andere Frage ist, wer will da mitmachen? Heute werden für einen Privatsender echte Polizisten für unechte Fällen gesucht. Sabine, Anfang 30, ist bei der Berliner Polizei und inzwischen fast schon ein Profi vor der Kamera. Beinahe jede Woche dreht sie irgendwas, arbeitet dafür sogar Teilzeit.

    J"a, ich bin oft im TV. Da sind die Meinungen etwas unterschiedlich. Die einen sagen ‚He! Dafür hat sie Zeit! Und arbeitet hier Teilzeit.’ Ich sag immer immer, jedem steht der Weg hier offen. Jeder kann sich bewerben, jeder kann sich in Agenturen eintragen lassen. Ich bin halt schon seit vielen Jahren auch bei 030."

    "Nicht so Berlinern gleich, ne!"
    "Ja, ich geb mir Mühe! Aber ich habs halt so drinne."
    "Ne, ne, ne. Und was wir machen sollten, wir sollten die Haare ´nen bisschen abschneiden."
    "Jetzt?"
    "Und vielleicht ´nen bisschen Schminke."

    Statt der Schere zückt Arntjen ihre Haarklammer und gibt sie Sabine. Die steckt ihre Frisur zurecht, zieht den Lippenstift nach.

    "Ich komme! So, dann drücken wa die Daumen, wa?"
    "Hab schon viel über Dich gehört! Wir machen es jetzt so ..."

    Arntjen schließt die Tür und erzählt, was die Sender genau für Dinge suchen. Umziehgeschichten, Dick- und Dünngeschichten oder Eifersuchtsdramen. Die Liste ist lang.

    "Teeniemütter suche ich unbedingt! Also falls hier Teeniemütter sind, die fünfzehn sind und schon ein Kind haben. Das wäre super. Das suche ich zum Beispiel unbedingt!"

    Die sollten aber bitte keine türkischen oder arabischen Wurzeln haben. Das geht gar nicht, meint sie. Migranten würden kaum stattfinden.

    "Asiaten sind immer gesucht. Ich weiß zwar auch nicht warum, aber Asiaten haben das Image, dass sie toll sind, dass sie klasse sind, dass sie sympathisch sind. Und weil sie wahrscheinlich auch eine große Zielgruppe sind."

    Mitleid hat die Casting-Frau nicht, wenn sie ihre Karteimitglieder an die Sender verkauft. Inzwischen müsste jeder wissen, was ihm blüht. Das Zeug läuft doch den ganzen Tag rauf und runter. Arntjen zuckt mit den Schultern.

    "Das Publikum bekommt das, was es verdient und die Leute, die in vielen Dingen sind auch. Also wir sind halt in Rom angekommen. Brot und Spiele. Das hat mit Moral nicht unbedingt zu tun. Wir müssen ja auch sehen: Realität. Fernsehen ist nicht Realität."