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Musik ohne Handlung

Die Inszenierung der "Perlenfischer" in Paris ist allein wegen Georges Bizets Musik und ihrer Interpretation überzeugend. Der accentus Chor sang formidabel und Leo Hussain wurde am Pult des exzellenten Orchestre Philharmonique de Radio France vom Publikum bejubelt.

Von Jörn Florian Fuchs | 20.06.2012
    Triviale Opernstoffe gibt es ja wie Sand am Meer, aber wenn die Musik stimmt, dann nimmt man auch die unwahrscheinlichsten Affären und absurdesten Verwicklungen gern in Kauf. Doch bei den "Perlenfischern" geht das echt zu weit (Libretto Eugène Cormon und Michel Carré). Wir sind im vorkolonialen Ceylon, ein Dorfoberhaupt ermahnt die verschleierte Dorfschönheit, aus religiösen Gründen auf Triebe und Liebe zu verzichten, doch sie verguckt sich in einen jungen Jäger, der wiederum mit dem Häuptling – Beruf Perlenfischer – befreundet ist, und der die Dame auch begehrt. Aus Rache sollen Dorfschönheit und Jäger den Fischen zum Fraß vorgeworfen werden. Die Verschleierte entpuppt sich außerdem noch als von beiden Männern bereits vor einiger Zeit schon mal Verehrte. Am Ende begnadigt der geläuterte Alte die Liebenden, indem er ein Feuer legt und damit die der Hinrichtung harrende Dorfgemeinschaft ablenkt. Mit Verlaub, daraus kann niemand szenisch etwas überzeugendes basteln. Wohl deshalb erobern Bizets "Perlenfischer" die Spielpläne der Opernhäuser eher selten und wenn doch, dann meist konzertant.

    In Paris war bei dieser Premiere ein solcher Run auf die Karten, dass sogar die von weit her angereiste Kritik sich auf Notsitzen herumdrücken musste. Yoshi Oida unternahm den mutigen Versuch, so etwas wie eine Inszenierung vorzulegen. Oida lernte und spielte einst bei Peter Brook, doch mittlerweile übt er sich in gediegenem Ästhetizismus, mit ein paar asiatischen ‚Extras’. Die Bühne der Comique ist mit Kalk beschmutzt, im Hintergrund hängt ein Schüttbild mit Wolken und Farbflächen, dazu kommen ein Speer und Bootsgerippe, die zeitweise sogar im Bühnenhimmel hängen. Halbnackte Mannen wälzen sich herum oder springen mit Schwimmbewegungen von einer Holzschräge ab (Choreographie Daniela Kurz). Sehr statisch agieren die Hauptfiguren, der Chor ist nur adrettes Beiwerk. Den stärksten Moment gibt es, als die Chorkantilenen aus dem Off kommen, es öffnen sich die Türen des Rangs und von dort strömen Bizets zauberische Motive herein.

    Allein wegen dieser Musik lohnte sich jede noch so weite Reise und Anstrengung. Nicht nur sang der accentus Chor unter Christophe Grapperon formidabel, Sonya Yoncheva gab die geheimnisvolle Schleiereule Léїla mit unverschleiertem Schönklang, Dmitry Korchak interpretierte den jungen Liebhaber Nadir ebenso prägnant wie André Heyboer den fiesen Zurga orgelte. Nicolas Testé überzeugte als Nourabad – so eine Art Hausmann für alles. Wirklich sensationell und vom Publikum am meisten bejubelt wurde allerdings Leo Hussain am Pult des exzellenten Orchestre Philharmonique de Radio France.

    Bizet hat das Stück in sehr kurzer Zeit herunter geschrieben, doch was da entstand, ist ebenso eigenständig wie brillant. Mit eigentlich simplen Effekten, etwa leicht angeschrägten Flötenfiguren oder feinen Schlagwerknuancen, schafft er eine genuine, exotische Tonwelt voller Kraft und Saft. Grundfiguren kristallisieren sich allmählich heraus, es gibt hochwirksame Übergänge (wobei nicht alles reiner Bizet ist, die Geschichte der verschiedenen, teilweise rekonstruierten Fassungen ist eine komplizierte Angelegenheit). Mühelos hielt Leo Hussain diesen Laden voller merkwürdiger Dinge zusammen und bewies, dass es wirklich ganz und gar nicht immer nur Carmen sein muss. Man wünscht rasch ein da capo, am besten konzertant.