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Musik
Chorstücke des 20. Jahrhunderts

Mit sicherer Hand dirigierte Simon Halsey seinen Rundfunkchor Berlin über 15 Jahre. Dabei wagte er sich mit seinen Sängern auch immer wieder an modernere Kompositionen von Britten oder Ligeti heran. Schwierigkeiten, die multitonalen Harmonien zu meistern, hört man dem Chor nicht an.

Von Johannes Jansen | 31.12.2014
    Probe: Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Rundfunkchor Berlin unter der Leitung von Simon Halsey
    Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Rundfunkchor Berlin unter Leitung von Simon Halsey (Deutschlandradio - Bettina Straub )
    Das Deutsche Symphonie-Orchester, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, der Rundfunkchor Berlin und der RIAS Kammerchor: ›Die musikalische Quadriga‹ haben wir sie genannt und in bisher sieben Sendungen einige Jahreshöhepunkte und auch ältere Produktionen dieser vier Ensembles der Rundfunk-Orchester und Chöre GmbH Berlin Revue passieren lassen. Heute fährt das Viergespann seine letzte Runde auf diesem Extraplatz im Deutschlandfunk. Die beiden Orchester waren in den vergangenen Tagen häufiger zu hören, heute sollen es noch einmal die Chöre sein. Dazu begrüßt Sie am Mikrofon Johannes Jansen. Die erste Hälfte des Programms gehört wieder dem "ORATORIUM, Welches die heilige Weynacht über In beyden Haupt-Kirchen zu Leipzig musiciret wurde. ANNO 1734". Chorsänger nennen es kurz und salopp "WO": das Bach’sche Weihnachtsoratorium. Dessen Teile I bis IV standen in der vergangenen Woche schon auf dem Programm. Zuerst ein Konzertmitschnitt im zeitgemäßen Original-Klanggewand mit dem Rundfunkchor und der Akademie für Alte Musik Berlin. Danach eine Produktion mit dem RIAS Kammerchor und Kammerorchester aus dem Jahr 1950, "historisch" also, aber von dem, was man historische Aufführungspraxis nennt, noch gänzlich unberührt. Heute nun eine, die beides ist: modern in ihrer historischen Herangehensweise, aber nicht mehr neu. Die Rede ist von René Jacobs’ vielgerühmter Einspielung aus dem Jahr 1997 mit dem RIAS Kammerchor, der Akademie für Alte Musik Berlin und einem Solisten-Quartett von – damals wie heute – erlesenem Rang: Dorothea Röschmann (Sopran), Andreas Scholl (Alt), Werner Güra (Tenor) und Klaus Häger (Bass). Hier zunächst Teil V mit dem Eingangschor ›Ehre sei dir, Gott, gesungen‹. Bach hat ihn eigens für diese Kantate zum Sonntag nach Neujahr komponiert, was ja nicht für alle Teile des Oratoriums gilt. Manches hat er aus früheren Kantaten übernommen und damit gewissermaßen die Legitimation geliefert, das Baukastenprinzip auch bei der Zusammenstellung "unseres" Weihnachtsoratoriums mit Aufnahmen ganz verschiedener Herkunft anzuwenden.
    1. MUSIK: Joh. Seb. Bach, Weihnachtsoratorium V, CD-Track 11-21, Dauer: 23'20
    Sie hörten mit Dorothea Röschmann (Sopran), Andreas Scholl (Alt), Werner Güra (Tenor), Klaus Häger (Bass), dem RIAS Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin den fünften Teil des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach. René Jacobs war der Dirigent dieser Aufnahme aus dem Jahr 1997, die bis heute nichts von ihrem Glanz verloren hat. Großen Anteil daran hat der RIAS Kammerchor, mit dem Jacobs oft und gern zusammenarbeitet, wie zuletzt bei seinen spektakulären Mozart-Opernproduktionen. Wenn er über seine Laufbahn, die als Knabensopran an der Kathedrale von Gent begann, und die prägenden musikalischen Eindrücke seiner Kindheit spricht, fällt unweigerlich der Name Bach. Eine Schallplattenaufnahme, sagt Jacobs, habe er besonders geliebt: das Weihnachtsoratorium mit Dietrich Fischer-Dieskau. Er selbst hat sich dann als Countertenor und Dirigent Bach immer wieder neu genähert. Bei der Besetzung des Weihnachtsoratoriums schenkte er dem 1997 noch am Karriereanfang stehenden Andreas Scholl sein Vertrauen, obwohl Jacobs nicht zu denen gehört, die bei Kirchenmusik und Opern des Barocks prinzipiell Countertenören den Vorzug vor Altistinnen geben, so wie er ja auch beim Chor auf ein gemischtes Ensemble und nicht auf Knaben- und Männerstimmen setzt.
    Man möchte fast nicht glauben, auch wenn es als erwiesen gilt, dass Teil VI des Weihnachtsoratoriums – die Kantate zum Epiphanias- oder Dreikönigsfest – beinahe zur Gänze aus umtextierten Stücken eines unbekannten Vorgängerwerks besteht. Gut möglich allerdings, und so sieht es auch die Forschung, dass Bach diese "Zweitverwertung" im weihnachtlichen Kontext schon bei der ursprünglichen Komposition mit bedachte. Unzweifelhaft original sind aber die Rezitative wie dasjenige nach dem Eingangschor, wenn der Bass als Herodes figuriert. Dessen Worten hat Bach einen verräterisch falschen Zungenschlag einkomponiert; der Sopran reagiert darauf mit einer Warnung und verleiht ihr in der folgenden Arie nochmals Nachdruck. Das hat schon einen Zug ins Opernhafte und lehrt uns, die Grenzen zwischen weltlichem und geistlichem Schaffen nicht enger zu ziehen, als Bach selbst es tat. Schließlich macht gerade die Anschaulichkeit solcher Szenen neben den Chorälen in ihrer ernsten Schönheit und den mitreißenden Chorsätzen die überwältigende Wirkung dieses Oratoriums aus. Den Eingangschor "Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben" haben manche Autoren gar mit einem Schlachtengemälde verglichen.
    2. MUSIK: Joh. Seb. Bach, Weihnachtsoratorium VI, CD-Tr. 22-32, Dauer: 25'00
    Das war der sechste und letzte Teil des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach in einer Aufnahme mit dem RIAS Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin unter der Leitung von René Jacobs. Die Solisten waren Dorothea Röschmann (Sopran), Andreas Scholl (Alt), Werner Güra (Tenor) und Klaus Häger (Bass). Nachdem nun die Partitur des Weihnachtsoratoriums geschlossen ist und in den vergangenen Tagen vor allem großbesetzte Orchesterwerke, Oratorien und sogar eine Oper zu hören waren, kehrt "Die musikalische Quadriga" in der nächsten Stunde noch einmal dorthin zurück, wo die Reise begann: zur Vokalmusik a cappella.
    Ein Chor- und Orchesterwerk sind wir allerdings – mit Blick auf das wohl bedeutendste Komponistenjubiläum dieses Jahres: den 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach – noch schuldig. Heute geht ein Jahr zu Ende, das auch das Jahr Carl Philipp Emanuel Bachs gewesen ist. Der 300. Geburtstag des zweitältesten Bach-Sohnes hat – viel mehr als 1988 sein 200. Todestag – die Musikwelt aufgerüttelt und ihr eine Vielzahl hervorragender Neu-Einspielungen beschert. Ein Stück durfte dabei nicht fehlen: "Heilig ist Gott". Bach hat es sein "Schwanen Lied" genannt und damit die Hoffnung verbunden, man möge ihn nicht zu bald nach seinem Tod vergessen. Der RIAS Kammerchor und die Akademie für Alte Musik Berlin unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann haben nun ihr Teil zur Unsterblichmachung beigetragen. Weil es so außergewöhnlich ist, hat Bach es selbst mehrfach verwendet, unter anderem auch in einer seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Wiederentdeckung des Archivs der Berliner Sing-Akademie in Kiew verschollen geglaubten Festkantate zur Fertigstellung des Hamburger Michel, also des Turms der Michaeliskirche – bis heute das Wahrzeichen der Stadt. Das Stück ist doppelchörig angelegt, eine Raum-Komposition, könnte man es nennen, mit einem Engelschor und Chor der Völker nach einer solistischen, als Vision des Propheten Jesaja gedachten Einleitung.
    3. MUSIK: C. Ph. E. Bach, ›Heilig ist Gott‹ Wq 217, Dauer: 7'40
    Das war in einer Neuaufnahme mit der Altistin Wiebke Lehmkuhl, dem RIAS Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann "Heilig ist Gott" von Carl Philipp Emanuel Bach, dessen 300. Geburtstag in diesem Jahr in wahrscheinlich ebenso vielen Konzerten Widerhall gefunden hat, ohne dass auch nur in einem einzigen so etwas wie Langeweile aufgekommen wäre. Der Wiederentdeckung weniger bedürftig als Bach in diesem Jahr war im vergangenen der 1913 geborene Benjamin Britten, gehört er doch, soweit es seine Opern betrifft, nach Puccini und Strauss noch immer zu den meistaufgeführten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Britten hat freilich nicht nur für die Bühne komponiert, sondern kaum ein Genre ausgelassen und sich in allen Phasen seines Schaffens auch mit Chormusik befasst. Ein zentrales Werk ist die "Hymn to St. Cecilia", komponiert 1941 auf drei Gedichte seines Freundes W. H. Auden. Britten machte sich mit der Hymne selbst ein Geschenk, denn sein Geburtstag, der 22. November, fällt mit dem Tag der Heiligen Cäcilia, Schutzpatronin der Musik, zusammen. Zugleich war sie – vor dem Hintergrund einer speziell britischen Tradition solcher Cäcilien-Oden – ein patriotisches Bekenntnis des nach vorübergehender Übersiedlung in die Vereinigten Staaten in seine Heimat zurückgekehrten Komponisten. 2006 hat sie der Rundfunkchor Berlin mit anderen Werken des zeitgenössischen englisch-amerikanischen Repertoires auf einer CD vereinigt, die unverkennbar die Handschrift des – nach fünfzehn spektakulär erfolgreichen Jahren – zur kommenden Saison scheidenden Chefdirigenten Simon Halsey trägt.
    4. MUSIK: B. Britten, ›Hymn to St. Cecilia‹ op. 27, CD-Tr. 2, Dauer: 10'55
    Das war von Benjamin Britten die Cäcilien-Hymne op. 27 mit dem Rundfunkchor Berlin unter der Leitung von Simon Halsey. Die Solisten waren Sophie Klußmann und Bianca Reim (Sopran), Judith Simonis (Alt), Christoph Leonhardt (Tenor) und Axel Scheidig (Bass). Mit Simon Halsey hat der Rundfunkchor manche Entdeckungsreise unternommen – und mit ihnen auch das Publikum, so wie im Spätsommer 2012 in einem Konzert unter der Überschrift "Kreuzberg trifft Amerika". Hören Sie daraus Charles Ives’ Vertonung des 67. Psalms, ein kurzes, aber in seiner polytonalen Struktur überaus anspruchsvolles Werk.
    5. MUSIK: Ch. Ives, 67. Psalm, Dauer: 2'10
    Das war der 67. Psalm von Charles Ives, eine Inkunabel moderner Chormusik, aber eben auch ein Werk, das sogar Vokalensembles mit Profi-Ambitionen nicht einfach vom Blatt weg singen. Werke freilich, die dem Rundfunkchor Berlin zu schwer wären, müssen erst noch geschrieben werden. In Berlin hat der Rundfunkchor im RIAS Kammerchor seinen schärfsten Konkurrenten – und den sogar unter demselben Dach. Denn ebenso wie DSO und RSB, die beiden Orchester in der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH, schenken sich die Chöre nichts und wetteifern miteinander auch auf internationaler Ebene um höchste Auszeichnungen. Hier noch einmal der RIAS Kammerchor mit einer echten Rarität in einer Live-Aufnahme vom Frühjahr 2013 aus dem Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. "Der Mensch lebt und bestehet" auf Gedichte von Matthias Claudius ist eine 1926 entstandene Motette für Alt-Solo und sechsstimmigen gemischten Chor a cappella, ein Werk, das seine Hörer gefangennimmt und dann mit der Frage zurücklässt, wie ein Komponist von so hohen Graden – Heinrich Kaminski – so gründlich vergessen werden konnte.
    6. MUSIK: H. Kaminski, "Der Mensch lebt und bestehet", Motette für Alt-Solo und sechsstimmigen gemischten Chor a cappella, Dauer: 5'25
    Das war der RIAS Kammerchor unter der Leitung des auch dem Rundfunkchor als Gastdirigent eng verbundenen Michael Gläser mit der Motette "Der Mensch lebt und bestehet" von Heinrich Kaminski. Das Alt-Solo sang Susanne Langner. Drei avantgardistische Kabinettstückchen aus dem Repertoire des RIAS Kammerchors, diesmal unter der Leitung von Marcus Creed, dem Vor-Vorgänger von Hans-Christoph Rademann, sind die nun folgenden "Ungarischen Etüden" für acht-, zwölf- und sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella von György Ligeti.
    7. MUSIK: György Ligeti, ›Drei Ungarische Etüden‹ für acht-, zwölf- und sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella, Dauer: 5'54
    In der Aufnahme mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Marcus Creed lassen Ligetis "Drei Ungarische Etüden" aus dem Jahr 1983 von den Mühen der Einstudierung nichts erkennen. Das nennt man Kunst. Ebenso souverän meistert der Rundfunkchor Berlin das nächste Werk, gleichfalls nicht aus der Schublade mit den leichten Sachen: "Friede auf Erden". Mit ihm folgt "Die musikalische Quadriga" auf ihrer Exkursion in die Geschichte der Chormusik des 20. Jahrhunderts wieder der in dieser Zeit zwischen den Jahren vorgegebenen Spur. Die Vorlage lieferte ein Weihnachtsgedicht von Conrad Ferdinand Meyer. Vertont hat es Arnold Schönberg vor mehr als 100 Jahren: sein letztes tonales Werk. Dem damit betrauten Chor schien es zunächst unaufführbar, weshalb Schönberg sich entschloss, "eine die Sicherheit der Intonation ermöglichende Begleitung" hinzuzufügen, die er aber ausdrücklich als "nicht kompositionell mit dem Werk zusammenhängend" verstanden wissen wollte. Der Rundfunkchor Berlin und sein Chef Simon Halsey haben sich für die A-cappella-Version entschieden. Ehrensache!
    8. MUSIK: Arnold Schönberg, ›Friede auf Erden‹ für Chor a cappella, op. 13, Dauer: 8'20
    Das war in einer Aufnahme mit dem Rundfunkchor Berlin unter der Leitung von Simon Halsey "Friede auf Erden" von Arnold Schönberg. Dieser Botschaft wäre nichts hinzuzufügen – außer vielleicht einem kleinen Chorstück, an dem einfach kein Vorbeikommen war bei der Zusammenstellung dieses Programms für "Die musikalische Quadriga". Hören Sie, stellvertretend für das Gesamtensemble der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH, noch einmal den RIAS Kammerchor, nun unter der Leitung des Gastdirigenten Volker Hempfling. Ein paar Stunden sind es zwar noch bis zum "Toast aufs Neue Jahr" – so heißt das beschwingte Alterswerk von Gioachino Rossini –, aber ein Probeschluck prickelnder Vorfreude darf es wohl sein. Damit verabschiedet sich am Mikrofon Johannes Jansen und sagt – im Namen aller an dieser Sendung Beteiligten – danke fürs Zuhören. Kommen Sie gut ins Neue Jahr!
    9. MUSIK: G. Rossini, ›Toast pour le nouvel an‹, Dauer: 1'50
    Orchester und Chöre der 'roc berlin' präsentieren Höhepunkte des Jahres (8/8)
    Mit Johannes Jansen