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Motor der bundesdeutschen Geschichte

Der Marburger Historiker Eckart Conze hat im Jahr 19 nach dem Mauerfall eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart geschrieben. Wer das Werk in die Hand nimmt, wird eine Eigentümlichkeit ausmachen: Der Autor entdeckt ein Grundmotiv der deutschen Nachkriegsgeschichte, das wie ein Basso Continuo die Entwicklung des Landes von Tag eins bis in die Gegenwart prägt.

Von Jürgen Weber | 18.05.2009
    Nach der selbstverschuldeten Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und den von Not und Entbehrungen geprägten Nachkriegsjahren wollten die Deutschen nichts so sehr wie individuelle, gesellschaftliche und politische Sicherheit. Dies ist für den Marburger Historiker Eckart Conze der Schlüsselbegriff schlechthin, um die wesentlichen politischen Entscheidungen und Weichenstellungen der vergangenen 60 Jahre in einen Erklärungszusammenhang zu bringen. Das Streben nach Sicherheit war demnach die treibende historische Kraft, die über alle Kanzler- und Regierungswechsel sowie Dekadengrenzen hinweg wirksam war und der jüngsten deutschen Zeitgeschichte ihr Profil verlieh.

    Da ist zunächst das Sicherheitsstreben der 1950er-Jahre, wie es angesichts der erwarteten und dann ausbleibenden Katastrophe zum Ausdruck kommt. Da ist die Hoffnung, ja der Glaube an die Sicherheit von Wachstum und Fortschritt, der die 1960er- und frühen 1970er-Jahre prägte. Da sind die 70er-Jahre, in denen die Zukunftssicherheit erschüttert wird, die sich aber auch als Jahrzehnt der "inneren Sicherheit" fassen lassen. Selbst für die 1980er-Jahre können wir wichtige Entwicklungen unter dem Paradigma der Sicherheit herausstellen, nicht zuletzt die internationale Sicherheitspolitik im Zeichen von NATO-Nachrüstung und Friedensbewegung. Die deutsche Vereinigung und ihre Folgen haben dann nicht nur die Ostdeutschen verunsichert, sondern brachten auch in den "alten" Bundesländern gewachsene Sicherheiten ins Wanken.
    Um gleich eine nahe liegende Befürchtung zu zerstreuen: Conzes Geschichte der Bundesrepublik verliert sich keineswegs in Thesen und Abstraktionen. Die Fülle der historischen Geschehnisse sortiert er nicht danach, ob sie in dieses Raster passen oder nicht. Ganz im Gegenteil: Conze will dem Leser nur diesen spezifischen soziokulturellen Orientierungshorizont vor Augen führen, der Wähler und Gewählte in Deutschland schon immer beeinflusst und die praktische Politik bestimmt hat und das nicht nur anlässlich Adenauers berühmtem Wahlslogan von 1957 "Keine Experimente".

    Ansonsten macht sich der Autor nicht zum Sklaven einer starren Leitidee zur Ordnung des historischen Materials. Er pflegt vielmehr den Ton der großen Geschichtserzählung über Personen, wichtige Weichenstellungen, Machtkonflikte. Haupt- und Staatsaktionen werden dabei ebenso ausführlich abgehandelt wie die Entwicklung des Konsum- und Freizeitverhaltens, der Lebensstile der Bundesbürger und der Alltagskultur der Gesellschaft insgesamt. Der Autor schildert eingehend die Leistungen und Fehler der Bundeskanzler und ihrer Regierungen, von Adenauer bis Merkel, wie er sie in der Rückschau sieht - durchaus pointiert, wo er dies für nötig hält, aber immer sachlich und fair. Conze erzählt die Geschichte der Bonner Republik nicht einseitig von ihrem offenkundig erfolgreichen Ende her, die in der Wiedervereinigung des geteilten Landes kulminierte, sondern - wie er betont - immer auch im Blick auf die Genese gegenwärtiger Problemlagen der Berliner Republik zum Beispiel auf dem Feld der sozialen Sicherungssysteme.

    Letztlich war das System der sozialen Sicherung, das in der Ära Adenauer entstand, ein Schönwetter-System. Hatte der Ausbau der sozialen Sicherung der Unionsregierung in den 1950er-Jahren einen überwältigenden Wählerzuspruch beschert, so waren seit den 1970er-Jahren alle Parteien damit konfrontiert, dass der Sozialstaat sich verändernden Bedingungen angepasst werden musste, was nichts anderes hieß, als das Leistungsniveau zu reduzieren.
    Dass anfangs der demographische Faktor in den neu gestalteten Rentenmechanismus von 1957 nicht eingebaut wurde - "Kinder bekommen die Leute immer", meinte Regierungschef Adenauer damals, wird heute immer wieder kritisiert. Erfreulicherweise versteht sich Conze aber nicht als Besserwisser im Gewande des Historikers. Er will primär erklären und erwähnt in diesem Zusammenhang den aus dem Wirtschaftswunder geborenen Optimismus breiter Bevölkerungsschichten und ihre bis in 1970er-Jahre anhaltende Zukunftsgewissheit. Adenauers Rentenreform stabilisierte die junge Demokratie. Daran - so Conze - bestehe kein Zweifel.

    Zum ersten Mal in ihrer Geschichte konnten die Deutschen stabile politische Verhältnisse, ein gewisses Maß an Wohlstand und sozialer Sicherheit mit einem freiheitlich-demokratischen System in Verbindung bringen.
    Als klassisches Beispiel allerdings für die politische Fragwürdigkeit von einfachen Fortschreibungen vergangener Erfolgsdaten kritisiert Conze in diesem Zusammenhang die Rentenreform von 1972, also zur Zeit der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt. Die Parteien übertrumpften sich damals mit der Forderung und Ankündigungen sozialer Wohltaten. Es war Bundestagswahlkampf, und dass die Leistungskraft der Volkswirtschaft einmal abnehmen könnte, wollte niemand glauben. Fünf Prozent Wachstum jährlich hielt man für gesichert.

    Auch bei Conzes Auseinandersetzung mit den anderen großen Fragen der bundesdeutschen Geschichte - Westintegration, Wiederbewaffnung, Vergangenheitsbewältigung, neue Ostpolitik und so weiter, verbindet der Autor bestechende Sachkenntnis mit stilistischer Eleganz, die die Lektüre des Buches zu einem Genuss machen. Diese souverän verfasste Synthese der Erträge der weit verzweigten sozialwissenschaftlichen und zeithistorischen Forschung ist für den Kenner interessant und kann zugleich auch ein breiteres Publikum ansprechen. Dem Autor ist das Kunststück gelungen, die Ergebnisse der häufig sehr kleinteiligen historiografischen Forschungen wesentlich besser auf den Punkt zu bringen, als dies die verwendete Literatur selbst vermag, auch wenn er zuweilen vielleicht allzu detailverliebt Daten zur Konjunkturentwicklung, zum Bruttosozialprodukt, Wirtschaftswachstum und so weiter ausbreitet.

    Gut zweihundert von über neunhundert Textseiten widmet der Autor der Wiedervereinigung und der weiteren Entwicklung der neuen, größeren Bundesrepublik bis heute. Bis in die späten 1980er-Jahre greift Conze Aspekte der DDR-Geschichte nur dort auf, wo diese in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der bundesdeutschen Geschichte stehen - Deutsche Frage, Kalter Krieg. Dennoch sieht er im SED-Staat mehr als nur eine Fußnote der Geschichte, weil dessen Folgewirkungen langlebiger sind als viele Beobachter das 1990 vermutet hatten. Entsprechend ausführlich befasst sich Conze mit der Frage, warum die DDR vierzig Jahre bestehen konnte, obwohl das SED-Regime niemals über eine demokratische Legitimität verfügt hat. Die sowjetische Bestandsgarantie und der eigene Unterdrückungsapparat waren wichtig, aber das war nicht alles. Hinzu kamen nach Conze politische Angebote der SED, die auf eine gewisse Zustimmung in der Bevölkerung stießen:

    Vier Strategien - man kann auch von Legitimitätschancen sprechen - sind dabei zu unterscheiden: der Antifaschismus, die Friedensidee, der Sozialismus und die Wohlfahrtsorientierung. Alle vier wirkten über den Untergang der DDR hinaus.
    Diese Legitimitätsstrategien der Machthaber entpuppten sich zwar bei näherem Hinsehen als Mythen - hier hätte man sich vom Autor noch einige relativierende Ausführungen gewünscht. Doch unbestritten haben sie trotzdem Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen und tragen bis heute zu einem verklärenden Bild der DDR bei.

    Es ist darauf nichts von der Repression und dem von Mangel und menschlicher Erniedrigung geprägten Alltag der DDR zu erkennen, stattdessen zeigt es den Sicherheit und Geborgenheit stiftenden Staat, den man in der Gegenwart so sehr vermisst.
    Diese Sicherheit oder soziale Geborgenheit allerdings hatte für die Menschen in der DDR ihren Preis - nämlich Unterdrückung und Freiheitsverzicht. Von einem freiwilligen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten konnte daher keine Rede sein, wie der Autor nachdrücklich feststellt. Conzes Buch ist große Geschichtsschreibung und wird sicherlich für lange Zeit Bestand haben.

    Das war Jürgen Weber über Eckart Conzes Buch: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. 1071 Seiten kosten 39 Euro 95.