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Mossul nach dem IS-Kalifat
Der Hunger und die Angst vor der Rückkehr

Gut eine Woche nach der Einnahme von Mossul durch die irakische Armee und verbündete Truppen bleibt die Lage dort angespannt. Viele Flüchtlinge warten mit einer Rückkehr - denn noch immer gibt es vereinzelt Gefechte. Doch die Sicherheitslage ist nicht der einzige Grund für ihr Zögern.

Von Martin Gerner | 18.07.2017
    Die Überreste eines Posters der Terrormiliz Islamischer Staat hängt nahe eines Zugangs zur Altstadt von Mossul.
    Die Überreste eines Posters der Terrormiliz Islamischer Staat hängt nahe eines Zugangs zur Altstadt von Mossul. (dpa / Andrea DiCenzo)
    Vereinzelte Gefechte in Mossul gibt es auch nach dem Fall des sogenannten IS-Kalifats noch. Während im Ost-Teil der Innenstadt wieder Waren und Menschen auf den Straßen zirkulieren, liegt die historische Altstadt westlich des Tigris in Trümmern.
    Viele Menschen leben auf der Straße, ohne ein Dach über dem Kopf, so dieser kurdische Journalist. Er führt ausländische Reporter in die umkämpfte Stadt. Er ist klein. Mit Bart. Aufmerksam, aber auch erschöpft von den letzten Tagen.
    "Es grenzt an totale Zerstörung. Alles liegt in Ruinen. Man kann den Tod riechen. An vielen Stellen liegen Leichen und menschliche Kadaver. Körperteile ragen unter Ruinen hervor. Die Menschen sind total erschöpft, ausgemergelt. Oft bis auf die Rippen ausgehungert."
    "Du verlierst deine normalen menschlichen Instinkte"
    Nicht nur der IS war zuletzt eine Gefahr. Auch Bomben aus der Luft, oft von US-Militär abgefeuert:
    "Es wurde viel aus der Luft bombardiert. Manchmal schlug es nur wenige Meter von uns ein. Auch gab es Risiko durch friendly fire. Das heißt: Alle, die gegen den IS kämpften, mussten aufpassen, dass sie sich nicht gegenseitig erschießen."
    Der Krieg in Mossul hat ihn verändert.
    "Du verlierst deine normalen menschlichen Instinkte. Alles wird irgendwie Routine."
    Nachts werden Rechnungen beglichen
    Vor allem nachts werden jetzt Rechnungen beglichen. Nachbarn, Milizen oder irakisches Militär rächen sich an mutmaßlichen IS-Kämpfern und -Sympathisanten. Sameer Hasan hat an der Uni Mossul seinen Doktor in Kunstgeschichte gemacht. Ich treffe ihn in seinem Büro in Kirkuk:
    "Noch schlimmer als die Zerstörung der Stadt und der Denkmäler ist, was der Krieg im Kopf anrichtet: Viele Menschen haben Söhne, Kinder oder Angehörige verloren. Sie sehnen sich nach Revanche, nach Rache. Andere glauben nach wie vor an Daesh, also den IS."
    Irakische Zivilisten stehen am 24.06.2017 an einer Ausgabestelle für Hilfsgüter in al-Mansur, West-Mossul an. 
    Ausgabe von Hilfsgütern in Mossul. (dpa / Andrea DiCenzo)
    Anfangs, so Hasan, habe der IS den Menschen Versprechungen gemacht. Als nach sechs Monaten die Schulen zu Klassen für den bewaffneten Kampf umfunktioniert wurden, Frauen vollverschleiert gehen mussten und die Nutzung von Internet und Handys verboten wurden, habe es für viele ein böses Erwachen gegeben.
    "Telefonieren war bald streng verboten. Mein Bruder versteckte deshalb die Einzelteile des Handys an Orten, wo der IS sie nicht finden würde: Die Batterie an einem Ort, das Gerät an einem anderen und die SIM-Karte trug seine Frau in ihrem Büstenhalter. Zum Telefonieren schickten sie ihre Kinder vor die Tür. Dort sollten sie so viel Krach machen wie möglich, um die Leute vom IS abzulenken. Eine Nachbarsfrau hat so telefoniert, aber sie wurde erwischt. Sie haben sie getötet."
    Flüchtlinge trauen der Lage noch nicht
    Der IS war skrupellos. Vereinte Nationen und Menschenrechtler werfen jetzt allerdings auch der irakischen Regierung vor, in den letzten Tagen nichts gegen die Selbstjustiz von Bürgern, siegreichen Milizen und irakischen Streitkräften unternommen zu haben. 26 Menschen habe man nur noch tot aufgefunden. Die Leichen an den Augen verbunden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Für viele dieser Toten trage die irakische Armee die Verantwortung. Wenn die Vorwürfe zutreffen, wären es Kriegsverbrechen. Bagdad streitet bisher alles ab.
    Die Flüchtlinge in den Lagern trauen dem Schweigen der Waffen vorerst nicht, so diese jungen Frauen:
    "Bis jetzt ist es zu unsicher zurückzukehren. Es gibt weiterhin viele Leute in Mossul, die mit dem IS sympathisieren. Davor fürchte ich mich. Meine Familie bleibt erst mal in den kurdischen Gebieten hier, das ist sicherer."
    Diese junge Frau ist ebenfalls geflüchtet mit Familie. Sie muss damit rechnen, in den Fokus kurdischer Sicherheitsdienste zu geraten.
    "Unser Onkel hat aufseiten des IS gekämpft. Als die Peschmerga ihre Gegenoffensive starteten, zwang er Teile unserer Familie, unter IS-Herrschaft zu bleiben. Später wollte er uns zwingen, mit nach Rakka zu gehen, der Hochburg des IS in Syrien. Da sind wir geflohen."
    Kein Plan zum Wiederaufbau?
    In den Flüchtlingslagern finden Opfer und Täter sich nun Zelt an Zelt wieder. Im zerstörten Mossul Tür an Tür. Rodi, der kurdische Journalist, spricht täglich mit vielen von ihnen. Auch das US-Militär, findet er, sei für die aktuelle Lage mitverantwortlich.
    "Das US-Militär hat beim Kampf um Mossul zugelassen, dass sich viele lokale Milizen bewaffnen. Ob lokale Politiker, Parlamentarier oder Stammesführer - allen hat man erlaubt, sich mit Waffen auszurüsten. Und man hat diese Milizen mit staatlichem Geld bezahlt. Die Folge: jetzt gibt es zunehmend Konflikte zwischen diesen Milizen."
    Ein Plan die noch Hungernden rasch zu retten, verfeindete Parteien an einen Tisch zu bringen, den Wiederaufbau zu koordinieren, fehlt bislang offenbar.
    "Die Regierung hat keinen Plan, um Leben und Wiederaufbau in Mossul zu garantieren. Das Ausmaß der Katastrophe in Mossul erscheint mir derart groß, dass ich vermute, die irakische Armee wird daran scheitern."