Samstag, 20. April 2024

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Musik im Grenzbereich des Tonalen

Das Sujet fast romantisch, die Sprache beinahe modern. Der Sound farbreich, gleichwohl transparent - der Gesang dicht, expressiv. Musik im Grenzbereich des Tonalen, aufgeladen mit Raffinesse, Erotik, Psychologie.

Von Frank Kämpfer | 21.11.2004
    Alban Bergs Miniatur steht hier für die Wiener Avantgarde-Musik um 1900, in der sich die späte Romantik und die Moderne der Vorkriegszeit überlagern. Der Titel "Im Zimmer" aus dem Zyklus der "7 frühen Lieder" (bekannt als Klavierlied) klingt dennoch reichlich unkonventionell. Markant an der Fassung ist das Instrumentarium - Streichquintett, solistische Bläser, Harmonium und Klavier - das, musikgeschichtlich betrachtet, auf Späteres weist.

  • Musikbeispiel: Alban Berg - "Im Zimmer" aus dem Zyklus "7 frühe Lieder"

    In der Tat. Die Spur führt zu Bergs Lehrer Arnold Schönberg, der Anfang der 20er Jahre in seinem privaten Verein unter Ausschluss der Öffentlichkeit Musik der Zeit in Bearbeitungen aufführen ließ. Klavier- und Kammermusikwerke Bartok’s, Berg’s, Reger’s und Strawinsky’s erklangen hier, Orchestermusik von Debussy, Suk und Schönberg, Sinfonik von Mahler, Strauss und Franz Schmidt.

    Letztere zunächst transkribiert für zwei Klaviere; manches war auch für ein kleines Solisten-Ensemble gesetzt. Dessen finanzierbare Größe und Besetzung spiegelt sich etwa in Arnold Schönbergs Fassung von Mahlers "Liedern eines fahrenden Gesellen" oder der Eigenbearbeitung seines "Lied’s der Waldtaube" aus dem im Original höchst opulent orchestrierten Zyklus der "Gurre-Lieder".

    Eben letzteres spätromantisches Kleinod war Ausgangspunkt für vorliegendes Album: die vor 10 Jahre gegründete Schweizer Formation Nouvel Ensemble Contemporain unter Pierre-Alain Monot spielte Schönbergs Eigenbearbeitung vor zwei Jahren bei einem Musikfestival und kam ob des Erfolgs auf die Idee, ein ganzes Programm mit avancierter Vokalmusik aus dem Wien von 1900 zusammenzustellen. Zwei Bedingungen regierten die Auswahl: das Repertoire sollte zur expressiven Stimme der talentierten Graubündner Mezzosopranistin Maria Riccarda Wesseling passen - und es mussten Bearbeitungen sein, die der Praxis des legendären Wiener Vereins für musikalische Privataufführungen entsprachen.

    In die engere Auswahl kamen Erwin Stein’s Version von "Zemlinsky’s Maeterlinck-Liedern", Hanns Eisler’s Fassung von Schönberg’s Orchesterlied op.8, Nr.1 und - wie eingangs gehört - Berg’s 7 frühe Lieder in einer Bearbeitung von Ton de Leeuw. Die vielleicht bemerkenswerteste Arbeit stellt Rainer Riehn’s Adaption von Gustav Mahler’s "Kindertotenliedern" dar. In ihrer Klanggestalt kommt sie der zweiten Wiener Schule sehr nah. Solistische Besetzung sorgt für eine holzschnittartige Schärfe, die Strukturen durchhörbar macht:
  • Musikbeispiel: Gustav Mahler - "In diesem Wetter"


    "In diesem Wetter, in diesem Braus..." - soweit Maria Riccarda Wesseling und das Schweizer Nouvel Ensemble Contemporain unter Pierre-Alain Monot mit Mahlers "Kindertotenliedern" in einer Fassung von Rainer Riehn. Diese und weitere Bearbeitungen der Wiener Moderne um 1900 finden sich auf einer im Herbst erschienen CD des Schweizer Labels CLAVES, die in Deutschland vom Klassik Center Kassel vertrieben wird.

    Titel: "Wien 1900"
    Solistin: Maria Riccarda Wesseling, Mezzosopran
    Ensemble: Nouvel Ensemble Contemporain
    Leitung: Pierre-Alain Monot
    Label: Claves records/ Klassik Center Kassel
    Labelcode: LC 3369
    Bestellnr.: 50-2312