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Musik
Im Dunkeln wachsen die Ohren

"Orchester im Treppenhaus" nennen sich die jungen Virtuosen, die sich in Hannover und anderswo in lockerer Folge treffen, um an ungewöhnlichen Orten Konzerte zu geben: in einer Straßenbahn, in einem Zirkuszelt. Zum zweiten Mal hat das Orchester im Treppenhaus jetzt ein szenisches Konzert im Programm. "Dark Room 2" findet im Dunkeln statt.

Von Volkhard App | 30.09.2014
    Nie waren Platzanweiser derart wichtig: behutsam, im Gänsemarsch, werden die Besucher in das kleine Zirkuszelt zu den Stühlen und Liegen geführt, denn sie tragen Augenbinden. Was jetzt kommt, erleben die Gäste im Dunkeln: das Konzert und die spektakuläre Geschichte vom Aufstieg und Fall des Schweizers Johann August Suter, der im 19. Jahrhundert nach Kalifornien ausgewandert war. Im Kopf entstehen Bilder, und die Musik des 14-köpfigen Ensembles auf der Bühne wirkt unmittelbar.
    Vor der Bühne sitzen zwei Sprecher und erzählen frei nach der Erzählung von Stefan Zweig, wie dieser Suter mit kaum glaublicher Anstrengung Kalifornien erreicht, großzügig Land erwirbt, es mit billigen Arbeitskräften fruchtbar macht und zum reichsten Mann aufsteigt. Bis, ja bis im Januar 1848 auf seinem Terrain Gold gefunden wird. Abenteurer fallen über sein Land her und verwüsten seinen Besitz:
    "Das ist mein Land, meine Erde, das sind meine Berge: Alles was Ihr dort findet, gehört mir". "Kommen Sie doch und holen Sie es sich, die Suter-Wirtschaft hat jetzt ein Ende!"
    Vielfältig ist die Musik bei dieser Produktion: Motive aus Charlie Chaplins Filmen, ein Streichquartett von Samuel Barber, minimalistische Großstadt-Klänge von Steve Reich.
    Im Kern handelt es sich um ein szenisches Konzert - den Initiatoren geht es darum, einem breiten Publikum klassische und moderne Töne näher zu bringen. Dirigent Thomas Posth hat das "Orchester im Treppenhaus" 2006 gegründet und seither zusammen mit seinem Dramaturgen mehr als 25 Konzert-Projekte entwickelt:
    "Wir heißen "Orchester im Treppenhaus", weil wir dort begonnen und die ersten zwei Jahre gespielt haben - und zwar im hannoverschen Schauspielhaus. Aber es ist ein programmatischer Titel, deshalb haben wir den Namen dann auch behalten, weil wir den Menschen um die Hälfte entgegenkommen. Denn wir spielen nicht im Konzertsaal, sondern dort, wohin die Menschen ohne Hemmschwelle gehen, wo wir sie besser hinlocken können. Wir spielen oft im Zirkuszelt, wir haben in alten U-Bahnhöfen gespielt, in Tunnelröhren, in Clubs - überall, wo es Sinn macht."
    Volker Bürger bearbeitet die Textvorlagen, fügt Dialoge hinzu, ist überhaupt um dramatische Wirkung bemüht. Vielleicht stellt die Geschichte des Schweizers mitsamt dem historisch verbürgten Goldrausch ja ein Gleichnis dar, gültig auch für unsere Zeit, in der sich Gier und Spekulationslust in anderer Form zeigen, z.B. an Börsen und bei manchen Banken.
    Die Sprecher des Abends sind ausgewiesene Profis
    Die Geschichte selbst, die im Zirkuszelt zwischen den Musikpartien ausgebreitet wird, klingt ganz unwirklich. Der reichste Mann der Welt wird von den Ereignissen überrollt und von Plünderern in die Armut gestürzt.
    "Ist das gerecht? Mord, Totschlag, Diebstahl - es gibt niemanden, der sich nicht auf Räuberei verlegt hat."
    Zwar gesteht ein Hohes Gericht dem Schweizer später Schadenersatz in riesiger Höhe zu - schließlich ist die Stadt San Francisco auf seinem Grund gewachsen -, dennoch wird der einstige Herrscher von Kalifornien, dieser König Midas der Neuen Welt, als obdachloser Bettler am Fuße des Capitols sterben.
    Die beiden Sprecher des Abends sind ausgewiesene Profis, die man von der Leinwand her kennt. Norman Matt synchronisiert Michael Fassbender, und Tobias Kluckert ist die deutsche Stimme des populären Schauspielers Bradley Cooper. An einem solchen Konzert-Projekt teilzunehmen, ist den Erzählern eine Herzensangelegenheit:
    (Kluckert): "Ich mache das immer wieder. Im letzten Jahr haben wir beide die Tagebücher von Amundsen und Scott gelesen, und das mit diesen wundervollen Musikern auf der Bühne, und einem Publikum, das im Dunkeln sitzt und liegt, mit Augenbinden. Das hat einen ganz besonderen Reiz, das machen wir wahnsinnig gerne."
    (Matt): "Das Schöne ist eben, dass man vor Publikum arbeiten kann, mit den Musikern im Rücken, dass man alles hautnah erleben kann, was wir im normalen Studioalltag nicht so haben."
    Vielleicht haben diese Hollywood-Synchronsprecher beim Lesen des abenteuerlichen Textes die möglichen Filmbilder bereits vor Augen gehabt:
    "Dark Room" im Zirkuszelt: die Besucher erwachen wie aus einer Trance, richten sich mühsam auf und beschreiben, was sie da gerade erlebt haben:
    "Intensiver, weil die Sinne geschärft sind, die Wahrnehmung ist gestärkt. Ich habe alle Bilder vor mir gesehen, das war super, der Wilde Westen im Kopf."
    In einem kleinen Leinenbeutel, in dem sich anfangs auch die Augenbinde und ein paar Süßigkeiten in Nugget-Form befunden haben, können die Gäste nun Münzen und Scheine hinterlassen -und bestimmen so nachträglich über den Eintrittspreis. Das ist möglich, weil dieses "Orchester im Treppenhaus" Sponsoren an seiner Seite hat und auch aus öffentlichen Mitteln gefördert wird - zurecht!