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Motordoping im Radsport
Schauermärchen oder verdeckte Realität?

Motordoping im Radsport ist eine paradoxe Angelegenheit. Die Technik ist da, aber die Branche glaubt, dass es zu kompliziert ist, sie einzusetzen. Ein Stimmungsbild bei der Tour de France.

Von Tom Mustroph | 08.07.2017
    Ein UCI-Kommissar testet Räder bei der Tour de Suisse 2017 auf versteckte Motoren.
    Ein UCI-Kommissar testet Räder bei der Tour de Suisse 2017 auf versteckte Motoren. (imago sportfotodienst)
    So klingen Elektromotoren, wie sie im italienischen Empoli Alessandro Bartoli in Rennräder einbaut.
    "Sie schaffen zwischen 120 und 140 Watt, die am Hinterrad ankommen," erklärt Bartoli stolz.
    Motoren in Rädern von Radprofis sollten leiser sein. Sie bringen dann zwar weniger Leistung: 50 bis 80 Watt sollen die Motoren liefern, die der ungarische Ingenieur Istvan Varjas seit 2008 baut - zehn Jahre lang für einen Exklusivkunden, wie er später zugab, danach für alle. Basispreis: 7.000 Euro. Man muss sein Rad nur nach Budapest bringen und den Rahmen aufschneiden lassen.
    "Klar, die Technologie existiert. Wir sind in der Lage, zum Mars zu fliegen. Es gibt jegliche Art von Technologie," meint trocken Luca Guercilena, Rennstallchef von Trek Segafredo, dem Arbeitgeber von John Degenkolb.
    Um zum Mars zu fliegen, braucht es Raketen. Um eine Tour de France zu gewinnen, reichen 50 Watt mehr, die man ein paar Minuten einsetzt. Um die 400 Watt erreichen die besten Kletterer der Tour bei Bergetappen. Ein Motor ist ein Anreiz.
    Deshalb kontrolliert der Weltradsportverband UCI. Er kontrolliert fleißig, über 20.000 Mal allein in der letzten Saison.
    Keine Funde bei der Tour de France
    Hier bei der Tour übernimmt Luc Geysen den Job. Jeden Morgen und jeden Nachmittag fährt der UCI-Kommissär mit einem Tablet-Computer über die Rahmen der Rennmaschinen. Er erzeugt ein Magnetfeld und kann über die unterschiedlichen Widerstände erkennen, welche Materialien verbaut sind. Die Auswertung besorgt eine Software.
    Geysen ist ein heimlicher Star der Branche. Denn er war es, der im Rad der belgischen Cross-Juniorin Femke van den Driessche im letzten Jahr einen Motor aufspürte - den einzigen Fund überhaupt.
    Bei der Tour de France fand Geysen noch nichts. Darüber geben die Communiqués am Ende jeder Etappe Auskunft. 177 Räder hat Geysen an einem Tag kontrolliert, 233 am nächsten. Insgesamt 3.500 bis 4.000 Kontrollen sollen es bei der Tour werden. Die Kontrollen haben einen Abschreckungseffekt.
    "Ich glaube, dass die UCI im Moment ein Ausmaß an Kontrollen durchführt, das es unmöglich macht, auf Profi-Niveau ein Problem dieser Art zu haben," sagt Luca Guercilena. Niemand aus der Branche mag so recht an Elektromotoren im Rennen glauben.
    "Im Radsport kann keiner die Klappe halten"
    "Motoren in den Rädern? Vielleicht haben das einzelne mal gemacht, vor sieben oder zehn Jahren. Ich weiß das nicht. Es gab da Gerüchte. Aber seitdem ist es einfach nur ein Witz, einfach Zeitverschwendung. Ich kann nicht glauben, dass das einer macht."
    Brian Holm, Ex-Profi und sportlicher Leiter beim Kittel-Rennstall Quickstep, hat eine einfache Erklärung dafür, dass niemand sich an die Motoren heranwagt. Die Logistik sei zu aufwendig, und außerdem ist der Radsport ein Klatschverein.
    "Weißt du, im Radsport, da kann eh keiner die Klappe halten. Nach einem Jahr geht es rum. Maximal fünf Jahre kannst du im Radsport ein Geheimnis wahren. Das ist mit Doping passiert, das kam raus."
    Schwatzbude statt Omerta - eine ganz neue Sicht auf den Sport. Machen wir dennoch den Test. Wie würde es gehen, ein manipuliertes Rad in die Tour de France zu bringen? Erkennt man den Motor von außen?
    Mario Lexmüller, Mechaniker bei Bora: "So, wie ich das System aus dem Internet kenne, siehst du es nicht. Aber die andere Sache ist, dadurch, dass wir in einem Team vier Mechaniker sind, die alle mit denselben Rädern arbeiten. Also, wenn der Fahrer sagt, er will es haben: Er kriegt es nicht rein."
    Gut, die offiziellen Mechaniker bauen es nicht ein. Zuviel Angst, dass die Sache auffliegt, und der Arbeitsplatz verloren geht. Wenn ein Fahrer ein manipuliertes Rad aber mitbringt?
    "Es werden alle Ersatzmaschinen kontrolliert, jeden Tag. Es werden alle Wettkampfräder jeden Tag kontrolliert, und teilweise auch nach dem Zieleinlauf noch mal, also: Die Chance - das geht gegen zero."
    Manipulierte Räder einschleusen?
    Ok. Aber wie wäre es damit, unterwegs ein Rad einzuschleusen? Einfach mal anhalten am Straßenrand, ein manipuliertes Rad auf den Dachgepäckträger laden - und dann zurück zur Rennstrecke?
    "Es würde auffallen. Du hast 21 Teams hier, du hast insgesamt 24 Konvoiautos - das sieht einer. Irgendeiner sieht es immer oder macht ein Handyvideo. In der heutigen Zeit, irgendwo mal kurz anhalten und die Räder austauchen mit irgendwem an Straßenrand, das geht nicht."
    Es ist zumindest eine schwierige Operation. Und auch die Leistungsdaten weisen nicht auf Sprünge hin, die auf ein An- oder Abschalten von Motoren zurückgehen, meint zumindest Guercilena, gelernter Sportwissenschaftler und jetzt Rennstallchef bei Trek.
    "Wenn man sich die Leistungsdaten in den Rennen anschaut, dann gibt es dort nichts derart Auffälliges. Im Vergleich zu den Durchschnittswerten des Pelotons sieht man, dass alle innerhalb des Limits bleiben. Ich sehe da nichts, was den Zweifel befördern könnte."
    Alles steht und fällt aber auch mit der Wirksamkeit der UCI-Kontrollen. Sind die wirklich perfekt? Nur ein einziger Motor bisher entdeckt, bei einer Crossjuniorin? Die Story, dass sie die einzige ist, glaubt wiederum auch niemand.
    Bessere Tests würden die Glaubwürdigkeit erhöhen
    Wie man besser kontrollieren kann, daran arbeitet gegenwärtig eine Gruppe von Ingenieuren um Gunther Steenackers in der Uni Antwerpen. Sie arbeiten mit Wärmekameras.
    "Wir nutzen den Motor selbst als eine Hitzequelle. Wir setzen spezielle Infrarotkameras ein, die das Infrarotbild der Hitzeproduktion messen können," erklärt Steenackers. Auch ganz geringe Temperaturunterschiede sind mit den Geräten der Wissenschaftler messbar.
    "Wir setzen die Technik auch bei Schokolade ein, wo man nicht viel Hitze zufügen kann, sonst schmilzt die Schokolade. Wir erhitzen dann die Struktur, und mit nur einem oder zwei Grad mehr können wir Unterschiede im Material entdecken."
    Sogar eine Integration der Technik in die Zielfotoapparatur ist theoretisch denkbar.
    "Wir machen 200 Bilder pro Sekunde. Danach kann man analysieren. Und wenn man 200 Bilder pro Sekunde macht, sollte man die Motoren entdecken, weil das Rad auf mehreren Bildern sein wird."
    Wärmekameras wurden von einem italienisch-französischen Journalistenteam im letzten Jahr eingesetzt. Sie fanden im Profipeloton Hitzeentwicklungen, die auf Motoren hindeuteten. Ihre Wärmekameras waren wesentlich schlechter als das Equipment der Forscher in Antwerpen, versichert Steenackers. Sein Team steht immerhin mit der UCI in Verbindung. Bessere Tests würden die Glaubwürdigkeit erhöhen, selbst wenn die Logistikprobleme beim Motordoping doch höher sind als die beim Doping mit Medikamenten.