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Museumseröffnung
Rohe Kunst im italienischen Cremona

Art Brut, die rohe Kunst, wird von Unangepassten produziert, unter anderem von geistig Behinderten. Italien hatte dafür bisher kein eigenes Museum. Mit dem MAI in Cremona ändert sich das jetzt.

Von Thomas Migge | 14.12.2013
    Dicke Säulen, ein mächtiges Tympanon und zwei lange Flügelbauten – das neue Museum in Cremona hat eine prächtige Unterkunft gefunden. Für einen Museumsneubau hatte man keine Finanzmittel, dafür aber eine Menge leer stehenden Raum aus neoklassizistischer Zeit, in der großen Villa Cattaneo im Stadtteil Sospiro. Die Villa wurde gründlich restauriert und zum MAI umgebaut. Seine Direktorin ist die Kunsthistorikerin Bianca Tosatti:
    "Wir können hier nicht alle unsere Bestände ausstellen, auch, wenn die Villa Cattaneo immens ist. Aber wir wollen ja auch kein normales Museum sein, das immer nur die gleichen Bestände zeigt, sondern wir wollen die Werke rotieren lassen und mit Neuanschaffungen vermischen. Ich will kein alltägliches, sondern ein anregend kompliziertes Museum."
    Das wird das MAI auch garantiert sein, denn ausgestellt werden keine Werke zeitgenössische Künstler, die am Kunstmarkt quotiert werden und darauf aus sind, ihre Werke zu einem möglichst hohen Preis zu verkaufen. Die Kunst im Museo MAI in Cremona ist Patientenkunst. Die Kunstschaffenden sind Kranke, die, wie es der französische Künstler Jean Dubuffet nannte, der sich als erster im großen Stil mit diesem Thema beschäftigte, an einer kompulsiven Kreativität leiden. Die Kunst aus sich selbst heraus schaffen müssen, ohne sich am Markt oder an Tendenzen orientieren zu wollen. Besessene der Kunst. Ihre Werke nannte Dubuffet Art Brut.
    Italien war bisher ein Land, das der Art Brut kaum und vor allem keinen festen Platz einräumte. Im wohlhabenden norditalienischen Cremona, wo erst vor wenigen Monaten Italiens erstens Museum zur Geschichte der Violine eröffnet wurde, brilliert man jetzt erneut mit einem Museumsnovum. Die auf Art Brut spezialisierte Kunsthistorikern Mariateresa Vitelli:
    "Das Museum beschäftigt sich mit allen künstlerischen Ausdrucksformen psychisch kranker Patienten. Diese Einrichtung war notwendig geworden, weil Art Brut inzwischen ja auch auf großen Kunstschauen salonfähig geworden ist. Nehmen Sie nur die letzte Biennale in Venedig. Da wurden Werke von Künstlern ausgestellt, die international einen Namen haben."
    Wie zum Beispiel die zeremoniellen Gewänder des Brasilianers Arthur Bispo do Rosario. Oder die Tonmasken des Japaners Shinichi Sawada. Art Brut in Italien: eine traurige Geschichte. Kunst von psychisch Kranken wurde bis noch vor Kurzem ausschließlich an Touristen verkauft. Wie beispielsweise im Florentiner Psychiatriekrankenhaus Chiarugi. Oder nichtitalienische Sammler erwarben die Werke italienischer Patientenkünstler. Wie im Fall der beiden Schweizer Sammler Karin und Gerhard Dammann. Harald Szeemann war übrigens der erste Kurator, der 1963 die Arbeiten von Psychiatriepatienten in der Kunsthalle Bern als Kunst präsentierte.
    "Dem Museo MAI geht es darum, das ganze Spektrum dieser Kunst in Italien vorzustellen. Werke, die aus Ateliers in Kliniken, aus Familienbeständen, aus Privatsammlungen stammen, aber auch aus ähnlichen Museen, aus dem MAD in Liege und dem Museum of Everything in London. In einem Atelierbereich haben Künstler die Möglichkeit, sich auch im Museum selbst zu verwirklichen."
    Finanziert wird das Museo MAI fast komplett von privaten und institutionellen Sponsoren. Ein Sonderfall in Italien, wo Sponsorentätigkeit nicht von der Steuer abgesetzt werden kann und deshalb eher Seltenheitswert hat.
    Eröffnet wird das MAI mit einer großen Ausstellung des Schweizer Objekt- und Textkünstler Armand Schulthess, 1901 bis 1972. Schulthess beschrieb jahrelang Tausende kleiner Tafeln zumeist aus Blech mit seinem aus Büchern gesammelten Wissen aus unterschiedlichen Kulturbereichen. Die Tafeln montierte er an Bäumen. Schulthess Erben vernichteten einen Großteil dieses Werkes. Nur 600 Originalarbeiten konnten gerettet werden und befinden sich in Privatsammlungen. Viele der jetzt in Cremona ausgestellten Werke waren seit Jahren nicht mehr zu sehen.