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Münchner Kammerspiele
Zärtliche Regie mit viel Freiheit

Johan Simons inszeniert das Stück "März" von Heinar Kipphardt. Dabei hat er sich nicht so sehr für Kipphardts Abrechnung mit der Psychiatrie interessiert, sondern mehr für die Begegnung zweier hochsensitiver, andersartiger Menschen, deren Empfindungsfähigkeit und Empfindlichkeit weit über das normale Maß hinaus geht.

Von Sven Ricklefs | 01.03.2014
    Einmal, da haben sie sich geküsst, dann später küsst er sie noch einmal, da wehrt sie ihn ab, einmal, da ist es fast, als liebten sie sich, körperlich, er ist da nackt, hält sich nur ein Handtuch vor, weil er gerade mal wieder gefallen ist, in das Wasserbecken in der Mitte des Raumes: Er also ist nackt, und er stößt sie so. Und am Schluss, am Schluss, da stehen sie in der Mitte des Beckens, nass bis auf die Haut und halten sich umschlungen und sein Pullover bedeckt auch ihren Kopf und ihre Wolljacke schlingt sich um ihn. Sonst aber, sonst stehen sie oft weit voneinander entfernt, er hoch oben und sie tief unten, oder anders herum, oder: der eine auf der einen Seite des Abgrunds und der andere auf der anderen.
    Regisseur Johan Simons hat sich von seiner Bühnenbildnerin Bettina Pommer für seine Theaterversion von Heinar Kipphardts Roman "März" einen klinisch hellen hochgestuften Krater in die Spielhalle der Münchner Kammerspiele bauen lassen. An drei Seiten gestaffelt sitzt das Publikum, auf einer Seite spielt zur Hauptsache das Geschehen, auf Stufen und am Wasser. Ans Wasser sind sie geflüchtet aus der Anstalt, der Dichter März und seine Freundin Hanna, geflüchtet aus dem Raum, in den sie die Gesellschaft weggesperrt hat, hinaus in die Freiheit, an der sie sich freuen, auch wenn sie dafür nur Worte finden, die ihnen wiederum diese Gesellschaft eingeflüstert hat:
    März: "Gemütlich"
    Hanna: "Schön und gemütlich."
    März: "Und still. Unser Heim."
    Eigentlich ist der Roman März ein im Dokumentarstil geschriebener Situationsbericht aus der Psychiatrie der 70er Jahre. Mit ihm warf der gelernte Arzt und Psychiater Heinar Kipphardt anhand der Dichterfigur März einen kritischen Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem vermeintlich Kranken oder Andersartigen und: Mit ihm verwies er die Verantwortung für psychotische Erkrankungen an eine krankmachende Gesellschaft zurück.
    Johan Simons allerdings hat nun in München nicht so sehr eine Patientengeschichte interessiert oder Kipphards Abrechnung mit der Psychiatrie, sondern die Begegnung zweier hochsensitiver, zweier andersartiger Menschen, deren Empfindungsfähigkeit und deren Empfindlichkeit weit über das normale Maß hinaus gehen. Und diese Begegnung, diese Geschichte hat er sich in einer eigenen Theaterfassung aus dem Roman herausdestillieren lassen.
    März: "Manchmal ist Ich sehr schwer."
    Trotzdem versuchen sich diese beiden Figuren daran, sich ein Ich zu verleihen, ein Ich zu leben und dabei zugleich ein Du zu suchen. Es ist wieder eine dieser menschenzärtlichen Arbeiten des Regisseurs Johan Simons, der dabei seinen beiden Schauspielern Sandra Hüller und Thomas Schmauser viel Freiheit gelassen hat: diesen beiden faszinierenden Experten für Figuren auf der Borderline. Praktisch spielen die beiden zweimal hintereinander die gleiche Szene, sprechen zweimal den gleichen Text. Unterbrochen wird das nur von der dritten im Bunde, von Silvana Krappatsch, die dem Geschehen die ganze Zeit kühl distanziert zuschaut, um dann im Mittelteil in den Ärztekittel zu schlüpfen und aus dem Dokumentenmaterial vorzulesen, aus der Krankenakte, aus Tagebuchnotizen, Zetteln, Aufzeichnungen. Während die erste Szene sehr vorsichtig war, tastend im Sprach- und Körpergestus, wird der Zuschauer nun nach dem Dokumentarmaterial noch einmal mit dem Gleichen in einer sehr viel gewaltigeren Variante konfrontiert. Jenseits der sogenannten Norm ist beides, jenseits von Regel, Tabu und Verbot, dort, wo sich Empfindsamkeit und Verletzlichkeit ihre eigenen Wege suchen. Und: Diese Wege in ihrer Zartheit oder in ihrer Aggression auszuhalten, ohne dafür gleich gesellschaftlich-anerkannte Katalysatoren zu suchen, dazu fordert dieser ebenso leise wie eindringliche Theaterabend auf.