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Moral und Amoral

In immer wiederkehrenden Zyklen wird über den Werteverfall in unserer Gesellschaft geklagt. Eine allgemeine Tendenz zu Gier, Brutalität, Eigensucht und Lasterhaftigkeit wird an den Pranger gestellt. Während vom Papst bis in ökologische Untergangsszenarien das Schreckgespenst des Werterelativismus an die Wand gemalt wird, ist für den amerikanischen Neokonservatismus die nihilistische Gefahr in der modernen Kultur das dominante Thema. Kryptische Annahmen über das Böse in unserer Gesellschaft sind dabei gang und gäbe.

Von Robert Misik | 07.12.2008
    In seinem nun folgenden engagierten Essay über "Moral und Amoral" analysiert Robert Misik die Widersprüche in der aktuellen Wertedebatte. Einen davon sieht er vor allem darin, dass zwar unentwegt die Ausdehnung des Marktprinzips auf immer mehr Lebensbereiche gefordert werde, deren destruktive Resultate im Alltag aber heftig kritisiert würden.

    Der aus Wien stammende Autor Robert Misik veröffentlichte mehrere politische Sachbücher, darunter 2005 "Genial daneben. Kritisches Denken von Marx bis Michael Moore". Er plädiert entschieden dafür, religiöse Identitäten aus den politischen Kontroversen heraus zu halten. Gerade wurde Misik der Österreichische Staatspreis für Kulturpublizistik 2008 zugesprochen. Demnächst erscheint im Aufbau-Verlag sein Buch "Politik der Paranoia".


    Moral und Amoral
    Widersprüche in der zeitgenössischen Wertedebatte
    Werte stehen neuerdings wieder hoch im Kurs. Schon vor ein paar Jahren wurde die "Neue Bürgerlichkeit" ausgerufen, in jeder Buchsaison tobt seither die "Wertedebatte". Mal beschwört der TV-Spiritualist Peter Hahne die guten alten Werte, dann wieder Eva Herman die Mama-bleibt-zu-Hause-Familie, mal bläst Philosophieprofessor Norbert Bolz zum Kampf für die "biologische Realität" - und damit gegen den wertezersetzenden Feminismus -, dann wieder Verfassungsrichter Udo di Fabio für "bürgerliche Gesittung" und den "Respekt vor alten Institutionen und großen Kirchen". Papst Benedikt XVI. hat sein Pontifikat buchstäblich dem Kampf gegen "die Diktatur des Relativismus" gewidmet - dem sogenannten "Werterelativismus". Für Paul Nolte rührt das Gros der gegenwärtigen gesellschaftlichen Probleme daher, dass der "Neuen Unterschicht" keine Werte mehr vermittelt würden, weil sie nur mehr Trash konsumiert - schließlich hängt die dauernd vor der Glotze, schaut Müllfernsehen und ernährt sich von Tiefkühlkost. So Nolte. Auch Schriftsteller Richard Wagner ist in den Ring gestiegen. Der Titel seines Pamphlets "Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte".

    Auch in der Integrationsdebatte sind "Werte" ganz en vogue: "Sie" müssten sich gefälligst "unseren" Werten anpassen, der hiesigen "Leitkultur", wird da gelegentlich in recht herrischem Ton gefordert.

    All dies ist natürlich hochgradig widersprüchlich, ja grotesk inkonsistent. Meist wird das Problem des "Werteverlusts" in greller Drastik geschildert. So beschreibt Udo di Fabio in seinem neokonservativen Manifest "Die Kultur der Freiheit", was er so feststellt, wenn er sich umsieht in unserer zeitgenössischen Gesellschaft:

    "Menschen, die bei der Wahl ihrer Kleidung, in der Art wie sie speisen oder wie sie reden, inzwischen wieder dem Niveau vorkultureller Zeit zuzustreben scheinen, Menschen, die schon morgens mit einer Alkoholfahne in öffentlichen Verkehrsmitteln reisen."

    Feminismus, sexuelle Freizügigkeit und die antiautoritäre Erziehung, aber auch die Dominanz der Homosexuellen im Kulturbetrieb hätten die bürgerliche Familie zerstört und die klassische, fruchtbare Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau aufgehoben, beklagt Norbert Bolz. Das ist natürlich wider die Natur, schreibt er in seiner Fibel "Der Held der Familie":

    "Wenn die emanzipierten Frauen heute kein Sexualobjekt mehr sein wollen, könnte ein unbefangener Beobachter fragen: was sonst?"

    Welche Probleme es in unserer Gesellschaft auch immer geben mag , die Autoren solcher Jeremiaden müssen sie stets besonders drastisch ausmalen. Aus jeder demografischen Delle muss gleich der Untergang des Abendlandes werden, aus Wertepluralismus verderblicher Nihilismus. War der klassische Konservatismus in aller Regel noch von moderater Mittelwegsphraseologie geprägt, so liebt es der neue Konservative gerne schneidiger. Der klassische Konservative sah in der Modernisierung und in allzu radikalen Reformen eine Gefahr, für den neuen Konservativen ist die Katastrophe längst eingetreten: allgemeiner Verfall der Moral, Pille und Kondome kursieren in den Realschulen, Frauen ziehen ihre Kinder alleine groß, in multikultureller Blauäugigkeit gestattet man den Muslimen, bei uns ihre Moscheen zu bauen. Die Arbeitsmoral verfällt, von Tischsitten haben die jungen Leute keine Ahnung mehr. Roter Faden dieser überhitzten Untergangsphantasien: Alles ist fürchterlich.

    Um Konsistenz kümmert man sich dabei nicht immer. So wird der Werteverfall beklagt, aber eingefordert, Migranten müssten sich zu "unseren" Werten bekennen. Nur bitteschön, wie soll das gehen? "Sie" sollen sich zu etwas bekennen, was "wir" verloren zu haben glauben? Da wird das Emanzipationsbestreben der Frauen als Ausweis des Werteverfalls gesehen, dann aber wird die Gleichberechtigung der Frau als einer jener Werte angepriesen, den Einwanderer aus patriarchaleren Kulturen unbedingt akzeptieren müssen. Man könnte die Liste solcher Kuriositäten endlos fortsetzen. Innere Inkonsistenz ist, anders als bei philosophischen Theorien oder mathematischen Abstraktionen, im Bereich des Politischen nämlich nicht unbedingt ein Nachteil. Politische Großströmungen sind ja nicht dann erfolgreich, wenn sie von glasklarer Logik sind, sondern wenn sie widersprüchliche Haltungen und Sehnsüchte zu bündeln verstehen. Im besten Falle, also dann, wenn sie erfolgreich, also wirkmächtig scheinen, sind sie einerseits mit der Realität verwoben, andererseits Korrektiv der Realität. So schrieb unlängst der italienische Psychoanalytiker Sergio Benvenuto gerade in Hinblick auf die Widersprüchlichkeiten des Konservatismus:

    "Lange war mir nicht klar, was den konservativen Block und seine moralisch-politische Welt zusammenhält. Es wollte mir nicht einleuchten, was ein skrupelloser Finanzinvestor, der an der Wall Street spekuliert und um die dreißig Jahre alt ist, mit einer mittellosen Rentnerin in einer Kleinstadt des amerikanischen Mittleren Westens verbindet, die täglich in der Bibel liest. Trotzdem waren wahrscheinlich beide für Bush. Was wir als Die Rechte bezeichnen, diese Mischung aus Kapitalismus und kulturellen Konservatismus, die Allianz von Wall Street und Bible Belt, war mir immer ein Rätsel."

    Aber, fügt Benvenuto hinzu:

    "Widersprüchlichkeit sollte nicht als Mangel, sondern als der geheime Lebenssaft in den Adern der politischen Ideen begriffen werden."

    Was den neuen Konservatismus vom klassischen unterscheidet, ist gerade sein Umgang mit der Widersprüchlichkeit. Der alte Konservatismus war vergleichsweise aus einem Guss: Er wurzelte eher im Feudalismus und im Kleingewerbetum und stand dem Kapitalismus skeptisch gegenüber, er war mit den traditionellen Mächten verbunden, hielt zu Kaiser, König, Fürsten und war ein Gegner der Demokratie. Er setzte in allen Lebensbereichen eher auf die Kräfte des Beharrens als des Wandels, und wenn er die Parole "Freiheit" hörte, dann versetzte er seine Kanoniere in Alarmzustand. Er war elitär und verachtete die Plebejer, und ebenso auch die Geschäftemacher. Der neue Konservatismus dagegen ist von ganz anderer Art. In Wirtschaftsdingen sind die neuen Konservativen von Neoliberalen oft kaum zu unterscheiden.

    Der Neokonservatismus hat sich mit dem Kapitalismus nicht nur abgefunden, er preist vielmehr die Freiheitskultur des liberalen Kapitalismus und beklagt, dass der moderne Wohlfahrtsstaat diese "Kultur der Freiheit" untergräbt, weil er aus eigenverantwortlichen Wirtschaftsbürgern alimentierte Bezieher staatlicher Transferleistungen macht. Nicht selten schmeichelt er den Instinkten der "einfachen Leute" und trommelt gegen die linksliberalen Eliten. Er hat auch die liberale Massendemokratie des Westens nicht einfach nur murrend akzeptiert, sie hat im Neokonservatismus vielmehr ihren engagierten Fürsprecher gefunden - was so weit geht, dass er für den Export dieser Regierungsform, wenn nötig mit militärischen Mitteln, eintritt.

    Mit einem Wort: Der Neokonservatismus preist die schöpferische Zerstörung, für die das freie Unternehmertum sorgt, er ist für einen schlanken Staat und für die Ausdehnung des Marktprinzips auf immer mehr Lebensbereiche. Gleichzeitig beklagt er die Resultate, die der avancierte Kapitalismus zeitigt. Er preist das freie Unternehmertum, verdammt aber den Hedonismus des postmodernen Konsumbürgers, verteidigt die liberale Kultur der Freiheit, sieht aber im Pluralismus der Werte eine Gefahr. Diese Aufspaltung ist das "Neo" am Neokonservatismus - er ist konservativ in Wertefragen, aber radikal liberal in allen anderen. Im Rahmen dessen vertritt er gewiss Auffassungen, die keineswegs neu sind. Schon vor mehr als zwanzig Jahren hat das der Frankfurter Sozialphilosoph Helmut Dubiel in Hinblick auf den amerikanischen Neokonservatismus mit folgenden Worten analysiert:

    "Es lässt sich zeigen, dass der neue Konservativismus nicht neu ist im Sinne von Einsicht, die zuvor noch niemand hatte. Der Neokonservatismus ist eine Reaktionsbildung. Der neue Konservativismus steht auf dem Legitimationsboden eben dieser bürgerlichen Gesellschaft."

    Auf der einen Seite wird "weniger Staat, mehr Privat" durchgesetzt, Marktkonkurrenz in allen Lebensbereichen. Und wenn es dann neunundsiebzig Privatfernsehkanäle gibt und das Publikum nur mehr die Brüllshows schaut, wird der Verfall von Sitte und Moral beklagt. Aber aus der Perspektive des Neokonservatismus stellt sich die Sache eine Nuance anders dar: Er hält den liberalen Kapitalismus mit wenig Staat und viel Privat für die beste aller Ordnungen, und er weiß durchaus, dass diese durch Kräfte gefährdet ist, die sie selbst entfesselt. Diese liberale Ordnung könne also nur weiter ihre produktiven Potenziale entfalten, wenn sie von tugendhaften Kräften gestützt wird. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang ein Rückblick auf die Urszene des amerikanischen Neokonservatismus.

    Die Gründerväter des US-Neokonservatismus kamen ursprünglich aus dem linksliberalen, teilweise sogar aus dem linksradikalen Milieu, jedenfalls waren sie eng verbunden mit der progressiven Seite der amerikanischen Politik. Führende Köpfe waren Autoren und Politikwissenschaftler wie Norman Podhoretz und Irving Kristol, aber auch der angesehene Sozialwissenschaftler Daniel Bell gehörte zum diesem Kreis. Ende der fünfziger Jahre waren diese losen Zirkel am ehesten mit dem rechten, antikommunistischen Flügel der europäischen Sozialdemokratie vergleichbar. Mit Beginn der sechziger Jahre driftet diese Strömung nach rechts. Der Grund dafür waren die gegenkulturellen Strömungen der Zeit. Die ungewaschenen Langhaarigen, die laute Musik hörten, trieben die vormals fortschrittlichen Intellektuellen ins konservative Lager. Fortan widmete man sich dem Kampf gegen den Nihilismus. Was mit einer dissidenten Gegenkultur begann, beklagte etwa Irving Kristol, mündete in eine nihilistische Antikultur. Immer wieder formuliert er:

    "Der Feind des liberalen Kapitalismus ist heute weniger der Sozialismus als der Nihilismus. Bloß erkennt der liberale Kapitalismus den Nihilismus nicht als seinen Feind, sondern sieht ihn als eine zusätzliche schöne Geschäftsmöglichkeit."

    Einstmals, als der Kapitalismus noch von den Kräften der protestantischen Ethik zehrte, war er im Bündnis mit Tugenden gewesen, aber zunehmend werde er zu Verbündeten des Lasters. Denn wer rund um die Uhr Pornos schauen, sich eine private Flugzeugflotte zulegen oder tonnenweise Fastfood in sich hineinstopfen will, der werde von einem Markt versorgt, der noch in jeder Perversion, wenn sie nur von genügend Menschen geteilt wird, eine Zielgruppe und eine Marktlücke sieht. Den neokonservativen Denkern, allesamt brillante Köpfe, blieb natürlich nicht verborgen, dass es der von ihnen so geschätzte liberale Kapitalismus war, der die Gier der Konsumenten nach immer mehr und immer Neuem brauchte, und daher jedes Laster noch anstachelte, weil es sich, aus Unternehmerperspektive, als Tugend ausnahm - "Nachfrage" genannt.

    Das war natürlich eine zusätzliche Herausforderung für das neokonservative Denken, da ihre Verehrung des privaten Unternehmertums ja im Anschluss an Adam Smith davon ausgehen musste, dass sich individuelle Laster wie etwa das Gewinnstreben und der Eigennutz durch das Wirken der sagenumwobenen unsichtbaren Hand in öffentliche Tugenden verwandeln würden. Aber darauf war nun offenkundig kein Verlass mehr, wie Irving Kristol erkannte:

    "Die entscheidende Frage, der wir nun gegenüberstehen, ist, dass private Laster sich keineswegs mehr in öffentlichen Nutzen für eine bürgerliche Ordnung verwandeln. Vielleicht müssen wir anerkennen, dass die freiheitliche Tradition des Kapitalismus einfach zu wenig Vorstellungskraft hatte, um das Laster wirklich zu begreifen. Sie hat einfach nicht sehen wollen, dass das Laster, wenn sie von Religion, Moralität oder Gesetz nicht eingedämmt werden, einfach nur lasterhafte Resultate zur Folge haben würden. Sie war blind für die Gefahr des selbstzerstörerischen Nihilismus, gegen den sich jede Gesellschaft verteidigen muss."

    Den auflösenden, zersetzenden Kräften, die dem liberalen Kapitalismus inne wohnen, müsse also durch eine neue Werteoffensive begegnet werden, so das Credo. Dem Stil der amerikanischen Politik entsprechend wähnten sich die Neokonservativen stets mit dem Rücken zur Wand und schlugen, auch als sie längst obenauf waren, alarmistische Töne an: Überall wurde Laster ausgemacht. Nicht nur die Gegenkultur und die Spaßgesellschaft mit ihrem Anything-goes-Prinzip, auch der Wohlfahrtsstaat wurde als mächtige Kraft der Lasterhaftigkeit interpretiert, weil er die Arbeitsmoral untergrabe und die Familien zerstöre. Öffentliche Sozialprogramme wurden nicht etwa als notwendige Unterstützung bedürftiger Familien - von Frauen, von Kindern, von Männern - angesehen, sondern als Hilfe zur Amoralität kritisiert: Frauen könnten sich ein ausschweifendes Sexualleben leisten, weil sie notfalls ihre Kinder auch selbst mit Hilfe staatlicher Alimentierung groß ziehen können, den Männern würde ihre wichtige Rolle als ökonomischer Erhalter der Familien genommen, die Kinder würden in einer Kultur der Vaterlosigkeit erzogen. Schon vor dreißig Jahren schrieb Irving Kristol:

    "Väter müssen arbeiten - in dem Sinn, als es die 'väterlichste' Sache ist, die ein Vater tun kann. Wohlfahrtsprogramme kippen den Vater aus seiner Rolle als Brotverdiener."

    Heute liest man das fast wortgleich bei Norbert Bolz:

    "Wohlfahrtsstaatliche Leistungen verringern die Kosten unehelicher Kinder und ermutigen die Frauen, auf einen Haushalt mit dem Vater ihrer Kinder zu verzichten. Und umgekehrt fühlen sich Väter weniger verantwortlich für ihre Kinder."

    Für viele Neokonservative produziert die große Differenzierungsmaschine des liberalen Kapitalismus im Bündnis mit der Gegenkultur und den Achtundsechzigern letztendlich nur eine Differenz: die zwischen Moral und Amoral. Und während die Amoral in jede Pore der Gesellschaft eindringt, wird die Moral nur mehr von wenigen beherzten Uneinverstandenen hochgehalten. So ähnlich wie in Asterix:

    "Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf ..."

    Diese neokonservative Erzählung ist ein Narrativ in das sich alles fügt. In ihm ist die Gegenwart ein Reich kultureller und sittlicher Finsternis, beherrscht von einer zügellosen Zersetzung, einer schrankenlosen Habgier, dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, dem Kult des Trivialen. Die Jetztzeit, ein Dekadenzphänomen. Alles fügt sich ein in ein einheitliches Signum des Verfalls. Dieser neue Konservatismus hat einen unübersehbaren Drall ins Schrille. Freilich gibt es gewissermaßen parallel zu diesen überdrehten Jeremiaden noch andere Argumentationsreihen, andere Spielarten in einer verwandten Tonlage, die von realistischeren Bildern ausgehen. Demnach sorgt die liberale Differenzierungsmaschine nicht nur für eine Spaltung von Moral und Amoral, sondern auch für eine Relativierung verbindlicher Moralvorstellungen. Zunächst wachse nicht notwendigerweise die Amoral, aber die Moral trete gewissermaßen im Plural auf. Statt einer verbindlichen gesellschaftlichen Moral gäbe es nur mehr Milieus und Submilieus mit ihren je unterschiedlichen Moralvorstellungen, doch es gäbe keine Standards mehr, und es werde folglich unmöglich, noch irgendwelche autoritativen Aussagen über das "Richtige" oder das "Gute" zu machen. Dies war eine der Thesen von Leo Strauss, einem in Deutschland geborenen jüdischen Philosophen, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die USA übersiedelte und in Chicago unterrichtete. Strauss wurde dort der Lehrmeister vieler jener Intellektuellen, die später die neokonservativen Zirkel bevölkern sollten. Ohne in den schrillen Sound seiner späteren Verehrer zu verfallen, war sein Generalthema die nihilistische Gefahr in der modernen Kultur.

    Noch in der Sozialphilosophie eines moralisch derart unangreifbaren Denkers wie Max Weber wähnte Strauss die Gefahr der Zersetzung. Gemäß Webers Diktum vom wertneutralen Charakter der Sozialwissenschaften gäbe es, so Strauss

    "eine Vielfalt gleichrangiger Werte, deren Forderungen einander widersprechen und deren Konflikt durch menschliche Vernunft nicht gelöst werden kann. Ich behaupte, dass Webers These mit Notwendigkeit zum Nihilismus oder zu der Ansicht führt, dass die Vernunft außerstande ist, zwischen dem Bösen, Gemeinen oder Unsinnigen und deren Gegenteil zu entscheiden"

    Nihilismus ist, so gesehen, also nicht einfach die Verwerfung aller Werte - also die Lasterhaftigkeit -, sondern der Respekt vor der Gleichrangigkeit konkurrierender Wertvorstellungen. Das erinnert natürlich frappant an den mittlerweile legendären Satz, den Kardinal Joseph Ratzinger zum Eingang jenes Konklave formuliert hat, das er als Papst verlassen musste:

    "Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt."

    Ratzinger ist, verglichen mit Verfallspropheten wie Kristol, Bolz oder Eva Herman, richtiggehend entspannt. Er sieht nicht notwendigerweise eine allgemeine Tendenz zu Gier, Gemeinheit, Eigensucht und Lasterhaftigkeit. Er hat immer wieder in den vergangenen zwanzig Jahren die Frage diskutiert, ob der Relativismus - und damit der Pluralismus der Werturteile - nicht unlöslich verbunden ist mit der Demokratie. Er hat auch immer wieder eingeräumt, dass die Menschen heute keineswegs gewissenloser seien als früher. Nur seien sie der verbindlichen gesellschaftlichen Normen verlustig gegangen. Der moderne Individualismus, formulierte Ratzinger Anfang der neunziger Jahre, habe die allgemeine Überzeugung verbreitet, dass das Gewissen des Einzelnen das letzte Wort haben müsste, dass man nicht auf die Predigten irgendwelche Autoritäten hören solle, sondern auf die Stimme der Wahrheit im Subjekt selbst. Freilich, so Ratzinger, handele man sich damit ein Problem ein, denn:

    "Gewissensurteile widersprechen sich."

    Genau das ist es, was Ratzinger unter Relativismus versteht - nicht Amoral, sondern eine Ausdifferenzierung in viele Moralitäten und den weit verbreiteten Konsens - "das Diktat" -, dass jeder Gewissensentscheidung Respekt gebührt. Doch dieses Postulat wirft zwei Fragen auf. Erstens: Ist das wirklich ein Problem? Und zweitens: Ist das überhaupt wahr?

    Der Werterelativismus macht den Menschen das Leben gewiss nicht leichter. Sie haben kein verbindliches Sittengesetz mehr zur Hand, das genaue Regelungen für alle denkbaren Anlässe bereitstellt. Sie müssen oft schwierige Entscheidungen nach dem eigenen moralischen Empfinden treffen - sicherlich eine große Herausforderung. Aber gerade deshalb ist dieser viel gescholtene Werterelativismus nach einem Wort des italienischen Philosophen Paolo Flores d'Arcais die Basis für einen ethischen Pluralismus, ohne den demokratische Gesellschaften nicht existieren können. Es könnte also durchaus sein, dass der Werterelativismus gar kein Problem darstellt. Oder besser: Wenn es ihn nicht gäbe, wäre das ein noch viel größeres Problem.

    Darüber hinaus ist durchaus fraglich, in welchem Sinn die Relativitätsdiagnose überhaupt zutreffend ist. Gewiss haben unterschiedliche Menschen ihre unterschiedlichen moralischen Präferenzen. Aber das heißt nicht, dass es keine Regeln, keine moralischen Normen gäbe, die weitgehend anerkannt sind - die gibt es nämlich, und man spürt sie schnell, wenn man gegen sie verstößt. Fairnessregeln, Gleichheitsregeln sind heute viel weitgehender akzeptiert als vor hundert Jahren und auch die Norm, dass man Konflikte eher gewaltfrei regeln solle, ist heute beinahe Konsens. Die modernen Gesellschaften werden moralischer, auch wenn das die Bürger nicht so empfinden mögen. Ja, gerade dieses subjektive Empfinden ist ein Hinweis darauf, dass die Toleranzschwelle gegenüber Normenverstößen eher sinkt: Je sensibilisierter für Normen, umso drastischer empfindet man Verstöße.

    Gegen das Diktum vom Werterelativismus hat der deutsche Sozialwissenschaftler Detlef Horster deshalb eingewandt:

    "Es ist oft die Rede davon, dass heute jeder ‚seine eigene Moral' habe. Das ist aber nicht der Fall. Moralische Regeln sind objektiv und nicht jeder ist frei darin, sich eine Präferenzskala moralischer Regeln zu bilden."

    Jeder weiß: Es gibt eine Fülle an Situationen, in der nicht jede Verhaltensweise als Resultat meiner privaten Moral, meiner "Gewissensentscheidung" respektiert würde. Wenn ich heute auf offener Straße meine Frau verprügle, weil sie mir widersprochen hat, dann wird mir der Hinweis auf meine moralische Präferenzskala nichts nützen. Wenn ich als Etablierter einen Obdachlosen demütige, indem ich eine Sektflasche über seinen Kopf entleere - wie das der ehemalige Bremer CDU-Wirtschaftssenator Peter Gloystein vor einigen Jahren tat - dann ist mir die öffentliche Missbilligung sicher, ganz unabhängig von meinem privaten Normenfundus.

    Die These vom Werteverlust ist also reichlich fragwürdig. Eher ist von einem Basisset gesellschaftlich verbindlicher Normen auszugehen, oberhalb dessen sich ein Pluralismus differenter Wertvorstellungen erhebt. Oft stoßen widerstreitende Wertvorstellungen gerade in jenen gesellschaftlichen Fragen aufeinander, in denen es um komplizierte moralische Abwägungen geht - denn gerade in komplexen Gesellschaften steht man immer wieder Problemen gegenüber, wo man einer moralischen Norm nur folgen kann, indem man eine andere bricht.

    Es ist eine ebenso kuriose wie unbestreitbare Eigenschaft, dass "Werte" im öffentlichen Diskurs oft mit konservativen Werten identifiziert werden. Gern werden diese Werte dann als "wahre Werte" bezeichnet, in Opposition zu den falschen Werten der Moderne. Es wird insinuiert, es ginge um innere Werte mit einer gewissen Resistenz gegen die äußere Welt. Dabei sind gerade diese "wahren Werte" meist mit äußeren Riten verbunden - das Weihnachtsfest im Familienkreis, Anstand, Benehmen, Sekundärtugenden. Schier unschlagbar ist der Konservativismus am Feld des Moralischen, bedenkt man sein "realistisches" Verhältnis zu Werten: eine gewisse Lässigkeit, die nicht etwa als mangelnde Ernsthaftigkeit ausgelegt werden darf, sondern im Gegenteil vom Bewusstsein über die ernste Tragik der menschlichen Existenz zeugt.

    So kann der Konservatismus einerseits die Gottesebenbildlichkeit des Menschen postulieren, muss die Sache aber nicht zu eng sehen - im Ernstfall ist auch nicht ausgeschlossen, dieses Ebenbild Gottes auf die Folterbank zu spannen, wenn es um die Verteidigung "unserer" Werte geht, sei es in Abu Ghraib, Guantanamo oder anderswo. Die Werte leisten dem Konservativismus gerade deshalb so gute Dienste, weil sie elastisch sind wie ein guter Hosenträger.

    Wenn von "Werten" die Rede ist, werden fast automatisch "die guten alten Werte" assoziiert. Dabei ist natürlich der Konservatismus nicht immer gegen jede Art von Wandel. Das allgemeine Wahlrecht und die Gleichberechtigung der Frauen wurden in früheren Zeiten als Symptom des Werteverfalls angesehen, heute sind sie selbst Teil des Sets an Werten, die auch von vielen Konservativen anerkannt werden. Gerade der Neokonservatismus wurde in den vergangenen Jahren berühmt und berüchtigt, weil er für den Export der Demokratie mit militärischen Mitteln eintritt, wenn man so will: für Wertewandel in Arabien. Es ist also keineswegs so, dass der Konservatismus Werte allein deshalb hochhält, weil sie "ewig" existieren, aber es ist nötig, dass sie ausreichend lange existieren. Das Vertrackte daran ist freilich, dass manches, was heute ausreichend lange existiert, irgendwann einmal mit Sicherheit neu gewesen ist, so dass der kanadisch-britische Philosoph Ted Honderich spitzzüngig anmerkt:

    "Es ließe sich fragen, wie lange etwas eigentlich schon existiert haben muss, bevor es aufhört, etwas Neues zu sein."

    Auf solche Selbstwidersprüche stößt man auf Schritt und Tritt, wenn man sich den konservativen Wertediskursen widmet. Da wird, wenn es gerade passt, die "Kultur der Freiheit" hochgehalten, dann aber streng verkündet, dies dürfe doch wohl nicht heißen, dass jeder tun könne, was er wolle; da wird menschenfreundlich die emotionale Wärme im Familienkreis beschworen, im nächsten Atemzug aber angemerkt, dass die Menschen, eingeschmiegt im Wattebausch des Wohlfahrtsstaates, den Sinn für Tragik verloren hätten und man deshalb mehr Härte ins Leben bringen müsse. Die Frage ist: Ist das alles nur disparat und eklektisch? Oder gibt es einen gemeinsamen Horizont, eine Welthaltung, die diese kurios widersprüchlichen Meinungen zusammen hält?

    Die gibt es, meint der amerikanische Linguist George Lakoff. Weltanschauungen sind moralische Systeme, die wie Metaphern funktionieren, so die These des führenden Vertreters der "Cognitive Linguistics". Und die Metapher, die dem Konservatismus zu Grunde liegt, ist die des "strengen Vaters". Der strenge Vater hat eine Erziehungsaufgabe. Er muss den Sohn oder die Tochter (vor allem aber den Sohn) fit machen für den Dschungel der Freiheit. Der Sohn darf nicht verzärtelt werden (wie es der Wohlfahrtsstaat täte, der, so Lakoff, am Modell des "sorgenden Elternteils" modelliert ist). Härte ist gesund für das Kind. Der Sohn soll der Freiheit gewachsen sein, also den Überlebenskampf am freien Markt. Entwickelt er sich zu einem solchen selbstverantwortlichen Subjekt, dann ist ihm Respekt sicher, denn die Konservativen bewundern diejenigen, die ihren Weg machen, die sich durchsetzen. Wer das nicht schafft, der hat auch moralisch versagt. Dem winkt der Konservativismus nicht mehr mit der "Kultur der Freiheit", dem kommt er mit der Strafeslust des strengen Vaters. Legt man eine solche metaphorische Deutung zu Grunde, dann klärt sich alles auf, dann hellt sich das Bild. Plötzlich wird einsichtig, warum die neuen Konservativen die seltsame Kombination von liberalistischer Freiheitsrhetorik und moralisch-sittlichem Verbotsjargon selbst überhaupt nicht als widersprüchlich empfinden, wie sie einerseits den ökonomischen Wirbelwind des globalen Turbokapitalismus erfrischend finden, anderseits die zersetzenden Wirkungen von Konsumismus und Hedonismus verteufeln können.

    Sanftheit ist aus dieser Perspektive kontraproduktiv. Der Konservative ist ein politischer Tragiker, sein Ideal ist das einer "Männlichkeit", mit der man Härten erträgt. "Freiheit" ist nur zu den Terms of Trade des strengen Vaters zu haben.

    Wie heißt es bei Udo di Fabio?

    "Freiheit darf nicht allein als inhaltlich ungewichtetes Abwehrrecht, sondern muss zugleich als individuelle Freiheit zur nützlichen sozialen Bindung verstanden werden."

    Deshalb hat es immer auch etwas Drohendes, Herrisches, Autoritäres, wenn Konservative von Werten reden, so wie das Glück, zu dem man ein uneinsichtiges Mündel zwingen muss. Schon vor mehr als zweihundert Jahren konnte man bei Edmund Burke, dem großen Säulenheiligen aller konservativer Denker, folgenden Satz lesen:

    "Die Menschen dürfen die bürgerliche Freiheit genau in dem Maße genießen, wie sie in der Lage sind, ihren eigenen Gelüsten moralische Zügel anzulegen; genau in dem Maße, wie sie dazu geneigt sind, ihr Ohr dem Ratschlag der Weisen und Guten zu leihen statt den Schmeicheleien irgendwelcher Lumpen."

    Aber wer, lieber Herr Burke, entscheidet, wer ein Weiser ist und wer ein Lump?