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Mündigkeit beweisen und einfordern

Ob arabische Revolution, Protest gegen das Gebaren der Finanzbranche oder Demonstrationen gegen Atomkraft oder Stuttgart 21: Was Heinrich Böll zu Lebzeiten propagierte hat in der jüngsten Vergangenheit kaum einmal aktueller geklungen als im Jahr 2011.

Von Michael Schmitt | 12.01.2012
    Es ist ein Zufall – aber vielleicht bezeichnend -, dass gerade in den Tagen, als es in Stuttgart um die Volksabstimmung für oder gegen den Ausstieg der Landesregierung aus dem Bauprojekt "Stuttgart 21" ging, eine umfangreiche Sammlung von Heinrich Bölls Aufsätzen und Reden zu Politik, Literatur und Zeitgeschichte erschienen ist. Hunderte eng bedruckter Seiten mit Einlassungen eines kritischen Geistes, der von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zu seinem Tode im Jahr 1985 nicht müde wurde, als Staatsbürger eine Meinung zu haben und diese Meinung auch zu äußern. Und der lange vor der gern beschworenen Epochenschwelle von 1968 seine eigene Mündigkeit bewiesen und die seiner Mitbürger eingefordert hat.

    Eine gewisse Ironie bei den Ereignissen in Stuttgart liegt vielleicht darin, dass eine grün-rote Landesregierung, die ohne solche Vorkämpfer möglicherweise weder als Idee noch als Realität vorstellbar geworden wäre, vom mündig gewordenen Wahl-Volk nicht unterstützt worden ist. Aber vielleicht ist gerade das der Beweis für die fortschreitende Demokratisierung einer Gesellschaft, die sich, als Heinrich Böll zu veröffentlichen begann, erst einmal von den Denkmustern einer totalitären Herrschaft befreien musste. Und die beim Blick zurück auf die Nazis oder im Umgang mit zeitgenössischen politisch radikalen Kräften von Rechts oder Links bis heute nicht zur Gelassenheit fähig zu sein scheint.
    Wie auch immer: Wenn Heinrich Böll zu seinen Lebzeiten propagierte, dass "Widerstand ein Freiheitsrecht" sei, dann hat das in der jüngsten Vergangenheit kaum einmal aktueller geklungen als gerade im Jahr 2011. Was dieser katholisch geprägte, unabhängige Linke, der viel Einfluss, aber niemals Macht im engeren Sinne hatte, vorformuliert hat, führt direkt zu dem emphatischen "Empört Euch!" von Stéphane Hessel, dem es in diesem Sommer gelungen ist, den weltweiten Geist eines Jahres in nur zwei Worten nachdrücklich zu verdichten: den Protest gegen das Gebaren einer global agierenden Finanzbranche, die Impulse der Aufstände gegen arabische Diktaturen, die deutschen Aktionen gegen die Kernkraft nach dem Unfall von Fukushima oder eben die Montagsdemonstrationen in Stuttgart.

    Aber wer liest heute noch Heinrich Böll? Hat man ihn nicht schon lange als einen allzu schlichten Vordenker aus einer vergangenen Zeit und sogar als einen Stilisten von eher minderem Rang abgetan? Das Problem mit Böll scheint die historische Distanz, die genauer ausmessen muss, wer seine Leistung würdigen will. Und nicht nur die abschätzige Haltung ist dabei hinderlich; auch die ausdrückliche Feier seines aufrechten Engagements verschleiert mehr als sie erklärt. Bölls Arbeit ist unmittelbar an seine Zeit gebunden - aber ihr Geist hat sich nicht erledigt, nur weil die Weltgeschichte seither die Rahmenbedingungen kräftig verändert hat.
    Heinrich Böll gehört zu der Generation – und zu dem seinerzeit durchaus kleinen Kreis – von "schriftstellernden" Bundesbürgern, die diese Freiheit der Worte eines Dichters überhaupt erst erproben konnten - und das in einer Gesellschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwar eine der besten demokratischen Verfassungen der Welt gegeben hatte, in der aber wirkliche Mündigkeit nicht automatisch mitgedacht war. In Erinnerung geblieben ist Heinrich Böll als einer, der einer verstockten Fünfzigerjahre-Mentalität ins Gewissen redet, um den Geist zu vertreiben, der noch aus vordemokratischen Zeiten herüber weht; den die "BILD"-Zeitung in den frühen Siebzigern zum geistigen Mitläufer des RAF-Terrorismus erklärt, weil er "freies Geleit" für Ulrike Meinhof fordert; der in den frühen Achtzigern bei Friedensdemonstrationen oder Anti-Atom-Protesten unter den Demonstranten sitzt.

    Daraus lässt sich leicht eine zeitlos-heroische Pose herausdestillieren – aber dann gerät aus dem Auge, wie präzise Heinrich Böll gleichzeitig auch schon den permanenten gesellschaftlichen Wandel und damit die Verschiebungen des Stellenwertes seiner eigenen Worte wahrgenommen hat. So theoriefrei und unverblümt wie er zunächst etwa die Impulse der Trümmerliteratur oder die Schwächen der katholischen Kirche beschrieben hat, so direkt beschreibt er in den darauf folgenden Jahrzehnten auch, wie schnell mit dem steigenden Renommee der Gruppe 47 und vor allem mit dem wachsenden Wohlstand eine gewisse Unverbindlichkeit all dieser emanzipatorischen Impulse hervortritt; wie der Begriff "Kritik" zur Floskel verkommt; wie "Pluralität" erst ein Ziel und dann eine Schwundstufe engagierten Bürgersinns wird; wie eine Art von gesellschaftspolitischer Promiskuität hervortritt, die alles mit allem kombinieren und vermischen kann, und deren extremste Ausprägung schon Mitte der Sechziger die Idee der "Großen Koalition" ist.

    Wer denkt dann nicht gleich auch an die Gegenwart von 2011?

    Wo immer man dieses dicke Buch aufschlägt, springt einen an, wie bewegt die frühen Jahre und Jahrzehnte der bundesdeutschen Republik gewesen sind, und wo der moralische Kredit herkommt, dem Heinrich Böll seine vielen Auszeichnungen, darunter 1972 auch den Nobelpreis für Literatur verdankt. Er argumentiert stets ganz nah an der Alltagserfahrung und nah an der Alltagssprache, er holt nie so weit aus, wie es ein Gesellschaftstheoretiker tun würde. Jochen Schubert beschreibt das in seinem umfangreichen Nachwort zu diesem Sammelband als eine Art von Sprachkritik, die dem üblichen Wortgebrauch der Gesellschaft das entgegenhält, was aus diesem Gebrauch ausgeschlossen bleibt – und dafür hat auch Theodor Wiesengrund Adorno den Schriftsteller Heinrich Böll schon ausdrücklich gelobt.

    Aber natürlich ist dieses Argumentationsmuster irgendwann von seinem eigenen Erfolg überholt worden, und auch das gehört zu seiner Geschichte dazu: Je häufiger in den Siebziger und Achtziger Jahren aus vielen Kehlen und an vielen Stellen ähnliche Töne erklingen – und das oft weniger genau als bei Böll, dafür aber angereichert mit mehr "Befindlichkeit" -, desto weniger bleibt die besondere Leistung dieses einen Vorkämpfers sichtbar, desto mehr geht sie unter im Chor all der Artikulationsformen von Betroffenheit, in denen sich diese Mündigkeit schließlich auslebt. Dass man dessen irgendwann wieder müde geworden ist, wäre durchaus eine neue Einlassung von Heinrich Böll wert ...

    Heinrich Böll: Widerstand ist ein Freiheitsrecht. Schriften und Reden zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte.
    Herausgegeben von René Böll
    kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Jochen Schubert
    Kiepenheuer und Witsch, Köln 2011
    992 Seiten