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Morgendliche Exerzitien eines Selbstdenkers

Paul Valéry war ein universeller Geist, der luzide Essays schrieb. Als sein unkonventionelles Hauptwerk gelten die "Cahiers": Notizen, die er über mehr als fünfzig Jahre jeden Morgen ab fünf Uhr in Schulhefte eintrug. Thomas Stölzels verdichtete Sammlung der "Cahiers" bietet die Chance zur Wiederentdeckung eines brillanten, eigenwilligen Selbstdenkers.

Von Martin Ebel | 31.07.2012
    Manchmal ist die Nachwelt eine Dampfwalze. Wer zu seiner Zeit zu den herausragenden Geistern gezählt wurde und sich Hoffnung auf ein Stück Ewigkeit machen durfte, ist ein paar Jahrzehnte nach seinem Tod plattgemacht: weil neue Generationen neue Fragen stellen, auf die die Alten noch keine Antworten kennen konnten, oder auch aus profaneren Gründen: Verdrängung und Vergessen. Gerade in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts hat die Dampfwalze besonders verheerend gewütet. Wer liest hierzulande noch Louis Aragon, André Gide, Georges Bernanos, Georges Duhamel, Roger Martin du Gard? Das waren auch im deutschsprachigen Raum einmal anerkannte und bewunderte Größen.

    Dasselbe gilt für Paul Valéry, geboren 1871 und gestorben 1945. Er war der größte französische Dichter der ersten Jahrhunderthälfte, sein "Cimetière marin", der "Friedhof über dem Meer", von Rilke kongenial übersetzt, bildet immer noch ein Schmuckstück jeder einschlägigen Anthologie. Valéry war auch der vielleicht letzte repräsentative Staatskünstler seines Landes, Präsident der Académie française, Inhaber eines eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhls für Poetik am Collège de France. Konservativ bis auf die Knochen und, wenn's not tat, auch mutig: Während der deutschen Besatzung hielt er eine Lobrede in der Académie auf den Juden Henri Bergson.

    Nun haben es Lyriker ohnehin besonders schwer jenseits der Landesgrenzen. Aber Valéry war ja viel mehr: ein universeller Geist, der luzide Essays schrieb, weit über literarisch-kulturelle Themen hinaus, der die Kopfgeburt des "Monsieur Teste" schuf und sogar eine Faustschöpfung mit dem Namen "Mon Faust". Die deutsche Ausgabe seiner Werke umfasst sieben Bände; erhältlich ist sie schon lange nicht mehr.

    Als Valérys eigentliches, überaus unkonventionelles Hauptwerk gelten aber seine "Cahiers", Notizen, die er über mehr als fünfzig Jahre jeden Morgen ab fünf Uhr in einfache Schulhefte eintrug. Insgesamt 163 solcher Hefte hatten sich bei Valérys Tod angesammelt, die Faksimile-Ausgabe umfasst 30.000 Seiten. Eine französische Auswahl von 3000 Seiten, also einem Zehntel, erschien in der Renommieredition de la Pléiade, sie ist die Grundlage der deutschen, viel gelobten und preisgekrönten Ausgabe von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt. Auch sie ist nicht mehr im Handel.

    Eine neue Chance für den eigenwilligen Selbstdenker Valéry - und für ein erlesenes Publikum - bietet sich jetzt in der "Anderen Bibliothek". Thomas Stölzel hat die Auswahl der Cahiers noch einmal verdichtet, auf rund 300 Seiten, also auf ein Hundertstel des Ausgangsmaterials. Die Lektüre lohnt, auch wenn der Leser eher angeregt als bereichert aus ihr hervorgeht. Das hat damit zu tun, dass Valéry - und darin erweist er sich als überaus moderner Denker - sich für den Prozess interessiert, nicht für sein Ergebnis. Gegenstand seiner Überlegungen ist das Überlegen selbst. Worüber er nachdenkt, frühmorgens, nach dem Genuss einer Tasse sehr starken Kaffees, ist vor allem sein, Valérys Denken. Ein merkwürdiges Vorhaben, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, was Valéry durchaus bewusst ist: "Ein Geist", schreibt er, "der fähig wäre, die Kompliziertheit seines Gehirns zu begreifen, wäre also komplexer als das, was ihn zu dem macht, was er ist." Genau solche Paradoxien reizen den morgendlichen Selbstdenker über alles. Er beobachtet seine Gedanken bei ihrer Entstehung, belauert sich geradezu beim Denken und versucht, Gesetzmäßigkeiten und Funktionsprinzipien daraus abzuleiten. Ähnlich wie sein großes Vorbild Leonardo da Vinci den Vogelflug analysierte, um zu begreifen, wie das Fliegen funktioniert, so beobachtet er die Höhenflüge seines Geistes.

    Das mag heute, angesichts einer rasant voranschreitenden Hirnforschung, anachronistisch, ja dilettantisch anmuten. Aber Valérys war kein Naturwissenschaftler, bei aller Bewunderung für Leonardo, bei aller Begeisterung für Mathematik und Architektur. Auf seinem Gebiet erkannte er keine Erkenntnisse an, die vom erkennenden Subjekt abgelöst wären. Die Paradoxie, dass Forscher und Forschungsgegenstand zusammenfielen, war das A und O seiner Methode.

    Aber selbst wer an der Triftigkeit eines solchen Vorgehens seine Zweifel hegt, den dürfte die Fülle an zündenden und grandios formulierten Gedanken besänftigen - denn die findet er in keinem Werk der neueren Neurowissenschaft. "Denken zu können", beginnt etwa ein solches Juwel, "heißt, dem Zufall die Schätze entreißen zu können, die er in uns eingekapselt hat". Oder dieses: "Die meisten tummeln sich an der Oberfläche ihrer Natur. Manche tauchen nackt ein. Andere mit Tauchgerät." Das nackteste an einem Menschen, meinte Valéry, sei sein Geist. Was nicht bedeutet, dass er die Rolle des Körpers unterschätzte. Ein Monster der Rationalität war er, der neben einer traditionellen Ehe eine Vielzahl von aufwühlenden Liebesbeziehungen unterhielt, ganz und gar nicht. "Der Mensch", heißt es in einem Eintrag, "ist ein System von Begierden, das durch ein System von Ängsten temperiert wird." Das morgendliche Denkexerzitium stellt sich im Lichte dieses Satzes etwas anders dar: Das Denken über das Denken war notwendig, damit das Fühlen und Wollen nicht die Oberhand bekäme.

    Zum Körper, zu seinem innersten Organ, kehrt Valéry in seinem letzten Eintrag noch einmal zurück. "Ich hab e den Eindruck, dass mein Leben vollendet ist", hebt er an. "Ich kenne ziemlich genau meinen Geist", fährt er fort: Die über fünfzigjährige Exploration war also erfolgreich. Dann aber kommt es: "Ich kenne auch my heart. Es triumphiert. Stärker als alles, als der Geist, als der Organismus. - Das ist das Tatsächliche... Die dunkelste der Tatsachen. Stärker als das Lebenwollen und als das Verstehenkönnen ist also dieses vermaledeite H" - schreibt Valéry. Das Herz. Das war, niedergeschrieben am 30. Mai 1945, das letzte Wort eines der großen Denker des 20. Jahrhunderts.

    Thomas Stölzel (Hg): Ich grase meine Gehirnwiese ab.
    Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers.

    Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek, Frankfurt 2011, 346 Seiten, 32 Euro.