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Moskau gibt Straßburg grünes Licht

20.000 Beschwerden gegen Russland gehen beim Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg alljährlich ein. Nachdem Russland eine notwendige Reform des Gerichtshofs lange blockierte, hat es heute seine Zustimmung gegeben.

Von Martin Durm | 15.01.2010
    Kürzlich haben im Europarat ein paar Abgeordnete wie schon so oft Sanktionen gegen Russland gefordert. Weil Moskau die Menschenrechte verletze: in Tschetschenien oder Georgien. Und wie schon so oft haben die russischen Delegierten in Straßburg alles an sich abtropfen lassen.

    "Einmischung, innere Angelegenheiten, Recht auf Verteidigung - es sind die üblichen Schlagworte, mit denen Russlands Vertreter auf Kritik reagieren."

    Moskau hat nun mal seine Schwierigkeiten mit Straßburg. Und umgekehrt natürlich Straßburg mit Moskau. Seit 1996 ist Russland in der paneuropäischen Staatenorganisation, die immerhin den Anspruch vertritt, in ganz Europa für Menschenrechte und Demokratie einzutreten. Jedes der insgesamt 47 Mitgliedsländer muss als Beitrittsbedingung die Europäische Konvention für Menschenrechte unterzeichnen. Russland hat das auch getan. Aber wie oft es dagegen verstößt, lässt sich allein schon in der Postannahmestelle des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ablesen.

    Ein Meter hoher Stapel Briefe geht da täglich bei Olga ein, die selbst Exilrussin ist und seit acht Jahren am Gerichtshof für Menschenrechte die Post aus dem Osten sortiert. Es sind fast immer handgeschriebene, seitenlange Klagen von Bürgern gegen den russischen Staat. Und Olga von der Poststelle stempelt, registriert, leitet weiter.

    Jeder Brief enthält eine Leidensgeschichte: von Familienangehörigen, die im Tschetschenienkrieg umgebracht wurden, von unmenschlichen Haftbedingungen in Gefängnissen, von Gewalt in der Armee - rund 20.000 Beschwerden gegen Russland gehen in Straßburg alljährlich ein.

    Häufig wird der russische Staat dazu verurteilt, den Klägern hohe Entschädigungen zu zahlen. Jedes Urteil ist ein Schlag ins Gesicht der russischen Staatsmacht. Denn allein schon die schiere Menge der Klagen sagt viel darüber aus, wie es bestellt ist um die sogenannte russische Demokratie und um deren Justiz. Das eigentlich Erstaunliche aber ist: Russland zahlt.

    "Wir sehen, dass sich Russland dem Gerichtshof gegenüber loyal verhält und mit uns kooperiert"

    … sagt Jeroen Schokkenbroek von der Abteilung für Menschenrechte beim Europarat.

    "Die Urteile des Gerichtshofs sind damit so etwas wie ein Anstoß für Russland, sein Rechtssystem zu reformieren und auch die Zustände in den Gefängnissen zu verbessern. Natürlich gibt es immer wieder mal Probleme, aber im Großen und Ganzen läuft das ganz gut."

    Im Grunde bleibt Moskau auch gar nichts anderes übrig, als die Straßburger Richtersprüche zu akzeptierten. Der Gerichtshof für Menschenrechte ist nun mal Teil des Europarats. Kein Mitgliedsland könnte sich den internationalen Gesichtsverlust leisten, Urteile des Menschenrechtsgerichtes zu ignorieren. Dafür rächt sich Russland eben auf andere Weise, in dem es die dringend notwendige Reform des Gerichtshofes blockiert; insbesondere den sogenannten Artikel 14, der die Bearbeitung der vielen Fälle vereinfachen würde. Die Reform wäre dringend notwendig angesichts von etwa 100.000 Beschwerden, die sich dort stapeln. Russland weiß um die Not der Juristen, die den Aktenberg einfach nicht mehr bewältigen können, sagt die Richterin Renate Jäger. Aber Russland bleibt stur.

    Im Grunde ist die Reformblockade, die Russland verhängt hat, nichts anderes als indirekter Protest gegen eine juristisch verankerte Menschenrechtspolitik in Europa. Das hehre Ideal der Europäischen Menschenrechtskonvention hat nun mal wenig mit russischen Machtinteressen zu tun.