Freitag, 19. April 2024

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Morpheus oder der Schnabelschuh

Er heißt Elpenor, sitzt auf dem Bürgersteig und sieht aus wie ein Penner. Vor ihm stehen leere Weinflaschen, wirres Gerede von Kirkes Schweinen, Ariadne und Mnemon tönt aus seinem Mund. Warum flegelt er sich dort herum? "Wo sollte ich denn sonst leben, in einer Wohnung vielleicht? Hören Sie, das ist nicht komisch. Vielleicht einen Mietvertrag für die nächsten zweitausendfünfhundert Jahre abschließen? Außerdem vertrage ich es schlecht, Wände vor Augen zu haben. Entweder Sie hängen Bilder auf, dann haben Sie die Bilder vor den Augen, als reichte nicht, was sich an Bildern im Kopf herumtreibt. Oder Sie starren die Wände an und sind ganz ohne Ablenkung und müssen fürchten, geradezu zu hören, was sich unter der Schädeldecke abspielt."

Maike Albath | 27.01.1999
    Elpenor ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, ein Gefährte Odysseus’, dem seine Schwäche für alkoholische Getränke zum Verhängnis wird. Sein trauriges Schicksal kann man bei Homer nachlesen, und auch Ovid berichtet von den fatalen Neigungen Elpenors. Katharina Hacker teilt dem sympathischen Säufer in ihrem neuen Erzählband "Morpheus oder der Schnabelschuh" die Rolle des Ankündigers zu und läßt ihn als ersten in ihrer Geschichten-Reihe auftreten. In einem grunzenden Monolog, der an ein fiktives Du gerichtet ist, beschwert er sich über die Störung, gibt Einzelheiten seiner Lebensumstände preis und schwatzt von Morpheus, Charon und ähnlichen illustren Kumpanen. Elpenor resümiert die Begebenheiten aus der Antike und stimmt den Leser auf die folgenden Erzählungen ein, die Sisyphos, Ariadne, Minotaurus, Charon, Morpheus und Mnemon gewidmet sind. Auf den Gedanken, die mythologischen Gestalten zu neuem Leben zu erwecken, kam Katharina Hacker durch die Lektüre der "Metamorphosen" Ovids: "Zu meiner Überraschung war ich ganz begeistert", erzählt Katharina Hacker. "Aber vor allem eigentlich schockiert, daß das so entsetzlich traurige Geschichten sind und daß es für mich ein Leitmotiv gibt, nämlich das Verstummen, daß Metamorphosen eben nicht Verwandlungen von einem Zustand in einen anderen sind, sondern meistens von etwas Lebendigem in etwas Totes, oder von Mensch in Tier, was dann natürlich immer mit dem Verlust der Sprache einhergeht. Und da gibt es Beschreibungen, wie eine Kuh versucht zu sprechen, oder wie sich Zweige eines Baumes noch zu recken scheinen. Das hat mich sehr bewegt und auch wirklich erschüttert."

    Ein besseres Ende nimmt es mit Sisyphos, Minotaurus und dem Rest der Personage auch bei Katharina Hacker nicht, fast alle verschwinden oder sterben. Die Geschichte von Sisyphos spielt in einem Pariser Hotel, wo sich der ewig steinrollende Held einmietet und den Hotelier samt Concierge durch seine merkwürdigen Angewohnheiten verunsichert. Sie ahnen nichts von Sisyphos wahrer Identität, hören aber jeden Abend beunruhigende Geräusche aus dem Zimmer des Gastes, so als rücke jemand Möbel hin und her. Darauf angesprochen, berichtet Sisyphos von den Gesängen Orpheus. Der Hotelier versteht ihn nicht, lauscht aber Abend für Abend dem Steinrollen, und ganz allmählich werden er und sein Concierge in die mythische Welt eingesponnen. Kunstvoll transportiert Katharina Hacker das mythologische Material in die Gegenwart, versetzt das kulturelle Erbe der Antike in Schwingungen und gibt ihm eine neue Form. Jede ihrer sprachlich sehr sorgfältig gearbeiteten Erzählungen ist anders; elegant handhabt sie ein breites stilistisches Register, wechselt Erzählperspektiven und Tonfall, und mit Genuß läßt man die bizarren Verwicklungen Satz für Satz auf sich wirken. Zum ereignisfixierten Runterlesen sind Hackers Geschichten nicht gedacht, dazu sind sie viel zu dicht, durch die fremden Gestalten manchmal auch widerständig. Hacker zwingt den Leser zur Geduld und Langsamkeit und belohnt ihn dann mit ihren anrührenden Einfällen. Das Zwitterwesen Minotaurus steht tagsüber im Museum und wandert nachts verwirrt durch verlassene Straßen, die Traumgestalt Morpheus, Sohn des Hypnos, entpuppt sich als ein selbstverliebter Jüngling, dessen Glück in einem Paar mondäner Schnabelschuhe besteht. Die Erzählung von Ariadne ist ein Wechselgesang zwischen der antiken Gestalt und ihrer zeitgenössischen Variante: Die eine irrt verzweifelt auf Naxos herum, die andere sitzt in Trauer versunken an einer Haltestelle und läßt jeden Bus vorbeifahren. Beide arbeiten an der eigenen Zerstörung. Zumindest diese Geschichte endet mit einem zarten Hoffnungsschimmer: Die moderne Ariadne findet ihre Beweglichkeit wieder und überwindet die Erstarrung. "Bei der Figur ist es mir ganz unmittelbar einsichtig, daß es ein Archetyp ist, der Archetyp einer verlassenen Frau", so Hacker. "Und der als Typus einer bestimmten Art von Traurigkeit und Verlust der eigenen Person durch den Verlust einer anderen Person, eines anderen Menschen gilt. Bei den anderen Figuren schien es mir einfach ganz plausibel, zumindest bei Minotaurus, da ist es ja auch am explizitesten thematisiert, daß der rumläuft, ganz hilflos und unglücklich ist und einen Status hat, der uns sehr fremd ist, dadurch daß er dieses Zwitterhafte hat. Diese Zwitterhaftigkeit, das Zwiefache seines Lebens, das schien mir als Ausdruck dessen, was ich hier sehe, so naheliegend, daß die Geschichte deswegen zusammen gekommen ist. Bei Mnemon war ich einfach fasziniert von der Idee des Gedächtnisses, und dann hat die Geschichte ja auch was mit dem Schreiben zu tun, mit der Qual, daß man dauernd irgendwelche Bilder im Kopf hat, irgendwelche Sätze im Kopf hat und sich Dinge merkt, und sie nicht vergißt, daß sie etwas Statisches, etwas Repetitives haben."

    Katharina Hacker bezieht sich auf die Mnemones, die es vor der Entstehung der Schriftlichkeit im antiken Griechenland gab. Mnemones waren Merker und Registraturbeamte, betraut mit der Aufgabe, wichtige Behördenakte auswendig zu lernen, um sie vor dem Vergessen zu schützen. Was es mit den Mnemones auf sich hat, wird auf Anhieb kaum jemand wissen. Deshalb ist dem Erzählband ein Verzeichnis mit knappen Erläuterungen zu den Figuren hinzugefügt, worauf man auch angewiesen ist. "Morpheus oder Der Schnabelschuh" ist nicht zuletzt eine Einladung, Ovids "Metamorphosen" und Homers "Odyssee" wieder zu lesen. Auf dem Hintergrund der klassischen Dichtungen wirken Hackers Geschichten wie Schattenrisse, sie deuten auf den Reichtum dieses Erbes hin und lassen erkennen, daß die Mythologie der Humus unserer Kultur ist. An verschiedenen Stellen taucht in den Erzählungen das Bild der Wachstafel auf. Der Asphalt, auf dem sich Überbleibsel aller Art, Tabakkrümel, Kaugummis, alte Fahrkarten sammeln, wird wie eine Wachstafel immer wieder gereinigt. Die Spuren sind dennoch zu erkennen. Ebenso ist das Gedächtnis eine Wachstafel, deren unterste Schicht alle Zeichen aufbewahrt, auch wenn sie oberflächlich gelöscht scheinen. Frühe Erinnerungen bleiben auf diese Weise präsent und wirken weiter, ohne daß man sich dessen bewußt wäre. Auch die literarische Tradition ließe sich als eine Art Wachstafel verstehen, denn in jedes Schreiben fließen die Stimmen anderer Dichter ein. "Man konstruiert schon ein Gegenüber dadurch, daß man es auf einem Blatt festhält. Und es stellt wieder das richtige Gewicht her zwischen dem, was man selber ist und dem, was nicht nur man selber ist. Ich glaube, deswegen hat mir dieses Mythologiethema gut gefallen und deswegen greifen diese Figuren immer noch als Beschreibungsmöglichkeiten, weil wir ja nicht eine Geschichte und eine Biographie sind, sondern weil es so eine Vielstimmigkeit immer gibt, und die Anteile fremder Stimmen - dessen, was man gelesen hat, dessen, was man gehört hat, dessen, was man sieht - doch sehr groß sind, und eben deshalb ist man jedenfalls nicht nur selbst irgendeine Einzelperson. Ich glaube, man braucht Zitate auch als eigene Stimme, weil man sowieso so eine verschachtelte und eben parallel konzipierte Angelegenheit ist, wo eigentlich dauernd ganz viele reden, und man sucht sich dann einige Stimmen raus und spricht und formt sie, aber die Zitate sind, finde ich, tatsächliche Bestandteile der eigenen Person."

    Ein aus vielen verschiedenen Stimmen zusammengesetztes Gebilde zu sein, bedeutet nicht, daß man keinen eigenen Ton besitzt. Katharina Hacker findet jedenfalls eine ganz besondere Art, über alte Dinge auf eine neue Weise zu sprechen. Das Prinzip, Überliefertes umzuformen und zu variieren, ist so alt, wie die Literatur selbst - Schreiben war schon immer ein Kommentar dessen, was bereits existierte. In "Morpheus oder Der Schnabelschuh" tragen die mythologischen Figuren neue Gewänder, und plötzlich entdecken auch wir im Supermarkt eine Ariadne, sehen Elpenor auf dem Bürgersteig sitzen und stehen in der U-Bahn einem eitlen Morpheus gegenüber.