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Musik, Matsch und Marken

Festivals boomen deutschlandweit. Sie sind eine eigene Erlebniswelt - und auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, zumal sich der Musikkonsum durch das Internet stark geändert hat.

Von Nadine Lindner | 28.05.2012
    Amüsiert, aber auch etwas wehmütig sitzt Marita Delas in ihrer Kölner Wohnung vor dem Laptop. Die 30-Jährige schaut sich Filme an, die sie vor fünf Jahren auf dem "Haldern Pop"-Festival gedreht hat. Es sind kleine persönliche Erinnerungsstücke.

    "Das war ein Jahr, wo es unglaublich viel geregnet hat. Wir haben Gummistiefel angehabt. Und wir standen vor der Bühne. Und das Wasser war so hoch, dass es wirklich in die Gummistiefel rein ist. Aber es war trotzdem schön."

    Auf ihren Videos ist die typische Ausstattung der Festivalbesucher zu sehen – sie haben sich eine kleine Zeltlandschaft aufgebaut.

    "Wasserdichte Zelte, mehr oder weniger. Dann gab es einen Pavillon. Den, finde ich, muss man immer dabei haben. Weil das ist irgendwie so eine kleine Basis, die man sich dann schafft. Mit Stühlchen und Tischen und es gibt dann auch diese Campingstühle mit Glashaltefunktion. Wo man dann auch morgens noch die Reste vom Vortag findet."

    Und natürlich - immer wieder im Bildrand zu sehen - Gummistiefel. Eines der wichtigsten Kleidungsstücke an so einem Wochenende, einem regnerischen Wochenende in Deutschland.
    Regen – neben der Musik vielleicht die elementarste Festivalerfahrung überhaupt – die auch die Musiker teilen:

    R.E.M., "Rock am Ring": "I am really wet now."

    Ein Mitschnitt des Auftritts der amerikanischen Band R.E.M. beim Festival "Rock am Ring". Die Bilder aus dem Jahr 2005 zeigen den Sänger Michael Stipe. Auf der Glatze zerplatzen die Regentropfen. Die dunkle Schminke um seine Augen hat sich aufgelöst und rinnt in kleinen Bächen über seine Wangen.

    "Ich bin von oben bis unten nass, ruft Stipe von der Bühne herunter. Eine Schlüsselszene für die Festivalkultur, Publikum wie Musiker stehen im Regen. Und lassen sich doch nicht unterkriegen. Seit Stunden haben die meisten Besucher hier gewartet, um ganz nach vorne zu kommen."

    Und allen Widrigkeiten zum Trotz: Mit der Aussicht auf Konzerte unter freiem Himmel werden auch in diesem Sommer wieder Tausende die deutschen Musikfestivals besuchen. Die meisten von ihnen beginnen freitags, enden sonntags. Manchmal reisen die Besucher schon Tage vor Veranstaltungsbeginn an, bauen schon mal das Zelt auf und feiern auf dem Campingplatz. Thomas Vorreyer arbeitet für das Musikmagazin "Spex", er beobachtet die Festivalszene schon seit Längerem, das Konzept habe sich bei den Besuchern durchgesetzt:

    "Dass es die spannendste Form geworden ist, Musik zu konsumieren, wahrzunehmen. Mit seinen Freunden. Mit anderen Tausenden. An einem See oder an einem Wald, Musik zu hören. Die Leute sind noch dafür bereit, Geld auszugeben. Das kann man sich nicht mit einem Download ziehen. Das muss man selber erlebt haben. Die sich dann einbrennen."

    Alle Musikgenres finden ihr Publikum, beginnend mit Rockfestivals wie "Rock am Ring" oder "Hurricane" über Reggae, Metal, Hiphop, Welt-Musik oder Techno. In ganz Deutschland verteilt. Vom Metal-Festival "Wacken Open Air" nördlich von Hamburg bis hin zum "Chiemsee Reggae" nicht weit von der österreichischen Grenze entfernt. Die Festivalsaison startet in der Regel am Pfingstwochenende – so auch in diesem Jahr - und zieht sich bis in den September hinein. Die Tendenz – stetig steigend. Allein in Deutschland gibt es weit über hundert solcher Musikevents. Jedes Jahr kommen neue Festivals dazu, bestehende Veranstaltungen bauen ihre Kapazitäten aus: mehr verkaufte Tickets, längere Dauer. Mittlerweile werden an jedem Wochenende während der Open-Air-Saison irgendwo in Deutschland Zelte und Bühnen aufgebaut, manchmal auch an vier oder fünf Orten gleichzeitig.

    Thomas Michow ist Präsident des Bundesverbandes der deutschen Veranstaltungswirtschaft. Er beobachtet den deutschen Veranstaltungsmarkt seit mehr als 20 Jahren und ist immer noch ein wenig erstaunt über den rasanten Aufstieg der Festivals:

    "Das Festival ist eine vergleichsweise zum Konzert eine neuere Darbietungsform. Die ersten Festivals haben hier in den 60er-Jahren begonnen. Man hat bis dahin gar nicht daran geglaubt, dass eine Veranstaltung Open Air mit verschiedenen Künstlern an einem Abend oder mehreren Abenden erfolgreich sein könnte."

    So breit, wie das musikalische Spektrum ist, so unterschiedlich sind auch die Besucherzahlen. Allein in Deutschland reichen sie vom publikumsstärksten Festival "Rock am Ring" mit rund 85.000 Gästen oder dem "Hurricane" mit etwa 50.000 über Festivals mittlerer Größe wie das "Melt" mit 20.000 Tickets bis hin zu kleinen Veranstaltungen mit unter 10.000 Besuchern wie das "Haldern Pop Festival". Viele von ihnen sind bereits jetzt ausverkauft.

    International sind die Dimensionen noch etwas größer: Zum britischen "Glastonbury"-Festival kommen 150.000, nach Budapest zum dortigen "Sziget"-Festival fahren jeden August 400.000 Gäste. Große Festivals gibt es auch in den Niederlanden, Dänemark oder Spanien.

    Noch eine Videoaufnahme aus dem Fundus von Marita Delas, auf dem Campingplatz. Ihre Zeltnachbarn geben ihr vor der Kamera ein Ständchen – allerdings nicht mehr ganz nüchtern. Das Campen im Matsch verbindet die Festivalgänger. Kein Zufall, wie Soziologen finden.

    Gregor Betz: "Der Gemeinschaftsaspekt, also, dass eben traditionelle Gemeinschaften schwinden. Und Events eben ein klarer fester Rahmen sind, eine klare Gemeinschaft darbieten. Man kommt zusammen mit Menschen, die ähnliche Interessen haben, die ähnliche Musik hören. Man hat ein klares Gemeinschaftsgefühl, das man sonst im Alltag nicht verspürt. Und zum anderen, ein Event ist vorstrukturiert, dass man gar nicht so viele Entscheidungen treffen muss. Das ermöglicht eine viel stärkere Leichtigkeit des Seins im Grunde genommen."

    Gregor Betz von der Universität Dortmund. Er ist sozusagen Festivalforscher, arbeitet im Team von Ronald Hitzler, der den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie innehat. Betz berichtet von einer großen Solidarität unter den Festivalgängern. Eine Gemeinschaft, die schnell entsteht, aber auch genauso schnell wieder verlassen werden kann. Sie lebt vom Moment:

    "Da braucht man nicht viel kommunizieren. Da muss man einfach nur man selber sein, ohne viel nachdenken zu müssen."

    Zu den Dortmunder Festivalforschern gehört auch Babette Kirchner. Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch über das "Fusion"-Festival, eine alternative Techno-Veranstaltung mit etwa 50.000 Besuchern. In ihrem Buch beschreibt sie die Festivalfahrten als fast rituellen Wandlungsprozess, als "Rites de passage":

    "Die Festivalbesucher trennen sich geografisch und mental vom Alltag, um dann wiederum erneuert und verändert zurückzukehren."

    Ihr Fazit: Ein Festivalbesuch ist ein bewusster Bruch mit dem Alltag, ein exzessiver, hedonistischer Moment:

    "Es geht nicht darum, besonders viel zu erleben, sondern besonders intensiv zu erleben."

    Ein Gefühl, das auch Vera Pirone kennt. Die 19-Jährige kommt aus der Nähe von Kassel und ist begeisterte Festivalgängerin, auch das "Fusion"-Festival, über das Babette Kirchner geforscht hat, hat sie schon besucht:

    "Es ist ganz komisch, vom Festival wieder zu kommen, finde ich. Es ist ganz ruhig auf einmal zu Hause, ganz still. Und ganz kurz ist es auch so, dass man sich einsam fühlt. Wenn es ein gutes Festival war, dann profitiere ich da noch lange davon, mein Tank an Glück ist dann auch wieder voll. Das ist total Urlaub. Mehr Urlaub geht eigentlich nicht, als auf ein Festival zu fahren."

    Auch Jonas Schlierkamp ist Festivalfan. Er studiert in Dortmund und war schon einige Mal auf dem "Summer-Jam-Reggae"-Festival in Köln:

    "Gerade diese Gemeinsamkeit, wenn man beim Reggae, wenn man mit Steven Marley mit zehntausend Leuten Bob Marley's "One Love" singt, dann ist das emotional. Das ist eine schöne Sache."

    Wie Vera und Jonas berichten fast alle Festivalgänger von der besonderen Stimmung, die sie dort suchen. Was diese Besonderheit ausmacht, hat die Soziologin Babette Kirchner nach ihrer Recherche auf dem "Fusion"-Festival analysiert. Dabei beschreibt sie die Begeisterung während der Konzerte, wenn die Kommunikation zwischen Publikum und Band oder DJ klappt und sie sich gegenseitig anfeuern:

    "In diesen Feedback-Schleifen, die sich zwischen DJ und Tanzenden aufbauen, laden sich im Prinzip energetische Felder auf. Diese energetischen Felder entladen sich dann quasi explosionsartig. In dem Moment, in dem der DJ die Bässe wieder reindreht und die Tanzenden wieder weitertanzen können, so begeistert sind, dass der DJ mit ihnen in Kontakt tritt, dass die anderen Tanzenden vermeintlich genau das Gleiche fühlen wie sie selbst."

    Der Soziologe Ronald Hitzler hat noch eine andere Dimension erfasst. Es zähle nicht nur die Gemeinschaft. Was Menschen immer wieder zum Feiern treibe, sei schlicht und ergreifend ein Schutz vor dem Verrücktwerden:

    "Es gibt überhaupt keine menschliche Kultur, in der es nicht etwas gibt, das den Alltag unterbricht. Sonst würden sie den Alltag nicht aushalten. Sie würden ihn physisch nicht aushalten können, aber auch psychisch nicht."

    Ein Festivalbesuch ist damit nicht nur eine emotionale, sondern auch eine körperliche Erfahrung. Nicht nur, was das Wetter anbelangt. Noch einmal erzählt Jonas Schlierkamp:

    "Man schläft nicht viel. Man isst nicht viel. Man ist dann halt fertig, wenn man zu Hause ist. Aber an den Festivaltagen interessiert das halt nicht."

    Die Berliner Band "Beat Steaks" ist bei einem Festivalauftritt bekannt für ihre Bühnenshow, aber auch für ihre ekstatischen Fans. Die Kamera, mit der dieses Internetvideo gedreht worden ist, zoomt immer wieder in die Menge. Menschen lassen sich auf den Händen der Menge nach vorne tragen – Crowd Surfing – ein wichtiger Bestandteil der Konzertkultur. Aus der Kameraperspektive sieht es aus, als würden die Crowd-Surfer über dem Publikum schweben.

    Andre Lieberberg kennt solche Szenen aus nächster Nähe. Oft steht er mit den Sicherheitsleuten im Graben zwischen Bühne und Publikum. Er will genau sehen, wie die Bands ankommen, die er eingekauft hat. Seit zehn Jahren ist er "Booker" der Marek Lieberberg Konzertagentur, die unter anderem "Rock am Ring" veranstaltet:

    "Es ist eine wahnsinnige Aggressivität, aber keine, die einem Angst macht. Und eben da geht es wieder um das kontrollierte Ausleben von Emotionen. Das kontrollierte Ausbrechen aus dem Alltag, auch körperlich. Wenn ich einen Bürojob habe, Student oder Schüler bin, verbringe ich die meiste Zeit doch vor dem Computer, mich gemächlich bewegend. Und in diesen drei Tagen ist es eine körperliche Befreiung, des Loslassens. Auch des Zerfallszustandes und des Genießens des Zerfallszustandes."

    Die Lust am körperlichen Zerfall: Es geht ums Feiern, ums Abschalten. Aber natürlich, es geht – eigentlich - um Musik. Wenn Andre Lieberberg im Graben steht, will er wissen, wie sein Publikum tickt. Denn die Hörgewohnheiten haben sich in den vergangenen zehn, 15 Jahren verändert. Eine wichtige Rolle spielt dabei der zunehmende Musikkonsum im Internet:

    "In erster Linie glaube ich, dass sich diese Allgegenwärtigkeit von Musik und auch aller Genres so vervielfältigt und intensiviert hat, dass eben auch die Hörgewohnheiten sich verändert haben. Dass die starren Abgrenzungen zwischen Genres, was man hört und was man nicht hört, was man mag und was man nicht mag, sich fast schon komplett aufgelöst haben."

    Das Konzept des Großfestivals mit einem breit angelegten Programm kommt diesem veränderten Musikkonsum also entgegen. Zwischen zwei, drei bekannten Bands lassen sich immer wieder Neuentdeckungen machen. Diese Beobachtung teilt auch Sascha Krüger, er ist der Chefredakteur des "Festivalplaners", ein Termin- und Veranstaltungskalender, der zur Musikzeitung "Visions" gehört:

    "Ich habe schon mit Bands selber darüber gesprochen. Und die sagen, es ist nicht möglich, einen Erfolg auf einem Festival zu begründen. Aber es ist möglich einen begonnenen Erfolg sehr stark auszubauen."

    Hinzu kommt eine besondere Stimmung oder auch Erwartungshaltung auf dem Platz, die Andre Lieberberg immer wieder beobachtet hat. Es ist ein Flirt, das Publikum möchte umworben werden, ein Unterschied zum Hallenkonzert:

    "Natürlich auch anders, als bei eigenen Konzerten, weiß eine Band, dass das nicht nur ihr Publikum hier ist. Sondern sie müssen sich das Publikum erspielen. Das Publikum weiß das auch und genießt auch diese Momente der Spannung. Dass man eben nicht vorher weiß, da spielt Coldplay für die Coldplay-Fans."

    Ein Beispiel für die Vielfalt in der deutschen Festivallandschaft. Diese lebt nicht nur von den Großveranstaltungen. Spannend wird sie auch durch die unzähligen Kleinfestivals, in dem sich jedes Genre wiederfindet. Nicht nur aktuelle Bands, sondern auch "alte Helden" finden auf Festivalbühnen wieder ihren Platz, sagt Sascha Krüger. Ein Ort für diese "alten Helden" ist beispielsweise das kleine "Burg-Herzberg-Hippie"-Festival in Hessen. Mit einer speziellen Musikfarbe wendet es sich an ein besonders Publikum. Und es lebt auch von ihm. Denn die Grenzen zwischen Publikum und Künstler können fließend sein erzählt Geschäftsführer Gunther Lorz:

    "Wir haben prinzipiell eine hohe Musikerdichte und Veranstalterdichte in unserem Publikum. Und es ist auch nicht klar, wie viele Bühnen wir tatsächlich auf dem Festival vor Ort haben. Schön ist, dass eine Band kommt und auf ihrem Bus Konzerte gibt."

    Das Publikum ist selbst der Star, gestaltet durch eigene Musik oder auch kleine Kunstaktionen mit. Das ist einer der großen Unterschiede zwischen Hallenkonzerten und Festivals. Eine weitere Eigenheit: Doch Festivals sind nicht nur ein Spaß, sondern auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.

    Ein Beispiel für den Expansionskurs bei Festivals ist das "Melt" in Sachsen-Anhalt. Hier der Auftritt der isländischen Sängerin Björk 2008. Das Jahr war ein Wendepunkt, seitdem hat sich das Wachstum stetig fortgesetzt, mehr Bands, mehr verkaufte Tickets.
    Mittlerweile werden mit Musikfestivals in Deutschland dreistellige Millionenbeträge umgesetzt. Im Jahr 2009 wurden nach Angaben des Bundesverbands der Veranstaltungswirtschaft rund 250 Millionen Euro erzielt. Diese Umsatzsumme ist im vergangenen Jahr auf weit über 300 Millionen geklettert. Jeder zehnte Euro der Musikveranstaltungsbranche komme mittlerweile von Musikfestivals, sagt Jens Michow. Das Ticket für "Rock am Ring" beispielsweise kostet über 150 Euro, für das "Hurricane"-Festival werden 125 Euro fällig. Dreistellige Ticketpreise sind keine Seltenheit. Viele Beobachter sehen einen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der digitalen Musikverbreitung im Internet und dem Erstarken des Konzertgeschäfts. Es habe signifikante Kräfteverschiebungen gegeben, sagt Jens Michow vom Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft:

    "Sie haben Konzerte gemacht, um ihren Tonträger zu umwerben. Und nachdem die Tonträgerverkäufe immer uninteressanter wurden für die Künstler, haben sie entdeckt, dass man mit dem Live-Entertainment-Markt mindestens genauso große Einnahmen erzielen kann. Und mittlerweile ist es so, dass sich viele Künstler vorrangig auf das Live-Entertainment konzentrieren. Mittlerweile sind einige Bands dazu übergegangen, ihre Platten kostenlos ins Internet zu stellen."

    Das Geld liegt also mittlerweile im Konzert und nicht mehr im CD-Verkauf. Diese Beobachtung des Bundesverbandes teilt auch der "Festivalplaner"-Chefredakteur Sascha Krüger. Er hat die Entwicklung über Jahre verfolgt:

    "Begonnen hat die inflationäre Dichte der Festivals Ende der 1990er-Jahre. Einhergehend mit dem ersten Erkennen der Musikindustrie, dass sich sehr radikal etwas Grundlegendes ändern wird. Durch das Internet und die Gratiskultur, die mit Musik stattfindet. Sodass man grundsätzlich nach neuen Einkommensquellen Ausschau halten musste als Musiker."

    Mitte der Nuller-Jahre war dann der Branche endgültig klar, dass diese Veränderungen von Dauer sein dürften. Teil dieser Professionalisierung sind auch die gestiegenen Sicherheitsanforderungen. Im Jahr 2000 wurden bei einer Massenpanik auf dem dänischen "Roskilde"-Festival neun Menschen erdrückt. Und auch das Unglück der "Love-Parade" im Jahr 2010, bei dem 21 Menschen starben, ist noch präsent. Zu der Expansion gehört aber auch, dass Musikfestivals mittlerweile ihren festen Platz im Jahresablauf haben, wie Sascha Krüger erklärt:

    "Es gibt da mittlerweile auch eine interessante Regel. Dass Bands versuchen in der Regel im Herbst ein Album aufzunehmen, dann auf Clubtour gehen. Und dann die Festivalsaison noch dranhängen. Das machen viele Bands, weil sich da das Geld verdienen lässt."

    Wichtig für die Einnahmen der Veranstalter ist mittlerweile auch das Sponsoring. Viele Firmen nutzen Festivals, um dort ihre Produkte zu präsentieren. Autos, Mode, Kosmetik, Telekommunikation – der Konzertbereich gleicht mancherorts einer Werbearena. Neben den Ticket-Einnahmen werden für die Veranstalter Einkünfte aus Gastro-Lizenzen, Verkauf von Fan-Shirts und eben Werbung immer wichtiger.

    Andre Lieberberg: "Durch diese gestiegene Emotionalität, die Menschen für ihre Lieblingskünstler aufbringen. Das ist natürlich etwas, das wünschen sich fast alle großen Firmen dieser Welt. Etwas davon mitzunehmen und auch die Marke dadurch zu emotionalisieren, ist sehr in den Vordergrund gerückt."


    Doch hier zeigen sich auch Schattenseiten des Booms, Musikfans fühlen sich durch die Werbung bedrängt, kritisieren die Kommerzialisierung, wie Thomas Vorreyer von "Spex" beschreibt:

    "Ich glaube, dieser Trend kehrt sich auch gerade ein bisschen um. Es gibt so eine gewisse Übersättigung, würde ich sagen."

    Ein weiterer Nebeneffekt des stetigen Wachstums ist, dass viele Festivals Monate im Voraus ausverkauft sind. Da bleibt wenig Platz für Spontaneität. Wie auch Marita Delas schmerzvoll feststellen musste. Eigentlich wäre sie dieses Jahr gern wieder mit allen ihren Freunden nach Haldern gefahren. Doch keine Chance, die Tickets sind restlos vergriffen. Der Boom auf der einen Seite kann also auch zu Frust bei Musikliebhabern auf der anderen Seite führen. Marita bleibt der Blick auf die alten Videos und – wenn es denn dann klappt - die Vorfreude auf das kommende Jahr.