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Musikalischer Mathematiker

Er war einer der Wegbereiter der Musik des 20. Jahrhunderts. Über sich selbst sagte Claude Debussy, er sei kein Impressionist, sondern betreibe "musikalische Mathematik". Jazz und javanische Gamelan-Musik, Symbolismus und Rückgriffe auf barocke Vorbilder fließen in seinen Werken zusammen.

Von Michael Stegemann | 22.08.2012
    Das Prélude à l’après-midi d’un faune ist eines der Schlüsselwerke der frühen Moderne. Als es 1894 in Paris uraufgeführt wurde, war sein Komponist Claude Debussy 32 Jahre alt und begründete mit diesem Orchesterstück den musikalischen Impressionismus.

    "Ach, Unsinn! Impressionismus – das ist bloß ein Schlagwort, das sich irgendwelche Idioten ausgedacht haben, um ihre Gegner zu diffamieren!"

    Debussys Protest war vergebens: Das Attribut "Impressionist" hängt ihm bis heute an. Geboren am 22. August 1862 in St. Germain-en-Laye, war Debussy eher zufällig zur Musik gekommen. Von 1872 bis ‘84 studierte er am Pariser Conservatoire Klavier und Komposition und galt schon früh als ein unbequemer Modernist. Der "Wagnerismus", der damals in Paris den Ton angab, war sein großes Trauma, gegen das er ankomponierte – bis hin zu dem verzerrten Tristan-Zitat in Golliwogg’s Cake-Walk, einem der ersten vom Jazz inspirierten Stücke der klassischen Musik.

    "Richard Wagner war ein Sonnenuntergang, den man irrtümlich für eine Morgendämmerung gehalten hat."

    Ein weiterer wichtiger Einfluss war die javanische Gamelan-Musik, die Debussy auf der Weltausstellung von 1889 kennenlernte, und die in vielen seiner Werke nachklingt – etwa in dem Klavier-Prélude Voiles, "Segel".

    Jahrelang führte Debussy das Leben eines Bohémiens, verkehrte eher mit Malern und Literaten als mit Musikern und arbeitete als Kritiker. Den Durchbruch brachte 1902 die Oper Pelléas et Mélisande, die ihn zum Kopf der neuen französischen Musik machte. 1904 begleitete Debussy am Klavier die erste Mélisande – Mary Garden – für eine Schallplattenaufnahme.
    Nicht nur für Maurice Ravel war Pelléas et Mélisande eine Offenbarung; der "Debussysmus" wies den jungen französischen Komponisten den Weg ins 20. Jahrhundert.

    "Es gibt keinen ‚Debussysmus‘. Ich habe keine Schüler und bin nicht der Kopf irgendeiner Schule – ich bin ich."

    Sein Komponieren sei "musikalische Mathematik", erklärte Debussy einmal; und wirklich sind die Klang-, Harmonie- und Farbsetzungen seiner Musik beinahe kühl, trotz aller Intensität. Die klar gezeichneten Linien erinnern eher an japanische Farbholzschnitte, die Debussy bewunderte, als an impressionistische Gemälde Monets oder Renoirs. Orchesterwerke wie die drei Nocturnes oder das sinfonische Triptychon La Mer, Klavierwerke wie die Images, die Estampes oder die beiden Hefte der Préludes, oder auch seine rund 50 Lieder – in Debussys Musik vollzieht sich das Ende der Romantik.

    Dabei verstand er sich ausdrücklich als musicien français und bekannte sich zum Ideal der clarté – der Klarheit –, das seine Wurzeln im französischen Barock hatte, bei François Couperin oder Jean-Philippe Rameau. Seine Tonsprache wurde immer karger, und späte Werke wie die Ballette Khamma und Jeux oder auch das "Mysterium" Le Martyre de Saint-Sébastien fanden selbst bei seinen Anhängern kein großes Echo mehr – umso mehr bei einem Avantgardisten wie Igor Strawinsky, der mehrfach betont hat, wie viel er Debussy zu verdanken habe. Die letzten Jahre waren überschattet von einer schweren Krebs-Erkrankung und einer hässlichen Scheidungsaffäre, die in der Pariser Presse zum Skandal aufgebauscht wurde. Am 25. März 1918 ist Claude Debussy in Paris gestorben.