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"Moral statt Medaillen"

Die Mauer war noch nicht lange gefallen, da entdeckten auch schon die zahlreichen DDR-Sportler die Bundesrepublik für sich. Den Start für die Abwanderungswelle machte die Handballerin Katja Kittler.

Von Jens Weinreich | 27.12.2009
    17. November 1989

    Die Abwanderungswelle von aktiven DDR-Sportlern beginnt. Die Rostocker Handball-Nationalspielerin Katja Kittler geht in den Westen – wenige Tage bevor sich die Verbände und die Sportführungen verständigen. Kurios: Kittler ist deshalb für eine Nationalmannschaft gesperrt, darf erst später wieder spielen und wird dann die einzige Frau, die in drei Nationalmannschaften aktiv war: Für den DHV-Ost, für den DHB-West und für die gesamtdeutsche Auswahl.

    In den folgenden Wochen verlassen etliche prominente Sportler das Land – auch Ehemalige wie die Schwimm-Stars Kornelia Ender und Roland Matthes.


    18. November 1989

    IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch sagt: Die Zeit für Olympische Spiele in beiden Teilen Berlins sei noch nicht gekommen. Dennoch wird die Olympiabewerbung der Stadt vorangetrieben.


    19. November 1989

    Eine Gesprächsrunde im Jugendradio DT 64 sorgt für Aufsehen. Die Olympiasieger Uwe Ampler und Christian Schenk legen ihre Einkommen offen. Für eine Goldmedaille gab es 1988 in Seoul 35.000 Ost-Mark und 6000 Mark in Forum-Schecks. Ampler erklärt, die Tour de France fahren zu wollen. DTSB-Vizepräsident Jochen Grünwald berichtet über zahlreiche Angebote aus verschiedenen Bundesligen für DDR-Sportler. Beispiel Handball: DDR-Nationalspieler erhalten in ihren Klubs rund 1300 Ost-Mark – die Bundesliga lockt mit 12.000 West-Mark pro Monat.


    21. November 1989

    Historische Momentaufnahme: Beim Handball-Supercup tritt die DDR-Auswahl erstmals mit Trikotwerbung auf: Das Team wirbt für "Kaufhof".


    25. November 1989

    Bundeskanzler Helmut Kohl sagt die volle Unterstützung für den Sportverkehr zwischen beiden deutschen Staaten zu. Auf lokaler Ebene finden bereits Hunderte Treffen statt. Die Kalendergespräche zwischen Ost und West sind längst ausgesetzt. Besonders in den Grenzgebieten finden Sportler an der Basis zusammen.


    27. November 1989

    DTSB-Präsident Klaus Eichler kritisiert im Deutschlandfunk die Sportpolitik seines Vorgängers Manfred Ewald – besonders die katastrophale Sportstättensituation im Breitensport und die unzureichende Förderung einiger olympischer Sportarten, die im Leistungssportbeschluss Ende der sechziger Jahre aussortiert worden sind.


    28. November 1989

    Helmut Kohl stellt seinen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit vor. Auf den großen Demos fordern immer mehr Ostdeutsche das "einig Vaterland".Das Präsidium des DDR-Boxverbandes lehnt offiziell den Profisport ab – kurz darauf erklärt Amateur-Weltmeister und Olympiasieger Henry Maske, Profi werden zu wollen.


    29./30. November 1989

    Auf der Tagung des DTSB-Bundesvorstandes in der Sportschule Kienbaum bleiben Journalisten ausgeschlossen. Klaus Eichler wird ohne Gegenstimme als Präsident bestätigt.


    3. Dezember 1989

    Zentralkomitee und Politbüro der SED treten zurück. Die ersten führenden Parteifunktionäre sind verhaftet. Tags darauf verschaffen sich Vertreter des Bürgerkomitees Zugang zur Leipziger Stasi-Zentrale, wo seit Monaten Akten vernichtet werden.


    6. Dezember 1989

    Der langjährige SED-Sportchef Egon Krenz tritt als Staatsratsvorsitzender zurück. In den meisten DDR-Sportverbänden finden außerordentliche Konferenzen statt. Viele bekennen sich zur gleichberechtigten Förderung von Spitzen- und Breitensport.


    7. Dezember 1989

    Das "Neue Forum" veröffentlicht sein Positionspapier "Zur Ethik und Moral des Sports". DDR-Eishockeylegende Dieter Frenzel vom SC Dynamo Berlin erhält eine Gastspielgenehmigung für den EC Ratingen.


    8. Dezember 1989

    Der langjährige DTSB- und noch amtierende NOK-Präsident Manfred Ewald verteidigt sich gegen Vorwürfe unsauberen Finanzgebarens und will gegen seinen Nachfolger Eichler vor Gericht ziehen. Im DTSB wurden schwarze Kassen gefunden, und im Büro des DTSB-Vizepräsidenten Franz Rydz auch knapp 300.000 West-Mark in bar. Rydz hatte Ende November noch Unterlagen vernichtet – und sich dann erschossen. Mit den Barmitteln sollen unter anderem im Westen Sportmaterialien und Arzneimittel gekauft worden sein.


    11. Dezember 1989

    IOC-Präsident Samaranch begrüßt plötzlich Berlins Olympiapläne. Der DTSB hat bereits Zustimmung signalisiert.


    12. Dezember 1989

    DTSB-Präsident Klaus Eichler tritt nach massiven Protesten der Sport-Basis zurück. Die Dachorganisation wird fortan von einem Arbeitsausschuss geführt. In der DTSB-Zentrale muss ein Drittel der Mitarbeiter entlassen werden.


    15. Dezember 1989

    Magdeburgs Handball-Legende Wieland Schmidt, bester Torhüter der Welt, wechselt zum VfL Hameln.


    16. Dezember 1989

    Andreas Thom unterschreibt als erster DDR-Fußballer einen Vertrag in der Bundesliga. Thom wechselt für 2,5 Millionen Mark vom BFC Dynamo zu Bayer Leverkusen.


    20. Dezember 1989

    Letztmals werden in einer Leserumfrage des Tageszeitung "Junge Welt" die DDR-Sportler des Jahres gekürt: Der Turner Andreas Wecker, die Schwimmerin Kristin Otto und der Radsport-Straßenvierer unter anderem mit Uwe Ampler, der tags darauf beim holländischen PDM-Rennstall unterschreibt.


    22. Dezember 1989

    Katarina Witt erklärt, sie fühle sich von der SED-Führung missbraucht und bedauert, millionenschwere Werbeverträge nicht angenommen zu haben.


    28. Dezember 1989

    Zwar sind bereits Details über das flächendeckende DDR-Dopingsystem bekannt geworden, doch manche Medien konzentrieren sich eher aufs Medaillenzählen. So titelt die Bild-Zeitung: "140 Medaillen! Vereint sind wir die Nummer 1 der Sportwelt."