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Musik
Berliner Philharmoniker spielen Berwalds "Sinfonie singulière"

Der schwedische Komponist Franz Berwald ist in Deutschland weitgehend unbekannt. Er war ein Zeitgenosse Schuberts und Mendelssohns und lebte zwölf Jahre lang in Berlin. Seine dritte Symphonie ist sein Hauptwerk. Berwald hat sie 1845 vollendet, aber erst 1905, fast vierzig Jahre nach seinem Tod, wurde sie uraufgeführt. Gestern Abend spielten sie die Berliner Philharmoniker unter der Leitung des 88-jährigen Herbert Blomstedt.

Von Julia Spinola | 12.02.2016
    Der Dirigent Herbert Blomstedt in rotem Hemd während einer Probe in der Philharmonie in Köln im Jahr 2006.
    Dirigent Herbert Blomstedt. (picture-alliance / dpa / Hermann Wöstmann)
    Er kann einen ganzen Symphoniesatz aus einem Quartintervall aufbauen und in manischen Wiederholungsschleifen die Minimal Music vorausahnen. Seine Musik kann energetisch und sequenzverliebt klingen, wie die Anton Bruckners, oder sie beschwört einen Sommernachtsspuk à la Mendelssohn herauf; das prozesshafte Formdenken erinnert an Beethoven, die Vorliebe für rückläufige Konstruktionen gar an Alban Berg. Und dennoch sagt all dies über die Musik von Franz Berwald letztlich wenig aus. Denn ihre erstaunlichste Eigenschaft ist es, einen höchst eigenwilligen, ganz und gar unverwechselbaren Ton anzuschlagen. Franz Berwald klingt nach Franz Berwald, unkonventionell und individualistisch: Ein Ausdruck, der sich nicht anbiedert. Die Schönheiten dieser Musik erschließen sich daher nicht über vordergründige Effekte. Es braucht schon einen Meister der Nuancierungskunst wie Herbert Blomstedt, um sie erblühen zu lassen. Unter seiner Leitung beginnen die Stimmungsumschwünge in Berwalds "Sinfonie singulière" auratisch zu pulsieren und wunderbar wetterleuchtend zu schillern. Und die fabelhaften Streicher der Berliner Philharmoniker versenkten sich zart und eindringlich in die charakteristische Melodik Berwalds, die oft sonderbare Haken schlägt.
    Dirigent voller Energie
    Blomstedt dirigiert auswendig und ohne Taktstock, mit sparsamen Gesten, einem markant-präzisen Körpereinsatz und einer hoch expressiven Mimik. Seine inzwischen schon altersfragile Gestalt steckt voller Energie. Man staunt, mit welcher Jugendlichkeit er hüpfenden Schrittes die Stufen von der Bühne herab nimmt. Und am Ende des Abends hat er noch genug Kraft, um mit Dvořáks"Slawischem Tanz" Nr. 8 eine temperamentvolle Zugabe hinzulegen. Als gläubiger Adventist hat Blomstedt das Interpretieren musikalische Werke einmal mit der Auslegung von Bibeltexten verglichen. Dies bedeutet nicht nur, dass der Notentext ihm heilig ist, sondern vor allem, dass es für Blomstedt nichts Unwesentliches in ihm gibt. Jedes Detail steht gleich nah zum Mittelpunkt. Was für ein unglaublicher musikalischer Reichtum aus dieser Einstellung resultiert, das war an diesem Abend überwältigend an Dvořáks 7. Symphonie zu erfahren. Ein solche Fülle an dynamischen und klanglichen Valeurs hat man im Scherzo dieses Werks selten wahrgenommen: Alles atmete, pulsierte und war von einer federnden Agogik belebt.
    Was für ein vielgestaltiges, wuselndes Leben

    Blomstedts Gabe, noch die kleinste motivische Geste rhetorisch zu formen, ohne doch darüber den Fluss des Ganzen zu verlieren, rückte Dvořáks an diesem Abend in die Nähe der großen symphonischen Weltentwürfe von Gustav Mahler. Was für ein vielgestaltiges, wuselndes Leben herrscht bei aller Tragik im Finalsatz dieser Symphonie. Blomstedts Interpretation hebt im transparenten Klangbild der Berliner Philharmoniker die Nebenstimmen so deutlich hervor, dass auch die knirschenden Dissonanzen dieser Orchesterpolyphonie nicht verschwiegen werden. Zugleich aber klingt bei Blomstedt alles immer so wohlgeformt und kultiviert, als stünden noch die Hässlichkeiten dieser Welt unter dem Stern einer grenzenlosen Liebe zur Schöpfung. Auch wenn in den dogmatischen Grundlagen von Blomstedts Religion darüber nichts stehen mag: Seine Kunst scheint in jedem Takt den Glauben an die Präsenz Gottes in der Natur zu verraten. Das Publikum dankte es mit Ovationen.