Freitag, 19. April 2024

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Musiker Tobias Siebert
Einmann-Orchester, Produzent, Polit-Rocker

Tobias Siebert spielt mit seiner Band Klez.e wuchtig-düstere Songs in Moll samt gesellschaftskritischen deutschen Texten. Unter dem Namen "And the golden choir" produzierte er vor zwei Jahren ein im Stimmenvielklang schwelgendes Popalbum, auf dem er alle Instrumente selbst bediente - und als Produzent arbeitet der Berliner auch noch.

Von Fabian Elsäßer | 16.04.2017
    Tobias Siebert von der Band klez.e
    Tobias Siebert von der Band klez.e (Deutschlandradio - Andreas Buron)
    Anfang Februar 2017 im Subway, einem kleinen Kellerclub in der Kölner Innenstadt. Es ist später Nachmittag und in dem niedrigen rechteckigen Raum mit der niedrigen Bühnen und der seltsam metall-verkleideten Wand sucht ein Mann nach seinem Gesangs-Sound. Tobias Siebert ist mit seiner Band Klez.e auf Tour, um das erste Klez.e-Album seit acht Jahren den Fans vorzustellen. "Desintegration". Früher waren sie zu fünft, jetzt sind sie nur noch zu dritt: Neben Gitarrist, Sänger und Multiinstrumentalist Tobias Siebert sind das Schlagzeuger Filip Pampuch und Bassist und Keyboarder Daniel Moheit. Die Stimmung beim Soundcheck ist konzentriert, aber alles andere als angespannt.
    "Jetzt ist der Scheiß-Knopf noch an. Genau, ich glaube, das ist der "Richtig-Scheiße"-Knopf. Ja, und wir machen den richtig-Scheiße - Knopf und den Scheiße-Knopf dann aus, beim ersten Einzählen, beim Konzert. Der Magic Shit Button. Mich hört Ihr gut oder? Das ist ja mal das Wichtigste."
    "Desintegration" hat viel Kritikerlob bekommen, aber auch bei den Hörern das Interesse an einer Band wiedergeweckt, die man zwischenzeitlich schon fast vergessen hatte, obwohl sie vor gut zehn Jahren von mehreren Musik-Journalisten schon zum nächsten großen Ding im Deutsch-Pop ausgerufen worden waren.
    "Wir haben jetzt ganz bewusst auch relativ bescheiden nach Orten geguckt, die zwischen 80 und 100 Leuten fassen, vielleicht 120. Es gibt Klubs, die sind um einiges größer, aber im Großen und Ganzen gings uns auch darum, Orte zu finden, die von dem, was sie ausmachen, auch dem Inhalt entsprechen, für den wir stehen, also den politischen Inhalt. Die ein ausgesuchtes Programm haben, die - jetzt lehne ich mir zu sehr aus der Tür - aber es war uns schon wichtig, in Dresden im Ostpol zu spielen oder in Hamburg im Molotow. Orte mit gut ausgewähltem Programm, mit Programm, das wir mögen und verstehen."
    Erklärt Annette Herrmann, die Frau von Tobias Siebert, die nicht nur Tourmanagerin und Merchandise-Chefin ist, sondern auch noch das Plattenlabel Loob Musik führt, auf dem neben Klez.e-Alben auch Tobias Sieberts anderen Projekte veröffentlicht werden, sowie eine ganze Reihe anderer Künstler.
    Die Leute haben Lust auf Düsternis beziehungsweise die Düsternis zu genießen
    Ein kleine feine Indie-Marke, die unter Kennern viel Respekt genießt, auch wenn der Massenmarkt woanders spielt. Das Unternehmen funktioniert in einer Nische, und in der haben es sich auch die wiederbelebten Klez.e gemütlich eingerichtet. Sogar mit deutlichen Zuschauerzuwächsen. Dabei hatte Siebert in einem Interview im Deutschlandfunk kurz nach Veröffentlichung von Desintegration noch Zweifel. Die Band habe sich das fertige Album angehört und dann gefragt: so düster, wie das klingt, wer soll das am Stück aushalten? Eine ganze Menge, so viele, dass die Tour verlängert werden musste.
    "Wir spielen nicht nur ein bis zwei Konzerte, sondern sogar noch eine knappe Woche. Es wurden immer mehr und mehr Konzerte. Die Leute haben Lust auf Düsternis beziehungsweise die Düsternis zu genießen und sich in Melancholie zu bewegen. Die Abende werden sehr gut aufgenommen, wir sind sehr froh, dass die Platte so gut aufgenommen wird. Das fühlt man dann auch, Publikum und Band jeden Abend auf der Bühne."
    Eines der eindringlichsten Stücke auf dem Album "Desintegration" ist dieses hier: "Nachtfahrt".
    Musik Klez.e Nachtfahrt
    Was für ein Kontrast zu And The Golden Choir, dem Solo-Projekt, mit dem Tobias Siebert vor der Wiederbelebung von Klez.e von sich hören machte. Die Texte des Debüts "Another Half Life" aus dem Jahr 2015 waren allesamt auf Englisch, die Musik melodramatisch und von klagendem, hohen Gesang geprägt. Und Siebert spielte alle Instrumente selbst.
    Musik "Another Half Life"
    Ein paar Wochen nach dem Klez.e-Konzert in Köln sind wir mit Tobias Siebert in seinem Studio in Berlin-Kreuzberg verabredet. Hier entstehen seine Solo-Songs, die Klez.e-Alben, vor allem aber Dutzende von Alben anderer Künstler, die Siebert allesamt selbst aufnimmt und mischt. Denn das ist eigentlich sein Hauptberuf: Produzent. Siebert teilt sich eine halbe Etage im Hinterhaus eines dieser typischen Berliner Backsteingebäuden mit drei anderen renommierten Kollegen: Tobias Kuhn, Nikolai Pothoff und Simon Frontzek.
    "Wir kommen da rein, da sind wir dann wie in einer WG in so einer Art Wohnzimmer-Küche. Hier das wichtigste Gerät der ganzen Studios ist diese Kaffee-Maschine. Die ist der wichtigste Kompressor, den wir haben. Hier treffen sich immer alle. Hier wird sehr viel gekocht, ich begrüße das immer sehr, wenn die Bands auch kochen."
    Früher hatte Siebert sein Studio in einem fensterlosen Raum, inzwischen ist er eine Tür weiter gezogen.
    "Hier gibt’s jetzt Licht, und ein offenes Fenster. Die Räume sind auch viel größer, der Regieraum ist schon mal doppelt so groß wie der alte, und auch der Aufnahme ist viel größer. Dazu müssen wir durch diese Glastür. Ich habe das nämlich anders gemacht als man das aus den meisten Studios kennt, wo es dann so eine piefige Tür gibt, die zwischen den Räumen ist und dann so’n Fensterchen. Ich hab hier eine Riesenglaswand drin, wenn man will, kann die so balkontürmäßig in beide Richtungen aufmachen. Und grundsätzlich ist es sowieso eher Wohnzimmeratmosphäre. Wir haben hier so ne Backsteinwand, Parkettfußboden, Bilder an der Wand. Kronleuchter an der Decke. Und so ein altes Berliner Stuckoberlicht. Es ist nicht so klinisch wie es in vielen Studios ist, dass alles so weiß ist und lebendig."
    Zwischenfrage: Es ist schon viel geschrieben worden, dass Du ein Instrumentensammler bist. Was ist das hier?
    "Das sind so Glockenspiele. Das sind drei verschiedene. Wenn man die drei aneinandermacht, hat man schon das erste neue Golden-Choir-Stück für die nächste Platte gehört. Das fängt nämlich genauso an:"
    Und wir dürfen mit Tobias Sieberts freundlicher Genehmigung schon mal etwas von diesem neuen Album spielen, dessen Veröffentlichung noch in weiter Ferne liegt.
    Musik: "Joker"
    "Dann gibt’s hier eine Harfe, die ist jetzt glaube ich nicht gestimmt. Kinderpiano, auch ganz wichtig… Braucht man unbedingt. Das hier ist ein Keksdosenbanjo, das haben wir selber gebaut. Keksdose, da ist so ein Gitarrenhals… macht so rasselige Sounds. Das ist so die einfache Dobro-Variante.. Schlagzeug. Ach das hier sollten wir uns genauer ansehen. Ein Harmonium. Komm, wir treten mal gemeinsam in die Pedale, Du die eine, ich die andere so. Dann füllt sich der Blasebalg mit Luft, und dann kann man spielen. So klingt das dann. Habe ich auch viel auf der Golden-Choir-Platte benutzt, und diese kleine Kindergeige, die spiele ich auch gerne."
    Mit "And The Golden Choir" Neuland betreten
    Zwischenfrage: Wie viele Instrumente kannst Du eigentlich?
    "Ach, ich kann ja keines wirklich richtig. Das ist vielleicht auch mein großes Glück, weil ich dadurch nicht so technisch an die Sache rangehe. Ich hab Glück gehabt, dass meine Eltern schon so viele Instrumente hatten. Gitarre, Akkordeon und so Sachen und hab die halt immer auch schon spielen können. Ich glaube, da ist so ein tiefes Talent für Musikinstrumente. Ansonsten gibt’s halt noch so viele Instrumente und für jede neue Golden-Choir-Platte lerne ich neue. Jetzt spiele ich gerade eine Klarinette, das habe ich noch nie gemacht. Und ein Cello habe ich noch nie gespielt, damit fange ich jetzt auch an. Mein Konzept für die zweite Platte wird bleiben, dass ich alles alleine mache. Dann muss ich halt auch Cello spielen, wenn ich eines will. Hilft nix!"
    Mit dem Gesamtkunstwerk "And The Golden Choir" hat Siebert Neuland betreten. 250 Konzerte spielte er unter diesem Namen in ungefähr drei Jahren. Und zwar alle alleine, aber nie unplugged. Denn das war der Clou: Die Spuren, die er nicht live spielte, kamen jeweils von einer echten Vinyl-Schallplatte, die er eigens für diesen Zweck anfertigen ließ. Für jeden Song eine. Eine geniale Idee. Und ein angenehmes Korsett, sagt er.
    "Ich kann mich darauf verlassen, dass es immer genauso klingt, wie es klingt. Und dieses Knistern, dieses Intime, dieser intime Moment, den man mit dem Publikum hat, wenn die Nadel auf die Schallplatte trifft, ist sehr besonders. Und ich kenn auch keinen, ich hab das noch nie vorher gesehen in der Form, dass das jemand gemacht hat. Ich möchte das auf jeden Fall nicht aufgeben. Das ist viel zu speziell und besonders."
    Musik: "ATGC"
    Diese Grundidee will er auch beibehalten. Dennoch hat er kürzlich er für eine Handvoll Auftritte eine kleine Band dazu geholt, um aus dem Golden-Choir-Korsett auszubrechen. Denn das hat auch Nachteile.
    "Ich geh von der Bühne, und es ist euphorisch und finde mich dann alleine im Backstage Raum wieder und fange jetzt schon an, mit mir selbst zu reden dann da so. Ach, war toll - Ja, war toll! Und da wollte ich halt, dass da mal ein paar Menschen sind."
    Siebert ist trotz seiner 40 Jahre ein jungenhafter Typ mit offenem Gesicht und Wuschelkopf. Auf dem Golden Choir-Album sah man ihn allerdings befremdlicherweise mit glatt gekämmter halblanger Pagenkopffrisur. Da sei er ja auch ein anderer Typ gewesen, erklärt er. Und es stimmt ja auch: Bei Klez.e ist er eher der melancholische Revoluzzer mit deutlich politischer Haltung, als "And the Golden Choir" mehr der romantische Balladen-Sänger.
    "Das würde ich nicht ausschließen, dass der über Politik singt. Ich sprech den mal als "der" an. Es ist wirklich so ein bisschen schizophren, aber irgendwie hat sich das so entwickelt. Das sind verschiedene Figuren und ich wollte das immer nicht zusammenbringen. Also, ich will hier nicht als "And the Golden Choir" sitzen, wenn ne Band reinkommt und mit mir arbeiten will. Also wir sind auf nem anderen Level in dem Moment, oder in nem anderen Austausch. Da gehört für mich jetzt nicht so eine Künstlerrolle rein. So ist es halt auch irgendwie mit Klez.e und "And the Golden Choir". Das sind zwei verschiedene Typen, die jeweils ihre Richtung bearbeiten. Das hat bei Golden Choir auch ganz gut angefangen mit dieser Vervielfältigung. Der eine Typ, der alles aufnimmt und der dann nachher auf der Bühne alles alleine spielt, aber mit sich selbst quasi spielt. Der wird jetzt plötzlich zu einem Chor, zu mehreren Gestalten, die das live vorspielen."
    Musik: "Another Half Life"
    "Bin bei Klez.e nicht der Typ, der die Songs schreibt"
    Wer allerdings denkt, ein Multiinstrumentalist, der auch noch selbst produzieren kann, dränge zwangsläufig immer die Führungsrolle an, liegt bei Tobias Siebert falsch. Bei seiner Band Klez.e ist es nämlich ganz anders.
    "Ich bin bei Klez.e gar nicht der Typ, der sie Songs schreibt. Das ist auch das Schöne daran, dass diese Band von Anfang an im Proberaum die Lieder erspielt hat. Ich schreibe zwar die Texte, aber Musik hat immer die Band gemacht. Die Musik konnte halt immer nur so sein, weil fünf Leute, damals waren wir fünf, jeder hatte einen anderen Musikgeschmack, und das floss da alles ein. Inzwischen haben wir uns auf drei reduziert, aber ich möchte das nicht missen, dass man zusammen diese Lieder erspielt und erdenkt."
    Wohl auch deswegen klingen Klez.e auf frühen Alben anders als heute. Das ist nach vorne schiebender Gitarrenrock, der manchmal auch ziemlich vertrackt ist. Zum Beispiel "Lieb mich, lieb mich, lieb mich" aus dem Debütalbum "Leben daneben" von 2004.
    Musik: "Lieb mich lieb mich lieb mich"
    Schon damals schrieb Siebert auch sozial- oder zumindest konsumkritische Texte. Das hängt wohl mit seiner Kindheit und Jugend zusammen. Er ist noch in der DDR geboren, den Zusammenbruch des Systems und die Wiedervereinigung erlebte er als Teenager.
    "Wir hatten natürlich eine große Hoffnung, dass wir jetzt in den Westen können und alles besser wird. Aber relativ schnell war mir als jungem Menschen schon klar, dass dieses System auch nicht das richtige ist, oder dass es da auch genug Probleme gibt. Man hat das so gemerkt in der Familie. Die DDR war sehr sozial. Man hat viel getauscht. Der eine hatte was, der andere hatte das nicht, und dann konnte man das so wechseln, also ein großer sozialer Zusammenhalt eben aufgrund der Knappheit. Und, genau, man hat das so in der Familie gemerkt, dass es sich so entfernte und dass es so Neidgefühle gab. Das war sehr auffällig."
    Er habe sich daraufhin erstmal in eine Blase zurückgezogen, erzählt Siebert. Eine Blase mit Soundtrack, denn direkt nach der Schule habe er sich daheim seine Kopfhörer aufgesetzt.
    "Und das war dann halt auch so die Zeit, als ich "Desintegration" von The Cure das erste Mal gehört habe. Also, Depeche Mode fand ich schon toll, aber da war dann klar: okay, das ist so 100 Prozent das, was meine Rezeptoren im Kopf anspricht, wenn ich Musik verstehe oder hören will. Also da kribbelt‘s irgendwie, da passiert was, wenn ich das höre. Und die Band hat mich bis heute einfach auch nicht losgelassen. Ich höre alle Platten immer wieder. Und was auch keine Band geschafft hat bisher: dass ich immer noch diese Gefühle habe, wenn ich die höre. Und das macht es so besonders."
    Dieser Einfluss taucht aber erst viel später in Sieberts Musiker-Biographie wieder auf. Nach dem Debüt fuhren Klez.e es erstmal weiter auf der Indierock-Schiene und veröffentlichten 2006 das Album "Flimmern".
    Musik: "Werbefläche Mond"
    Dem Klez.e-Song "Werbefläche Mond" aus dem Jahr 2006 merkt man an, dass die Band damals bis zu drei Gitarristen hatte. Tobias Siebert, der heute letzte verbliebene, ist nämlich nicht gerade der klassische Rock-Axt-Schwinger.
    "Ich riff gar nicht gern. Nee. Jetzt haben wir teilweise zwei Bässe und ein Schlagzeug, nicht mal mehr Akkorde, die müssen auch nicht sein. Nur zwei Linien, die sich verbinden. Sehr besonders."
    Ein Stilwechsel deutet sich schon 2009 an mit dem für lange Zeit letztem Klez.e-Album "Vom Feuer der Gaben". Dieser Titel heißt "Wir ziehen die Zeit".
    Musik: "Wir ziehen die Zeit"
    Klez.e keine im kommerziellen Sinne große Band
    Trotz positiver Besprechungen und einiger Single-Auskopplungen wurden Klez.e keine im kommerziellen Sinne große Band. Es lag nicht mal an mangelnder Unterstützung der Musikindustrie.
    "Wir hatten unser eigenes Label, was wir immer noch haben, was auch sehr gut ist. Aber wir waren an Universal angeschlossen, haben einen sehr guten Deal mit denen gemacht, die haben auch sehr gut gearbeitet muss man sagen. Der Vertrieb von Universal ist fantastisch. Ich glaube, dass wir dann doch immer eine Spur zu kantig sind. Das wollen wir aber auch. Wir haben halt immer gemacht, was wir machen wollten. Dann ist der richtige Zeitpunkt vielleicht auch erst jetzt da mit Desintegration."
    "Desintegration" klingt pessimistischer, getragener, elektronischer als die drei Alben davor. Der Titel erinnert nicht von ungefähr an eine berühmte Platte der britischen New Wave-Düsterlinge "The Cure": "Disintegration" von 1989, dem Wendejahr. Von Tobias Sieberts Begeisterung für diese Band und dieses Album war ja schon die Rede. Den Songs von "Desintegration" sind zwar einige Referenzen anzuhören, doch sie geraten nie zur Cure-Kopie. Hier der Song "Flammen".
    Musik: "Flammen"
    Übrigens trägt Tobias Siebert nach den Golden-Choir-Ausflügen wieder seine markante Starkstrom-Wuschel-Frisur. Auch das könnte man für eine Verneigung vor Cure-Frontmann Robert Smith halten. Was es aber nicht ist, sondern einfach nur die Optik, die Siebert schon als Jugendlicher zur Zeit seiner musikalischen und politischen Sozialisierung für sich wählte.
    "Ich finde, es sind auch einfach wieder zum Haare zerraufende Zeiten, die wir haben. Und genau das soll es auch spiegeln. Mir geht’s nicht darum, Robert Smith nachzumachen an der Stelle, sondern einfach ein Lebensgefühl aufrecht zu erhalten. Also früher in Berlin gab es so viele Gothics, die mit toupierten Haaren durch die Straßen liefen. Da war das überhaupt nichts Besonderes. Man hat damit gezeigt, wo man so steht, welche Musik man hört, und das war ein Lebensgefühl-Ausdruck. Der ist halt irgendwie verloren gegangen in den letzten Jahren und ich will das einfach wieder zurückholen. Natürlich muss ich mir jetzt immer anhören, dass es so eine Hauptverbindung zu Robert Smith gibt, aber es ist eigentlich viel mehr. Und ich finde es eigentlich gut auch, zu sagen, es sind Haare zu zerraufende Zeiten, und deswegen mach ich das."
    Musik: "Lobbyist"
    Lobbyist vom neuen Klez.e-Album "Desintegration", ein Beispiel für die politische Haltung, die Songschreiber Tobias Siebert in seinen Texten vermitteln will. Und die ist seit jeher eher nach links geneigt.
    "Ich würd auch gerne mal einen Sozialismus ohne Diktatur erleben. Also irgendwie muss das doch machbar sein. Vielleicht schaffen wir das ja, wenn wir den ganzen Wahnsinn, den wir jetzt haben, überstehen und dann keiner mehr Bock hat auf Rechtspopulismus."
    Neben seinem Talent als Musiker und Texter entdeckte Tobias Siebert früh seine Berufung zum Produzenten.
    "Das lief natürlich parallel. Ich hab schon im Kindergarten gesungen und hatte auch schon recht früh eine Band, so mit 14, 15. Dann sind wir mal ins Studio gegangen und haben sehr viel Geld bezahlt für eine Aufnahme, die aber letztendlich eigentlich furchtbar klang. Das hat mich damals so geärgert, dass ich dann angefangen habe, mir ein paar Mikrofone zu kaufen und ein Mehrspurgerät und das dann einfach selber zu machen. Ich fand die Qualität irgendwie interessanter. Die war vielleicht nicht besser, aber aufgrund der Tatsache, dass ich wenig konnte und wenig wusste und nur so aus meinem Herz heraus Entscheidungen treffen konnte und da irgendwas gedreht habe, war die so viel näher und dichter dran an dem, was wir eigentlich machen wollten als es irgendjemand hätte hindrehen können."
    Den Ausschlag gab dann ein Aushilfsjob für die Band Sofaplanet im Jahr 2001.
    "Das waren Schulfreunde von mir, und die brauchten einen Bassspieler weil der eigentliche Bassspieler ausgestiegen ist, weil er das Lied "Liebficken", was dann die große Single wurde, nicht ertragen konnte."
    Musik "Liebficken"
    Studio in Hamburg-Eimsbüttel
    In Franz Plasas Studio-Komplex H.O.M.E in Hamburg-Eimsbüttel sah Siebert, der damals noch in seinem erlernten Beruf als Drucker arbeitete, eine neue Welt. Und für sich eine Zukunft: Der Computer setzte sich allmählich durch, digitale Aufnahmeverfahren lösten die sündhaft teuren Bandmaschinen ab. Dadurch wurde es bezahlbar, sich ein Studio einzurichten.
    "Und so habe ich dann angefangen. Ich bin zurück nach Berlin gefahren aus Hamburg von dieser Produktion und habe beschlossen, meinen Job an den Nagel zu hängen und ein Studio aufzumachen. Habe Geld gespart, habe mein erstes Studio ausgebaut, habe mir Sachen gekauft."
    Durch Mund-zu-Mund-Propaganda machte sich Siebert schnell einen Namen. Bis heute hat er mit ganz unterschiedlichen Musikern gearbeitet, im weitestens Sinne aus dem Indie- oder Alternative-Bereich, darunter auch einige sehr bekannte. Philipp Boa zum Beispiel 2007, die Band Kettcar 2008, später auch deren Frontmann Marcus Wiebusch.
    "Ich habe das Ding eröffnet 2001, und vom ersten Tag an bis heute kann ich sagen, dass dieses Studio eigentlich immer ausgebucht ist. Es gab immer was zu tun, und das ist natürlich toll, vor allem, und das ist mir wichtig, immer nur Dinge zu tun, die ich auch machen wollte. Also ich lehn auch heute immer noch großzügig alles ab, was mir nicht gefällt und nehm nur Sachen auf, die mein Herz ansprechen, die mich bewegen, wo ich denke, hier kann ich helfen, hier seh ich was, hier hör ich was – das will ich mir jetzt auch zwei Monate lang, und so lange dauert die Produktion von einem Album meistens hier, jeden Tag anhören. Dafür komm ich her und das macht mir dann Spaß."
    Eine Neu-Entdeckung, auf die Siebert besonders stolz ist, ist ein Singer-Songwriter mit dem Künstlernamen Bayuk.
    "Das ist ein ganz junger Künstler aus der Nähe von Stuttgart, der nur mit so ein paar Skizzen ins Studio kam. Dann haben wir zusammen auch noch die Lieder zu Ende geschrieben oder auch völlig neue Lieder zusammen aufgenommen. Das war eine der schönsten Arbeiten, die ich gemacht habe. Ich spiel gerade mal ein Stück an, das heißt 'Please don’t die'."
    Musik: Bayuk – "Please don’t die"
    "Ich höre das immer wieder von Künstlern, die mich anfragen, dass die diese sehr sensible Dynamik in den Mixen und in der Produktion toll finden. Jemand sprach mal davon, dass es so "luftig" ist und dennoch aber ganz viel passiert. Also ich nehme selten Stücke unter 100 Spuren auf, weil wir uns dann auch immer so in Rage spielen und viele Melodien sich so verzahnen und zu so nem großen Ganzen werden. Also ich bin nicht der minimale Typ, oder selten. Ich bin eher der Typ fürs viele."
    Also Phil-Spector-mäßig, eigentlich der König der Overdubs? - "Ja, ja, das lassen wir so stehen!"
    Sogar ein echter Hit für Siebert
    Ein einziges Mal ist in den 16 Jahren als hauptberuflicher Produzent sogar ein echter Hit für Siebert abgefallen. Mit einer Band, die man nicht jetzt nicht direkt in seinem Umfeld vermutet hätte:
    "Ich hab mit Juli zusammengearbeitet. Da hab ich ne goldene Schallplatte und ne goldene Single bekommen. Wenn man das als Auszeichnung werten will, dass da so’n goldenes Ding hängt, dann ist es wohl das. Die steht da hinten irgendwo in der Ecke, genau."
    Musik: Juli – "Elektrisches Gefühl"
    "Aber ansonsten ist es mir nicht so wichtig, dass da zehntausend oder 100- oder 200-Tausend Platten draufstehen. Sondern ich bin stolz, wenn so eine Platte fertig ist. Ich hab wieder was gelernt, man hört auch nie auf zu lernen. Du bist immer unzufrieden, irgendwas würdest Du noch besser machen. Und das ist der Reiz, der es auch ausmacht, immer wieder neu anzufangen. Wenn die Platte abgeschlossen ist, dann ist es immer was Besonderes. Dann machen wir immer so eine kleine Party hier und wir hören zusammen, alle die mitgemacht haben, und auch Freunde werden eingeladen. Dann gibt’s ein kleines Büffet, wir machen ein paar Flaschen Wein auf, hören die Platte zusammen. Das finde ich auch immer superwichtig, und das sind so die schönen Momente, die bedeuten mir viel mehr als irgendwo eine goldene Platte hinzuhängen, wo dann steht, wie toll das war. Ich denke, es gibt für den Indiebereich - die Spex sagt immer, ich sei der Chris Walla von Deutschland, der Indie-Papst, da gibt’s leider keine wirklich gute Bewertungsform, die wirklich zutrifft, ne."
    Und so werden im möglicherweise gemütlichsten Studio Berlins sicher noch viele, viele Release-Parties gefeiert werden. Immer das monströse analoge 80er-Jahre Mischpult mit den 40 Aufnahme-Spuren im Rücken. Ob auf dem jeweiligen Album dann And the Golden Choir oder Klez.e draufsteht, ist eigentlich egal. Hauptsache, es steckt Siebert drin.
    Musik: Golden Choir
    "All mein Geld fließt immer in Geräte, bis heute. Das ist ja ein Fass ohne Boden, das hört ja nicht auf. Man will sich auch immer bei Laune halten. Neuer Kompressor, der irgendwas macht, ein neues Klangbild schafft. Das sind Dinge, die mich glücklich machen."
    Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung sieben Tag nachhören.