Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Musikalisches Denkmal und Lebenslust

Witold Lutoslawski hat in Andenken an seinen Kollegen Béla Bartók "Musique funèbre" geschrieben. Dieses Werk, zusammen mit einer Auswahl lebhafter Bartók-Stücke, ist in einer Neuaufnahme mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter der Leitung von Dennis Roussell Davies erschienen.

Von Ludwig Rink | 08.07.2012
    Wenn Sie im Internet nach angemessener Musik für ein Begräbnis suchen, stoßen Sie schnell auf ein Werk des polnischen Komponisten Witold Lutoslawski, nämlich auf dessen "Musique funèbre", die er zum Andenken an den ungarischen Kollegen Béla Bartók schrieb. Dieses etwa 14 Minuten dauernde Werk für Kammerorchester erschien jetzt in einer Neuaufnahme mit dem Stuttgarter Kammerorchester beim Label ECM, und wenn Sie die in Schwarz und dunklen Grautönen gehaltene CD-Box in Händen halten, vermuten Sie darin auch klanglich nichts als Schwermut, Trauer und Depression. Doch weit gefehlt: Außer dem musikalischen Denkmal Lutoslawskis gibt es hier nämlich in erster Linie eine Dreiviertelstunde Musik des Widmungsträgers Bartók, und die ist, zumindest auf den ersten Blick, überwiegend geprägt von Tempo, Tanz und Lebenslust, kurz: vom prallen Leben.

    "Béla Bartók
    Aus: Rumänische Volkstänze: Rumän. Polka und Schnell Tanz
    aus Track 2
    Stuttgarter Kammerorchester
    Leitung: Dennis Russell Davies
    LC 02516 ECM
    4764672"

    Bei Béla Bartóks Interesse an der Volksmusik, sei sie nun ungarischen, slowakischen oder rumänischen Ursprungs, stand für ihn trotz aller akribischen Sammler- und Forschertätigkeit nicht der Aspekt der Dokumentation im Vordergrund. Anfang des 20. Jahrhunderts versprach er sich davon vielmehr Impulse, wie man nach dem sich abzeichnenden Ende der Vorherrschaft des bisherigen Dur-Moll-Systems weiter komponieren könne. An den alten Bauernmelodien faszinierten ihn die archaischen, oft pentatonischen Skalen ebenso wie die mannigfaltigen freien rhythmischen Gebilde. Die hier erworbenen Kenntnisse und Anregungen fanden ihren Niederschlag in seiner Musik, führten zu einem ganz eigenen Weg der Befreiung von der erstarrten Dur-Moll-Skala, zu bisher unerhörten harmonischen Wendungen, zur Emanzipation von Dissonanzen und schließlich, auf ganz andere Weise als zum Beispiel bei Arnold Schönberg, zur vollkommen freien Verfügung über jeden einzelnen Ton des chromatischen Zwölfton-Systems.

    Bei den 1915 für Klavier und zwei Jahre später für Orchester gesetzten Rumänischen Volkstänzen hat Bartók Tänze bearbeitet, die er 1909 bei seiner Reise im damals noch zu Ungarn gehörenden Siebenbürgen gesammelt hatte. Ganz anders zeigt sich der Bezug zur Volksmusik ein Vierteljahrhundert später in seinem Divertimento. In dieser letzten noch vor seiner Emigration in Europa entstandenen Komposition schimmert ungarisches Kolorit nur noch von Ferne durch, und die Wildheit, die Freude an Rhythmus und Tanz nehmen oft eher bedrohliche Züge an. Man meint, die angesichts der Verhältnisse immer größer werdende Niedergeschlagenheit des Komponisten zu hören: Ihm war wohl bewusst, dass dieses Stück nicht nur seinen Abschied von der Heimat bedeutete, sondern dass diese Heimat in diesem Jahr 1939 am Abgrund einer großen Katastrophe stand. Den ersten Satz des dreiteiligen Divertimentos hält die Sonatenform zusammen, in der Mitte steht ein beeindruckend intensiver Trauermarsch und der letzte Satz, aus dem Sie jetzt einen Ausschnitt hören, ist als Rondo angelegt.

    "Béla Bartók
    Aus: Divertimento: Rondo (letzter Satz)
    aus Track 5
    Stuttgarter Kammerorchester
    Leitung: Dennis Russell Davies
    LC 02516 ECM
    4764672"

    Werke von Bartók mit Kompositionen seines polnischen Komponistenkollegen Witold Lutoslawski zu kombinieren, wäre auch dann sinnvoll, wenn nicht schon der Werktitel "zum Gedenken an" eine Verbindung nahelegen würde. Denn Lutoslawski schätzte Bartók außerordentlich, fühlte sich, eine Generation jünger, dessen musikalischem Denken in vielen Dingen sehr nahe. Ihm stellte sich die jüngere Musikgeschichte in zwei Hauptlinien dar, deren unterschiedliche Tendenzen von Schönberg auf der einen und Debussy auf der anderen Seite repräsentiert wurden. Dabei sei ihm, so berichtet er, die Schönberg-Richtung stets fremd geblieben, habe er sich eher dem von Debussy ausgehenden Zweig zugehörig gefühlt. Debussy und Ravel, Strawinsky und Bartók, Roussel und Prokofjew hätten direkten Einfluss auf sein Schaffen ausgeübt. Und dabei sei vor allem Bartók ein Leitbild von überragender und fortdauernder Bedeutung gewesen. Dies lässt sich durchaus bis in die Organisation und Auswahl des musikalischen Materials beobachten. Seit der Überwindung der Dur-Moll-Tonalität hatte der Komponist die vollkommen freie Verfügung über die einzelnen Töne des chromatischen Systems gewonnen, aber damit auch gleichzeitig die alleinige Verantwortung für das Klanggeschehen übernommen. Während Schönberg und viele seiner Nachfolger diese Verantwortung zumindest zum Teil durch mathematische Verfahren objektivieren wollten und alles Tonale radikal zu umgehen versuchten, scheuten Bartók und auch Lutoslawski nicht davor zurück, bestimmte Intervalle zu bevorzugen, ältere Skalen zu verwenden oder auch, sich von anderen Musikarten inspirieren zu lassen.

    Anders als Wolfgang Fortner, der 1963 meinte, Bartóks Werk habe zwar seinen geschichtlichen Platz, doch zu brennenden Fragen der Musik der Gegenwart spreche er nicht mehr, kann man heute durchaus in Ungarn über Sandor Veress eine Linie zu György Ligeti und Kurtâg bis hin zu Péter Eötvös in die Gegenwart ziehen – und da ließe sich auch Lutoslawski als eine Art Bartók-Nachfolger einordnen. In Lutoslawskis "Musique funèbre" spiegelt sich neben der Trauer um Bartók aber möglicherweise auch noch seine Erschütterung über die blutigen Ereignisse des gescheiterten Ungarn-Aufstandes von 1956.

    "Witold Lutoslawski
    Aus: Musique funèbre
    aus Track 1
    Stuttgarter Kammerorchester
    Leitung: Dennis Russell Davies
    LC 02516 ECM
    4764672"

    Erschienen ist diese CD mit Lutoslawskis Trauermusik und den Werken von Béla Bartók beim in München angesiedelten Label ECM, wobei die drei Buchstaben als Abkürzung für "Edition of Contemporary Music" stehen. Vor mehr als 40 Jahren von Manfred Eicher gegründet, konzentrierte man sich zunächst auf sehr sorgfältig gemachte, den Klang in den Mittelpunkt stellende Jazz-Produktionen. Am bekanntesten und vermutlich auch finanziell erfolgreichsten dürfte dabei der Mitschnitt des "Köln-Konzertes" des Pianisten Keith Jarrett gewesen sein. Typisch für ECM war auch stets, die angeblich so undurchlässigen Grenzen zwischen Genres und Musikstilen einfach nicht zu respektieren, wovon zum Beispiel die ebenfalls sehr berühmte Zusammenarbeit zwischen dem Jazzsaxofonisten Jan Garbarek und dem "klassischen" Hilliard-Ensemble Zeugnis ablegt. Und so überrascht es auch weiter nicht, dass man auf der neuen CD am Ende noch etwas ganz anderes aus Bartóks Feder geboten bekommt, dass nach den vom Stuttgarter Kammerorchester mit Präzision und hoher Musikalität dargebotenen Instrumentalstücken noch ein Konzertmitschnitt des Kinderchores des Ungarischen Rundfunks zu hören ist – Lieder, die eine weitere Facette des Künstlers Bartók zeigen, nämlich den Pädagogen. Er schrieb sie für das ambitionierte Musikerziehungsprogramm seines Freundes Zoltán Kodály, verwendete aber von vorliegenden Volksliedern nur deren Texte. Es sind also keine Volksliedbearbeitungen, sondern "im Volkston" geschriebene Eigenkompositionen.

    "Béla Bartók
    Aus: 27 zwei- und dreistimmige Chöre: "Loafer’s Song" und "Bread backing"
    Track 8 und Track 10
    Kinderchor des Ungarischen Rundfunks
    Stuttgarter Kammerorchester
    Leitung: Dennis Russell Davies
    LC 02516 ECM
    4764672"

    Die Neue Platte – heute mit Musik von Bartók und Lutoslawski, eingespielt vom Stuttgarter Kammerorchester unter der Leitung seines Ehrendirigenten Dennis Russell Davies. Zuletzt hörten Sie außerdem noch den Kinderchor des Ungarischen Rundfunks.