Samstag, 20. April 2024

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Müller haut uns raus

Aber Müller hat dann doch keinen rausgehauen, er hat es vorgezogen, am vorletzten Tag des Jahres 1995 zu sterben, vor ihm die unabsehbare Nachgeschichte seines Ruhmes als sozialistischer Dramatiker, in seinem Rücken die ratlose postsozialistische Hinterbliebenengemeinschaft der DDR in Auflösung. Und Jochen Schmitt, der Held von Jochen Schmidts erstem Roman, sitzt eines Abends im Theater bei einer Marathonlesung von Heiner-Müller-Texten auf Müllers Stammplatz, wie er aus gewissen Anzeichen schließen zu können glaubt, und zerbricht sich, während er versucht, von hinten interessant auszusehen, den Kopf darüber, wer oder was ihn eigentlich reingeritten hat in sein Unglücklichsein, an dessen unscharfen Rändern entlang sich der Roman von Ostberlin über Brest und Valencia gemächlich bis nach New York bewegt. Es ist die tour de force einer tiefen und unglücklichen Liebe zum Schreiben, das Porträt eines jungen Mannes als Autor, der seinem Scheitern zielstrebig entgegentreibt.

Beatrix Langner | 10.02.2003
    ....weil ich mein Leben ja als gescheitert betrachte, meinen Alltag, is er ja, also, darüber schreibt man ja dauernd, wie unfähig man ist, glücklich zu werden im Alltag.... Die Arbeit besteht darin, seine Gefühlswelt zu entwickeln, bevor man schreibt, damit... es dann... für andere interessant ist, es zu lesen. Das ist so n Schreiben, in das man sich selber mit hineinwirft. Das ist eigentlich nicht mehr modern, weil man ja heutzutage irgendwelche Thriller lesen will mit einem interessanten plot und sich nicht dafür interessiert, wer dahinter steht. Das wird dann eben als autobiografische Literatur abgetan. Und dass der Held nun Autor werden will, naja, das darf man eigentlich nicht mehr, aber es ist eben ne universelle Metapher dafür, seinem Leben neu Sinn zu geben, und in dem Fall hab ich es mir eben nochmal erlaubt.

    Drei, vier Jahre nach Müllers Tod, mit dem das letzte Kapitel DDR-Literatur endgültig abgeschlossen ist, stehen Müllers Erben - auf provisorischen Podien in anarchistischen Ostberliner Gerätehallen und miefigen Kneipen - männlich, ledig, um die dreißig - und lesen einander Texte vor. Sie verachten Erfolg, sie lieben die kleinen Niederlagen des Alltags, um darüber lachen zu können, sie wollen Spaß mit und an einer Literatur, die so kurzatmig die existentiellen Abgründe unterm Berliner Abgashimmel durchhechelt, dass jeder noch so schwache Kalauer schon fast unter Ideologieverdacht gerät, einer Literatur, die die ästhetischen Barrieren zwischen Lesen, Hören und Schreiben mit wild entschlossenem Dilettantismus stürmt.

    Die Leute lieben das auch, glaube ich, dass man Leute sieht, die es nicht packen, aber auf so 'ne gewisse sympathische Art, mit der man sich identifizieren kann. Das ist glaub ich -wichtig, hat man gerne. Wenn da jetzt fünf Leute stehen, von denen man -weiß, dass sie sonst wie berühmt sind und soviel Erfolg haben und alles kriegen, -warum sollte man denen immer zuhören? Aber ich glaube, da kann ich ganz beruhigt sein, das -wird bei mir nicht passieren, dass der Punkt irgendwann mal eintreten sollte, denn die Mechanismen, die man aufgebaut hat, um unglücklich zu bleiben, die sind da viel stärker.

    Das Pathos der Geschichtsbrüche, der Müllersche Furor des deutschen Selbstekels kommt nicht vor auf den Berliner Lesebühnen, von denen es mittlerweile ein halbes Dutzend gibt - mit wachsendem Erfolg beim Publikum. 1999 gründete Jochen Schmidt mit drei anderen die "Chaussee der Enthusiasten", auf der seither jeden Donnerstag Literatur stattfindet.

    Es ist eben live-Literatur, live ist das eine, und als Text geht das andere, aber im Idealfall geht das zusammen, daran arbeitet man immer, dass man sich oweder hier noch dort verrät. Da gibt 's keinen Lektor, da gibt 's keinen Verlag, da gibt 's nur die Zuschauer als Bewertungsinstanz, und die irren sich meistens nicht. Das Verbindende an uns -war sicher, dass wir alle diese Art Literatur mochten, als Zuschauer, bei anderen Shows, die es gab vor uns. Na und dann musste es los gehen und dann überlegt man von Woche zu Woche, was kann man verbessern. Und ich war immer der Meinung, das Entscheidende, was man verbessern kann, sind die Texte. Wenn der eine 'n guten Text schreibt, und man ist hinter ihm dran, dann ärgert man sich eben, wenn er nicht so gut war, und gibt sich mehr Mühe. Das ist natürlich ein starkes Konkurrenzverhältnis, und das ist natürlich dann eingeflossen in den Roman, weil man nichts schreiben will, was einem peinlich sein muss vor den Kollegen.

    Jochen Schmidts Romandebut ist keine Lesebühnenliteratur, sondern die Kunst des Leichten. So unangestrengt komisch, ein so unprätentiöser Nachfahre des Rilkeschen Malte Laurids Brigg, dass man sich schon wundem müsste, wenn er dem Erfolg entginge, den sein Protagonist so witzig und genau verfehlt. Mit picarischer Treuherzigkeit stolpert dieser Held der fröhlichen Tristesse durchs Leben, er lernt Französisch in Frankreich, Spanisch in Spanien und Jiddisch in New York, kämpft mit Kohleöfen und Türschlössern, läuft seinen Freundinnen nach, sammelt sprachsüchtig fremde Wörter. Nur eins bleibt ihm unklar: Was alle diese Orte, Mädchen, Wörter mit ihm zu tun haben und mit seinen Erinnerungen an seine Kindheit in Ostberlin, mit Ferienlager und Pioniertuch und Brotbüchsen. Schließlich landet er - damit beginnt der Roman -mit einer halbseitigen Gesichtslähmung auf einer neurologischen Station. Die Diagnose ist schmerzhaft, aber eindeutig. Jochen Schmitt mit Doppel- T hatte das Erwachsenwerden verpasst, weil es unglücklicherweise mit der Wiedervereinigung zusammengefallen war. Irgendein Nerv hat daraufhin die beiden Hemisphären seines Gehirns entkoppelt.

    Wenn ein Neunzehnjähriger die restliche Welt eben noch so distanziert betrachtet, also auch die Wende, so etwas wie das Parteiensystem oder Wahlen gar nicht so richtig in sein Wertesystem einfließen lässt, das ist eben ausgefüllt von Heiner Müller, das ist schon ne typische Schicht von Leuten, für die die Wende eigentlich zu früh kam, oder zu spät. Also sie haben einfach in dem Moment, wo man sein Leben in die Hand nimmt, festgestellt, dass die Werte ganz schnell kippen können, und sind gar nicht auf die Idee gekommen, die Möglichkeiten, die man plötzlich hatte, zu nutzen.

    Schreiben als Therapie also? Eher schon Schreiben als Mittel, das Erwachsenwerden weitmöglichst hinauszuschieben, weil es diese Generation der jetzt Dreißigjährigen für immer von ihrer Kindheit in einem verschwundenen Land trennen wird. Jochen Schmidt hat darüber einen großartigen Roman geschrieben, der den Zonenkinderkitsch des neuen Ostkults weit hinter sich läßt und dennoch keinen Zweifel lässt an seiner kulturellen Identität.

    In Berlin lebt man in einer idealen Situation, da ist man ja eigentlich cool, wenn man ausm Osten kommt. Wenn man in Schwaben lebte, würde man es verstecken eher. Also ich kenn sehr wenig von Westdeutschland, merk ich, ich war in New York, in Hongkong, Moskau und Frankreich, jetzt war ich das erste Mal in Heilbronn, oder Würzburg oder Wiesbaden, man kann auch drauf verzichten, könnte man bösartig sagen. Weil man dieses Deutschland erst Mal in seine Koordinatensysteme aufnehmen muss, es ist da nicht automatisch drin, genauso wenig wie dieses Ostdeutschland im Koordinatensystem meiner westdeutschen Cousins drin ist. Es ist eben ne Fiktion zu denken, dass es zusammengehört und ne Arbeit, das auch zu schaffen. Da bin ich schon offen.