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Musik
Der Osten im Blick

Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor schaut unverwandt nach Osten - und so tut es "Die musikalische Quadriga" heute auch, denn auf dem Programm stehen eine Sinfonie und ein Oratorium zweier russischer Komponisten.

Von Johannes Jansen | 27.12.2014
    Undatierte Aufnahme des russischen Komponisten und Pianisten Sergej Prokofjew. Er wurde am 27. April 1891 in Sonzowka geboren und ist am 5. März 1953 in Moskau gestorben.
    Undatierte Aufnahme des russischen Komponisten und Pianisten Sergej Prokofjew (1891-1953) (picture-alliance / dpa / Röhnert)
    Die musikalische Quadriga, das sind die vier Klangkörper der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin: der RIAS Kammerchor, das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, das Deutsche Symphonie-Orchester (alias DSO) und der Rundfunkchor Berlin.
    Zur Aufführung eines klanggewaltigen Oratoriums haben sich die beiden letztgenannten und noch ein drittes Ensemble - der Staats- und Domchor Berlin - zusammengetan. Sergej Prokofjew heißt der Komponist. Noch bekannter als er ist die Figur, um die es sich dreht: Iwan der Schreckliche. Zunächst im Blickpunkt aber steht das Werk eines anderen, im Westen weit weniger bekannten Mannes: Mieczyslaw Weinberg. Man sagt nicht zu viel, wenn man ihn die musikalische Entdeckung der letzten Jahre nennt. Geboren 1919 in Warschau, gestorben in Moskau 1996, war er auch in seiner Wahlheimat, der Sowjetunion, ein zeitweilig vergessener Komponist: Opfer kunstideologischer Willkür und - wiewohl verbrämt mit Begriffen wie "Formalismus" und "Kosmopolitismus" - klar antijüdischer Tendenzen.
    Ein Schlaglicht auf Weinbergs Opernschaffen warfen viel beachtete Aufführungen in Mannheim, wo im vergangenen Jahr "Der Idiot" nach Dostojewski erstmals vollständig über die Bühne ging, und gleich danach in Karlsruhe "Die Passagierin", sein vielleicht bedeutendstes Werk, geschrieben 1968, aber bis 2006 unaufgeführt. Weinberg als Sinfoniker zu entdecken, dazu bot sich im März dieses Jahres in der Berliner Philharmonie Gelegenheit durch eine Aufführung mit dem Deutschen Symphonie-Orchester. Sie vermittele den besten Zugang zu Weinbergs Tonsprache, sagte DSO-Chefdirigent Tugan Sokhiev über die Nummer 4 - eine von mehr als zwanzig (!) Sinfonien. Ein Ende der Weinberg-Entdeckungen ist also noch nicht abzusehen.
    Die Erstfassung der Sinfonie Nr. 4 in a-Moll entstand 1957. Bei einer späteren Revision hat Mieczyslaw Weinberg die Satzüberschriften in reine Tempobezeichnungen umgewandelt. Vorher lauteten sie Toccata - Serenade - Intermezzo - Rondo, und es ist gewiss erlaubt, sich ihrer beim Hören als Orientierungshilfe zu erinnern. Wir begegnen einer Klangwelt voller lyrischer und folkloristischer Verzweigungen, aber auch jenem martialischen Grinsen - wie so oft auch bei Schostakowitsch, mit dem Weinberg eng befreundet war -, bei dem wir uns fragen, ob es echt ist oder aufgesetzt. Und wen hören wir da marschieren? Nach Clownsparade klingt es nicht - zunächst.
    1. MUSIK: M. Weinberg, Sinfonie Nr. 4 in a-Moll op. 61
    Sie hörten von Mieczyslaw Weinberg die Sinfonie Nr. 4 in a-Moll op. 61, gespielt vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung seines - seit 2012 und noch bis 2016 amtierenden - Chefdirigenten Tugan Sokhiev. Und mit ihm und dem DSO geht es weiter, massiv verstärkt durch die Stimmen des Rundfunkchores sowie des Staats- und Domchores Berlin im Oratorium "Iwan Grosny" (das ist: Iwan der Schreckliche) von Sergej Prokofjew. Es ist ein Werk - wenn man sich nur auf die Musik beschränkt - von knapp siebzig Minuten Dauer. Darum wird nur eine Viertelstunde in dieser ersten Hälfte des heutigen Programms zu hören sein und das Weitere dann in der zweiten. Die Unterbrechung findet an geeigneter Stelle statt, in einer Szene mit dem Titel "Der Schwan". Szene, warum?
    Musik zum unvollendeten Film
    In seiner ursprünglichen Gestalt war "Iwan Grosny" die Musik zum gleichnamigen Film von Sergej Eisenstein. Nur zwei von drei Teilen des monumentalen Leinwand-Opus wurden in den letzten Kriegsjahren realisiert. Der erste schaffte es in die Kinos, der zweite erregte den Argwohn der Mächtigen und wurde erst fünf Jahre nach Stalins und Prokofjews Tod gezeigt. (Der Komponist und sein Dämon starben 1953, am selben Tag.) Einige Jahre später erst hat Abram Stassewitsch, der Dirigent der Film-Partitur, die Musiknummern neu arrangiert und durch Zwischentexte eines Erzählers miteinander verbunden. Diese Texte sind nach Ansicht vieler, die sich damit befasst haben, unausstehlich in ihrem dröhnend nationalen Pathos (das sich gar so ungebrochen in Eisensteins Film nicht zeigt).
    Bei der Aufführung in der Berliner Philharmonie wurden sie durch eine Moderation von Wladimir Kaminer ersetzt; der dieses Jahr veröffentlichte CD-Mitschnitt verzichtet ganz auf sie. Die Handlung vollzieht sich grob in folgenden Epsioden: Iwans Zarwerdung und Brautwahl, Kampf gegen die Tataren, Tod der Zarin, Rache an den Bojaren und final-bombastischer Triumph der Getreuen. Die erste Viertelstunde führt uns bis zur Brautschau mit dem Chor "Öffnet die Tore, öffnet sie weit".
    2. MUSIK: S. Prokofjew, "Iwan Grosny" op. 116, Track 1-7 u. 8 ("Der Schwan" [nur erster Chor])
    Sie hören in einer Aufnahme mit dem Deutschen Symphonie-Orchester, dem Rundfunkchor Berlin und dem Staats- und Domchor Berlin unter der Leitung von Tugan Sokhiev "Iwan Grosny", ein Oratorium von Sergej Prokofjew. Die Fortsetzung folgt gleich nach den Nachrichten.
    "Iwan der Schreckliche" war ein großer Film und groß auch die Musik - wie schon zuvor bei "Alexander Newski", Prokofiews erster Filmpartitur, die in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Sergej Eisenstein entstand. Aus ihr formte Prokofjew selbst eine Kantate, die im Konzertleben ihren Platz gefunden hat. Bei "Iwan Grosny" tat er es nicht, vermutlich weil der Film ein Torso blieb; der dritte Teil wurde nie gedreht. Das heute zu hörende Oratorium geht auf eine spätere Bearbeitung des Dirigenten Abram Stassewitsch auf der Grundlage von Teil I und II des Films zurück.
    Die deutsche Erstaufführung fand 1975 statt - unter Beteiligung des Rundfunkchores Berlin. Er singt auch jetzt wieder in dieser Aufnahme, verstärkt durch den Berliner Staats- und Domchor plus Knabenstimmen. Die Einstudierung besorgten Tobias Löbner und Kai-Uwe Jirka. Es spielt in großer Besetzung mit riesigem Schlagzeugarsenal (inklusive Peitsche, Amboss und Glocken) - zwei Harfen und ein Klavier sind auch dabei - das Deutsche Symphonie-Orchester unter der Leitung von Tugan Sokhiev. Glanzvoller könne man diese Partitur nicht aufführen, lautete das Fazit im Berliner "Tagesspiegel", wenn auch unter der Überschrift: "Schön schrecklich" ...
    3. MUSIK: S. Prokofjew, "Iwan Grosny" op. 116, Tr. 8 (um eine Strophe gekürzt) u. 9-20
    Das war in einer vor wenigen Monaten auf CD bei SONY erschienenen Live-Produktion aus der Berliner Philharmonie das Oratorium "Iwan Grosny" von Sergej Prokofjew. Die Mitwirkenden waren: Olga Borodina (Mezzosopran), Ildar Abdrazakov (Bass), der Rundfunkchor Berlin und der Staats- und Domchor Berlin; die Leitung hatte Tugan Sokhiev. Morgen um die gleiche Zeit finden Sie "Die musikalische Quadriga" wieder auf diesem Sendeplatz, dann mit Werken von Paul Hindemith und Richard Strauss und dem Rundfunk-Sinfonieorchester und Rundfunkchor Berlin unter der Leitung von Marek Janowski. Bis dahin verabschiedet sich am Mikrofon und dankt fürs Zuhören Johannes Jansen.
    Orchester und Chöre der 'roc berlin' präsentieren Höhepunkte des Jahres (4/8)
    Mieczyslaw Weinberg
    Sinfonie Nr. 4
    Sergej Prokofjew
    'Iwan Grosny', op. 116
    Deutsches Symphonie-Orchester
    Rundfunkchor Berlin
    Leitung: Tugan Sokhiev
    Mit Johannes Jansen
    (Teil 5 am 28.12.14)