Donnerstag, 28. März 2024

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Mr. Bingham sammelt Meilen

Up in the Air heißt dieser dritte Roman des amerikanischen Kritikers Walter Kirn. Was "up in the air" ist, das ist in der Schwebe, völlig ungewiss, das hängt in der Luft. Auf diese Weise in der Luft lebt Mr. Bingham, der Held und Ich-Erzähler, und sammelt Meilen. Wann immer er nämlich unterwegs ist, lässt er sich für seine Reisen, Übernachtungen in Hotels und Einkäufe Bonus-Flugmeilen gutschreiben.

Hartmut Kasper | 10.06.2003
    Und unterwegs ist er viel, denn er arbeitet bundesweit als Career Transition Counseler, als Laufbahnübergangsberater also, was im Klartext heißt: Firmen engagieren ihn, damit er gekündigten Mitarbeitern die Kündigung als Chance auf charakterliche und geistige Weiterentwicklung näherbringt. Deswegen gilt: Je mehr Kündigungen, desto mehr Aufträge, je mehr Aufträge, desto mehr Prämienmeilen. Und da, wie wir lernen, im Amerika der Gegenwart gern und viel gekündigt wird, steht Mr. Bingham kurz vor der magischen Grenze von einer Million.

    Binghams Leben hat sich buchstäblich in die Luft verlagert: Wie einst die Lurche an Land gekrochen sind, so hat er sich als Vertreter einer neuen Spezies Airworld, die Luftwelt, als Biotop erobert. Aber wenn in und mit ihm der Mensch flügge geworden ist, sehr glücklich macht das Leben hoch oben nicht.

    Unzufrieden mit seiner Tätigkeit als Kündigungsversüßer, hat er selbst längst die Kündigung hinterlegt; seine Ehe ist geschieden, die promiskuitive Schwester steht kurz vor ihrer dritten, wieder wenig versprechenden Hochzeit; diverse berufliche Pläne verlaufen ins Leere. Auch sein Buchprojekt scheitert. "Die Werkstatt", so sein Arbeitstitel, mal als Motivations-Fabel, mal als Roman, mal als Parabel auf die Geschäftswelt angekündigt, wird am Ende für ein Plagiat gehalten. Sogar die Beziehungen zu diversen, durchaus beischlafwilligen Unterwegsbekanntschaften entwickeln sich unbefriedigend.

    Viele weibliche wie männliche Figuren huschen durch die Erzählwelt, ohne feste Konturen zu gewinnen. Kollegen und Konkurrenten tauschen mit ihm Gerüchte aus; eine anonyme Bande von Computerhackern macht sich an Binghams Kreditkarten und Meilenkonto zu schaffen und droht, ihm auf digitalem Weg die Identität zu stehlen; schemenhaft tauchen Prominente auf wie General Norman Schwarzkopf, Hillary Clinton oder Margret Thatcher, von der man immerhin erfährt, dass sie die ehemalige Parteivorsitzende der Tories ist.

    Doch keine von ihnen gewinnt etwas wie ein Eigenleben. Sie existieren nur als Redepartner des redseligen Mr. Bingham. Am Ende hat der natürlich die eine Million Meilen voll, nur gibt - wir ahnen es längst - auch das seinem Leben nicht mehr den tieferen Sinn. Ja, dieser Mr. Bingham ist einsam, obdachlos und so allein, wie es früher die Seemänner in den Liedern von Freddy Quinn waren. Würde uns nun dieses ganze Lamento wenigstens mit der sonoren Stimme dieses Freddy Quinn vorgetragen oder eines anderen Trübsalsvirtuosen, dann hätte es eine ebenso schlichte wie schöne Geschichte sein können. Schlicht jedoch wollen weder Mr. Bingham noch sein Schöpfer Kirn sein.

    Ihr Text versinkt in einer ungeheuer kunstfertigen Eloquenz. Dazu hat der Autor seinem Ich-Erzähler ein Cassetten-Wortschatztrainingsprogramm namens "Verbal Edge" ans Ohr gedichtet, mit dem sich der Protagonist schulen soll. Allerdings kann es nicht die Alleinschuld dieses Lehrwerks sein, wenn dem Leser Sätze beschert werden wie:

    "Gregory packt seine Knie und erhebt sich langsam und ruckartig wie ein Hummer vom Sofa". Statt "Auto" heißt es: "unsere uramerikanische Schwarzmasse auf Rädern"; und als Morris Dwight, der dann doch Nicht-Verleger des Binghamschen Fabelparabelwerks durch das Zimmer geht, schildert der Ich-Erzähler das so:

    "Zuerst habe ich gedacht, er würde humpeln, aber in Wahrheit ist es eine grundlegende Störung zwischen den zwei Hemisphären seines eiförmigen Körpers. Die linke Körperseite ist der Sitz seiner Kraft und Vitalität, die rechte ist bloß ein Tramper, ein Zusatz, sein siamesischer Zwillingsbruder, den er in sich aufgesogen und verdaut hat."

    Hier hätte man sich eine Illustration gewünscht, wie man sich die von der linken Körperseite verdaute rechte Körperseite denn nun in ihrem Gang vorzustellen habe. Nicht einmal der doch recht ansehnliche Wortschatz der englischen Sprache genügt dem Meilensammler: Da "tipseltapseln" Figuren über die Bühne, ein Angestellter "flippfloppt in Rekordzeit" die Treppe hinunter, und wir dürfen Mr. Bingham ins "glimmerflitzblitzende Las Vegas" begleiten.

    Der Bingham-Sound will aus jedem einzelnen Satz ein kleines Kunstwerk machen, und in diesem Sound stelzen nun alle Figuren durch ihre Dialoge. "Wie geht es Mom?", fragt Bingham seine Schwester, und die antwortet:

    "Ach, weißt du - sie ist halt Mom. Sie momt sich durch." - Was immer das heißt. Kirns Roman steckt voller koketter Selbstbezichtigungen und Sentenzen, die wirken, als sollten hier dem postmodern geschulten Kritiker die Lobworte mundgerecht präsentiert werden. Da wird über Romane ohne Plot räsoniert, über den authentischen Text als Plagiat, oder darüber, dass die Entscheidungen, die wir treffen, wohl nicht mehr die eigenen sind, so dass Mr. Bingham verschwörungstheoretisch orakelt: "Ich glaube, wir werden längst ferngesteuert."

    Das ganze ist sicher satirisch gedacht, aber nirgends wird geklärt, wo und inwiefern sich die selbstgefällige Larmoyanz des Ryan Bingham von der epischen Kulturkritik Walter Kirns unterscheidet, wo Bingham Sprachrohr Kirns ist, wo dagegen sein zur Belustigung freigegebener Gegenstand.

    So bleibt ein Haufen Wortwitz, der keine Geschichte voranbringt. Und bei mancher Pointe meint man, Kirn noch an der Arbeit mit seinen Wörterbüchern zu sehen: Da findet Bingham einmal im Täschchen seiner Bettgenossin-in-spe diverse Pillen: "Was haben wir hier? Xanax. Darvocet. Vicodin. Wellbutrin. (...) Dexedrine. Lorazepam. Namen mit Klang und Erinnerung." Und er fragt sich: "Sind da die Dichter geblieben? In der Pharamindustrie?"

    Der Reiz ist groß, einmal nachzuschlagen, zum Beispiel in einem Beipackzettel für Kopfschmerztabletten, aber in diesem Fall glaube ich Herrn Bingham unbesehen: Verglichen mit diesem Roman ist wahrscheinlich jede sachdienliche Medikamenteninformation reine Poesie.

    Und was erschwerend hinzu kommt: Leider werden uns für die Lektüre dieses Romans nicht einmal ein paar Meilen gutgeschrieben.