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Musik über Musik

Gleich einen ganzen Reigen zeitgenössischer Bearbeitungen der Bach'schen Goldberg-Variationen hat die luxemburgische Formation "United Instruments of Lucilin" im vergangenen Jahr eingespielt. Die ästhetischen Vorgaben an die geladenen Komponisten waren knapp, der Spielraum sehr groß - die individuelle Note sollte im Vordergrund stehen.

Von Frank Kämpfer | 21.03.2008
    Am Mikrofon Frank Kämpfer - drei sehr verschiedenartige CDs mit zeitgenössischer und Musik der Moderne stelle ich Ihnen heute kurz vor. Ihr gemeinsamer Nenner: es geht um Musik über Musik.

    " Garth Knox, Goldbergs Ghost "

    Dialog der Techniken und der Jahrhunderte: die obertonreiche Viola d'amore und das anfangs gestrichene, später zu freier Virtuosität auflaufende Marimbaphon stehen für musikalische Welten, die auf den ersten Blick einander kaum fremder sein könnten: Kammermusik aus der Mitte des 18. Jahrhunderts und freie, improvisierte Musik der Gegenwart. Hier, im Kommentar zu Bachs Goldberg-Variationen fügen sie sich in eins. Das heißt, Projektinitiator, Solist und Komponist Garth Knox lässt sie zunächst rhythmisch ins Stolpern geraten und auseinander rücken, damit - wie er sagt - die entscheidende Lücke entsteht, der Spielraum für "Goldbergs Geist".

    Gleichnamiger Titel, "Goldbergs Ghost", eröffnet den Reigen zeitgenössischer Bearbeitungen Bach'scher Goldberg-Variationen, zu denen die luxemburgische Formation United Instruments of Lucilin im vergangenen Jahr eine Handvoll europäischer Komponisten eingeladen hatte. Die ästhetischen Vorgaben waren nur knapp, der Spielraum sehr groß - lediglich die individuelle Note sollte im Vordergrund stehen.

    Garth Knox, der irisch-schottische Bratschist und Original-Instrument-Spezialist, näherte sich dem Material improvisierend. Der Niederländer Ton de Kruyf arbeitet mit Keimzellentechnik - aus knapper Motivik entwickelt er schnell wachsende Strukturen. Der Luxemburger Marcel Reuter gründet seine Variation "Désert/forêt" auf Arpeggien und Triller - die er als Archetypen barocken Musizierens versteht. Und Bernard Struber, ansässig in Strassbourg, anverwandelt sich Bach in einer Sprache des Jazz.

    Das klingende Gesamtresultat ist eine sicherlich diskutierbare 22teilige Suite, in der ausgewählte Originalsätze Bachs mit den neuen Stücken alternieren. Das Besondere daran ist zugleich das Problematische - und andersherum. Ästhetische Heterogenität heutiger musikalischer Sprachen war erklärtermaßen das Ziel des Projekts - Bach selbst, die Projektionsfläche aller, hält sie zusammen. Vielleicht kommt der französische Komponist Brice Pauset Bach'schem Denken am nächsten. Erblickt auf Bach aus der Position eines Cembalisten, der das Originalwerk gut kennt. Bachs ‚Gewebe', darin Stimmen permanent springen, sich kreuzen, darin Motive aufeinander prallen und sich ineinander verflechten, kommentiert Pauset seinerseits mit einer strengen Kammermusik, die von einem Geborstensein spricht:

    " Bach, Goldberg-Variationen. dar.: Canone alla Settina "

    " B. Pauset, Vier Variationen (3) "

    "Goldberg's Ghost" - Bachs Goldberg Variationen und zeitgenössische kompositorische Auseinandersetzungen von Garth Knox, Marcel Reuter, Brice Pauset, Bernard Struber und Ton de Kruyf - eingespielt vom luxemburgischen Ensemble United Instruments of Lucilin. Erschienen ist diese Produktion beim jungen belgischen Label Fuga Libera - in Deutschland ist selbiges durch den Vertrieb Note 1 vertreten.

    Kompositorische Auseinandersetzungen mit Johann Sebastian Bach reichen lange zurück. Die musikgeschichtliche Spur zieht sich von Mozart zu Fanny und Felix Mendelssohn, von Schumann zu Brahms und Reger bis hin zu Hanns Eisler und Anton von Webern. Stets war dies ein Geben und Nehmen - stets hieß Wiederentdecken ‚mit eigener Handschrift tradieren', stets bargen Rückgriffe aus anderer Zeit auch Innovation. Arnold Schönberg zum Beispiel lernte von Bach das kontrapunktische Denken, die Befreiung vom Taktteil und die Kunst, alles aus Einem zu schaffen. Keineswegs fand sein substanzielles Inter-kesse an Bach seinen Niederschlag nur in avancierter, d.h. 12-tönig organisierter Musik, sondern in Gestalt drei Instrumentierungen Bach'scher Vorlagen. Es handelt sich dabei um Präludium und Fuge Es-Dur, BWV 552 sowie um zwei Choralbearbeitungen aus den 18 Chorälen. Wie zu erwarten handelt es sich nicht um bloße Transkription. Schönberg war offenkundig darauf aus, hierbei sowohl Bachs kompositorisches Denken, als auch die Klangpotentiale des großen Orchesters und seine eigenen Erfahrungen mit Metren und Farben zusammen zu führen. mehr oder weniger in den Registern einer romantischen Orgel seziert der Bearbeiter den Klang des Orchesters, indem er Akkorde und Stimmen spezifischen Instrumentalgruppen zuweist, so dass ein klanglich sehr apartes inner-orchestrales Kommunizieren entsteht:

    " Bach/Schönberg, Präludium BWV 552 "

    Ein Hineinhören in den Anfang der Fuge aus Bachs Präludium und Fuge BWV 552 in Arnold Schönbergs Orchestrierung - vom Sinfonieorchester des Mittel-deutschen Rundfunks Leipzig unter Jun Märkl hier flüssig, klangschön, zweifellos aber ein wenig zu geglättet interpretiert.

    Besagte drei Bachbearbeitungen finden sich auf einer vom Mitteldeutschen Rundfunk editierten neu Orchester-CD, in deren Zentrum allerdings Schönbergs eingreifende Bearbeitung von Brahms Klavierquartett Nr.1 raumgreifend steht.

    Die Suche nach der Wiederkehr alter Musik in heutigem Komponieren führt zum Abschluss der Sendung zu einer Urheberin, deren Name hier überrascht. Gloria Coates, geboren 1938 im US-Bundesstaat Wisconsin, fühlt sich europäischer Musiktradition aufs engste verbunden, was sich in einem Oeuvre niederschlägt, in dem Streichquartette und Sinfonien dominieren. Keineswegs orientiert sich Coates an klassischen Modellen - die sinfonische Arbeit bietet ihr Freiraum für einen Personalstil ganz eigener Art. Ihre jüngste, die 2004/2005 notierte Sinfonie Nr. 15 kann man als eine Art Schaufenster ihres Komponierens verstehen: Hier finden sich die für Coates so typische Arbeit mit großen Glissandi, das Interesse an Mikrotonalität, die Tendenz zur Verschleierung thematischer Gebilde, die Offenheit des Materials und bei allem eine immense Strenge der Form.

    Überraschendender Weise beginnt der Mittelsatz ganz tonal: mit einem Zitat nämlich aus Mozarts Motette "Ave verum corpus", die wiederum einen Rückgriff auf eine Technik frührer Zeiten darstellt. Geisterhaft zieht sich die Kernmelodie durch die gesamte Faktur - sie wird in einen wahren Strudel von Glissandi hineingesogen, rückwärts gedreht, gedehnt und wie eine unauslöschbare Kennung bewahrt.

    " Gloria Coates, Sinfonie Nr. 15 "

    Soweit ein Ausschnitt aus dem Mittelsatz der Sinfonie Nr. 15 von Gloria Coates. Diese vom Radio Sinfonieorchester Wien unter Michael Boder dokumentierte, höchst eigensprachliche Mozart-Hommage wird von zwei anderen Werken der Komponisten flankiert: einem auf 1972 datierten "Requiem" und der Orchester-Musik Transitions, die sich um eine Arie Henry Purcells baut und aus der später die Sinfonie Nr. 4 entstand. Erschienen ist diese CD beim Label Naxos, wo sie nunmehr eine kleine Gloria-Coates-Werkreihe fortführt.

    Zuvor habe ich Ihnen eine in der MDR-Edition geführte Orchester-CD mit Bach- und Brahms-Bearbeitungen angespielt sowie die beim neuen belgischen Label Fuga Libera erschienene CD "Goldberg's Ghost".


    Diskografie
    01
    Garth Knox, Goldbergs Ghost
    CD Fuga libera FUG 533, kein LC

    02
    Bach, Goldberg-Variationen. dar.: Canone alla Settina
    CD Fuga libera FUG 533, kein LC

    03
    B. Pauset, Vier Variationen (3)
    CD Fuga libera FUG 533, kein LC

    04
    Bach/Schönberg, Präludium BWV 552
    CD MDR Edition 17, kein LC

    05
    Gloria Coates, Sinfonie Nr. 15
    CD Naxos 8.559371, LC 05537