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Musikgeschmack weltweit
Nicht alle Menschen empfinden Dissonanzen als unangenehm

Über Musikgeschmack lässt sich bekanntlich streiten. Viele Wissenschaftler gehen aber davon aus, dass zumindest die Präferenz für Harmonien bei Menschen angeboren ist. Amerikanische Wissenschaftler haben diese Hypothese nun an einem Volk überprüft, das in abgelegenen Regionen im Amazonasbecken lebt - mit erstaunlichen Ergebnissen.

Von Tomma Schröder | 14.07.2016
    Musik, Kopfhörer, Hören
    Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden: Die musikalische Diversität ist wohl größer als gemeinhin angenommen wurde und als es für die meist westlichen Forscherohren plausibel klingt. (dpa / picture alliance / Wolfram Steinberg)
    "Wir sind nach La Paz, die Hauptstadt Boliviens, geflogen. Von dort ging es mit einem kleinen Flugzeug weiter in eine Stadt an den Füßen der Anden. Über die unbefestigten Straßen fuhren wir schließlich mit einem Transporter bis zu einem Ort im Amazonasbecken. Die Dörfer der Tsimanes sind alle verstreut um diesen Ort. Einige waren nur eine Tagesreise entfernt, zu anderen mussten wir mehrere Tage mit dem Kanu reisen."
    Im Gepäck hatte Josh Mc Dermott vom Massachusetts Institute of Technology einen Laptop, Kopfhörer und Gastgeschenke. Der Deal: Die Tsimanes bekommen Fischereigerät und setzen dafür die Kopfhörer auf, um sich verschiedene Akkorde und Laute anzuhören und sie zu bewerten. Das klang dann entweder schön harmonisch oder unangenehm dissonant. Zumindest für westliche Ohren. Die Tsimanes, die lediglich ihren eigenen einstimmigen Gesang kennen, sahen das anders:
    "Es zeigte sich, dass die Tsimanes die konsonanten Töne nicht besser bewerteten als die dissonanten, sondern beide Arten als gleich angenehm empfanden. Und das ist wirklich ein großer Unterschied zur westlichen Kultur."
    Ist der Musikgeschmack ausschließlich kulturell geprägt?
    Als die Forscher US-amerikanischen Studienteilnehmern die gleichen Töne vorspielten, bewerteten diese dissonanten Klänge eindeutig negativer als die harmonischen. Denn dissonante Akkorde, wie zum Beispiel das so genannte Teufelsintervall, werden in der westlichen Musik ganz bewusst für bedrohliche, unangenehme Empfindungen eingesetzt: Jimi Hendrix verwendet es in "Purple Haze", Johann Sebastian Bach in der Matthäuspassion und Beethoven in der Kerkerszene seines "Fidelio".
    Auch eine dritte Studiengruppe, bolivianische Stadtbewohner, zeigte eine zwar schwächere, aber deutliche Präferenz für Harmonien. Bei den Tsimanes aber ließ sich nichts dergleichen finden. Eine Kontrollstudie in einer weiteren Siedlung und abgewandelte Experimente brachten stets die gleichen Resultate. Ist unser Musikgeschmack, unsere Wahrnehmung von Klängen also ausschließlich kulturell geprägt?
    Rolle der Kultur könnte größer sein als bisher angenommen
    "Naja, unsere Studie liefert zumindest ein Beispiel dafür, dass etwas kulturspezifisch und von der Musikerfahrung abhängig ist, von dem man bisher geglaubt hatte, es habe biologische Ursachen. Und das zeigt, dass die Rolle der Kultur größer sein könnte, als wir bisher angenommen haben. Es gibt unter westlichen Wissenschaftlern eine sehr starke Tendenz zu der Annahme, dass es eine biologische Basis für viele Features gibt, die in westlicher Musik prominent sind. Und ich komme immer mehr zu dem Ergebnis, dass das gar nicht der Fall ist."
    Dass der individuelle Musikgeschmack sehr stark von den jeweiligen musikalischen Erfahrungen bestimmt wird, ist ohnehin unumstritten. Dass die Natur überhaupt keine Rolle spielt, halten die meisten Forscher aber für unwahrscheinlich. Auch in McDermotts Experiment etwa zeigte sich, dass die Tsimanes raue Töne, also Töne, die eine sehr stark schwankenden Lautstärkeeindruck haben, genau wie westliche Hörer als unangenehm empfanden. Es zeigt aber auch, dass die musikalische Diversität wohl größer ist als gemeinhin angenommen wurde und als es für die meist westlichen Forscherohren plausibel klingt.