Egon Krenz: "Wir und die Russen"

Nostalgie aus dem Politbüro

06:28 Minuten
Buchcover zu "Wir und die Russen" von Egon Krenz.
Eine eigenwillige DDR-Geschichte hat der ehemalige SED-Generalsekretär Egon Krenz geschrieben. © Das Neue Berlin/Edition Ost
Jörg Degenhardt im Gespräch mit Christian Rabhansl · 07.09.2019
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Wie war das wirklich mit dem Mauerfall? Der letzte SED-Generalsekretär Egon Krenz schildert in dem Buch "Wir und die Russen" seine Sicht auf die Geschichte - und die ist eigenwillig.
Christian Rabhansl: "Wir und die Russen" titelt Egon Krenz seine Erinnerungen an die Tage rund um den Mauerfall 1989. Wer genau ist dieses "wir"?
Jörg Degenhardt: Dieses "wir" – das ist das Politbüro, das ist die SED-Spitze, vor allem Honecker und eben Krenz. Aber "wir" klingt erstmal nach mehr. Überhaupt der Titel, der ist zumindest unpräzise. "Wir und die Russen." In der DDR sprach man offiziell von Sowjetbürgern, "Russe" galt eher als abfällig. Begründung: Die Sowjetunion sei ein Vielvölkerstaat. Und schließlich hat das Buch nicht nur '89 im Blick, sondern es nimmt einen langen Anlauf, der zurückreicht bis in die Jugendzeit des jetzt 82-jährigen Autors. Eigentlich müsste das Buch heißen: "Der große Bruder als fremder Freund - Die DDR-Führung und ihr Verhältnis zum Kreml, oder: Das große Missverständnis: Gorbatschow und das Ende der DDR."

Musterschüler DDR

Rabhansl: Okay, das wäre ein sehr langer Titel. Also um was geht es? Um eine Abrechnung mit Gorbatschow?
Degenhardt: Auch, aber nicht nur. Krenz betont immer wieder die Freundschaft zur Sowjetunion, ohne sie hätte es 40 Jahre DDR nicht gegeben – und ihn mit seiner Karriere übrigens auch nicht, sage ich … Umgekehrt war die DDR der Musterschüler unter den Warschauer-Pakt-Staaten.
Lassen Sie mich eine Episode wiedergeben, die Krenz schildert: Die Sowjetunion hatte 1985 wegen einer schlechten Ernte von der DDR eine Hilfslieferung von einer Million Tonnen Kartoffeln gewollt. Eine Fracht von der Hälfte sei organisiert worden. Dafür habe man im Westen für Devisen extra ordentliche Säcke besorgt. Doch dann kam aus Leningrad die Meldung, dass die Kartoffeln verfaulten, Entladung und Abtransport klappten nicht. Da sag ich nur: Bitte keinen Hochmut, Herr Krenz, auch in der DDR gab es solche Fälle. Tomaten verrotteten auf dem Müll, aber im Laden fehlte der Ketchup, sozialistische Planwirtschaft eben. Das schreibt Krenz natürlich nicht.

Gorbatschow: eine gespaltene Persönlichkeit?

Damit sind wir bei Gorbatschow, bei Perestroika und Glasnost. In Moskau habe man eigene Interessen verfolgt und am Ende die DDR als Ballast gesehen, und den habe man abwerfen müssen, um die Sowjetunion zu erhalten. Krenz, schwer enttäuscht, gibt Gorbatschow eine Mitschuld an der Entwicklung, er besitze kein strategisches Denken, er hält ihn für eine in sich gespaltene Persönlichkeit.
Bei einer Lesung aus seinem Buch im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin hat Krenz gesagt: "Im Westen als einer der Väter der deutschen Einheit hochgejubelt, in Russland nicht selten 'Symbol des Niedergangs' und bei früheren Bewunderern hierzulande meist ein 'Wandler vom Hoffnungsträger zum Renegaten'. Das Tragische an seinem Leben: Die NATO nutzte seine Politik eiskalt aus. Sie zog ihn über den Tisch mit dem Resultat, dass ihre Truppen heutzutage annähernd dort stehen, wo sie sich befanden, als der Große Vaterländische Krieg begann."
Gemeint ist der Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion. Das ist Krenz übrigens auch ganz wichtig. Wie sich der Westen heute gegenüber Moskau verhält. Gerade deutsche Politiker müssten da einen anderen Ton anschlagen. Zusammenarbeit statt Sanktionen.

Egon Krenz lässt die Mauer fallen

Rabhansl: Das ist etwas erwartbar. Was erfahren wir Neues in dem Buch?
Degenhardt: Ja, wir sind noch immer im Jahre '89. Und eigentlich verdanken wir die Öffnung der Grenze am 9. November Egon Krenz. Sagt Egon Krenz. Das Reisegesetz war ja unter seiner Verantwortung auf den Weg gebracht und wäre am nächsten Tag sowieso in Kraft getreten. Aber dann kam die bekannte Schabowski-Pressekonferenz, die Menschen in Ost-Berlin drängten an die Mauer. Krenz hat diesen Abend im ZDF so beschrieben: "Als Mielke mich informiert hatte, hab ich ihm gesagt, na ja, wir wollten ja am 10. ohnehin die Grenzübergänge öffnen; dann werden wir uns ja mit der Bevölkerung nicht noch anlegen und dann müssen wir schon die Schlagbäume hochmachen." Allerdings ist nichts bekannt über entsprechende Befehle an die Grenzoffiziere, die Schlagbäume hoch zu machen.
Dass alles friedlich blieb, auch das rechnet Krenz sich als Verdienst an. Den Einsatz der Schusswaffe durch die Sicherheitskräfte habe er nämlich kategorisch verboten. Die Menschen wollten aber nicht nur reisen, sondern etwa auch freie Wahlen, Pressefreiheit, überhaupt Demokratie, das spielt bei ihm keine Rolle.

Gerechtes Urteil über Honecker

Rabhansl: Räumt er irgendwelche Fehler auch ein, nachdem er sich schon alles gut anrechnet?
Degenhardt: Ja, er spricht mal von Sünden und verpassten Chancen, man habe vom Leben überholte Dogmen verteidigt, statt mit den kritischen Geistern zu reden. Konkreter wird es bei Honecker. Er habe seine beträchtlichen Differenzen zu ihm zu spät und zu inkonsequent ausgetragen. Er, Krenz, setzt sich aber auch für ihn ein, für ein gerechtes Urteil über Honecker, der doch immer wieder versucht habe, seine eigenständige Deutschlandpolitik zu machen, auch wenn dies in Moskau nicht immer gut ankam.
Rabhansl: Insgesamt: Lohnt es sich, das Buch zu lesen?
Degenhardt: Durchaus. Wobei ich nachvollziehen kann, wenn jemand sagt, ich muss mir das nicht antun, ich hab in diesem Land, in dieser Diktatur Unrecht erlitten oder ich bin geflohen. Aber Krenz ist nun mal ein Zeitzeuge, einer der letzten aus der einstigen SED-Führungsriege, der noch lebt. Er ist für die Toten an der Mauer verurteilt wurden, hat im Gefängnis gesessen.
Seine Dokumente, seine Gesprächsprotokolle seine Beschreibungen, - das ist schon sehr umfassendes Material. Zum Beispiel über Verhandlungen und Kontakte nicht nur mit Moskau, sondern zwischen Ost-Berlin und Bonn, zwischen Ost-Berlin und München, der Milliardenkredit von Franz Josef Strauß, die Gespräche mit Helmut Kohl. Vielleicht hilft das Buch, wenn man ein wenig mehr erfahren will, von wem die Menschen im Arbeiter und Bauernstaat so lange regiert wurden und warum das Ende dann so kam, dass es uns heute als folgerichtig erscheint.

Egon Krenz: "Wir und die Russen. Die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau im Herbst 89"
Das Neue Berlin 2019
304 Seiten, 16,99 Euro

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