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Musiksoftware FAUST
Radio-Premiere für die Zarenglocke

Die Musikprogrammiersprache FAUST eignet sich bestens für das "Physical Modeling", also den physikalischen Nachbau eines Instruments im Rechner. Aber auch die Hersteller von Virtual-Reality-Anwendungen sind glücklich über die Open-Source-Software.

Maximilian Schönherr im Gespräch mit Manfred Kloiber | 21.07.2018
    Die Zarenglocke steht auf dem Freigelände im Kreml.
    Die Zarenglocke steht auf dem Freigelände im Kreml. (dpa / picture alliance / Bernd Weißbrod)
    Manfred Kloiber: Dass ich das noch erleben durfte: Ein Mathematiker, der von der Schönheit einer Software schwärmt! Maximilian, vielleicht schwärmt er ja nur, weil es um Musik geht?
    Maximilian Schönherr: Es ist eine besondere Art von Klangfans, würde ich sagen. Die Musikinformatik kommt in Europa, einmal pauschal gesagt, vom französischen Komponisten Pierre Boulez und seinem Forschungsinstitut IRCAM in Paris. Was dort geforscht wurde und wird, ist nicht Chartsfähig.
    Manfred Kloiber: Weil die Musik zu experimentell klingt?
    Maximilian Schönherr: Für viele Ohren ungeordnet, unharmonisch, geräuschlastig. Die Musikinformatik hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Sie hat ewig lang versucht, mit Algorithmen Tonfolgen herzustellen, die interessanter klingen als von Menschen komponierte Musik. Zum Beispiel fragte man sich, ob schöne Zahlenreihen wie etwa die von Fibonacci, auf Noten angewandt, schöne Musik macht. Macht sie nicht. Das einzig vorzeigbare Ergebnis haben im letzten Jahr die Sony-Forschungslabors in Paris geliefert, als sie Bachchoräle mit Maschinenlernverfahren nachkomponierten. Wir haben hier im Programm darüber berichtet. Heute steht die Musikinformatik woanders. In Mainz ging es jetzt ausschließlich um Klänge, nicht um Kompositionen.
    Physikalische Modellierung von Instrumenten im Rechner
    Manfred Kloiber: Komplexe Klänge erzeugt man mit Physical Modeling, also dem physikalischen Nachbau eines Instruments im Rechner. Kann FAUST das?
    Maximilian Schönherr: Sehr gut sogar. Ein Paradebeispiel präsentierte John Granzow von der Universität Michigan. Er nahm sich die so genannte Zarenglocke vor, die in Moskau steht, 200 Tonnen schwer ist und vor dem ersten Schlag zerbrach. Mit Hilfe historischer Dokumente und physikalischer Modellierung in FAUST konnte Granzow die Glocke in amerikanischen Glockentürmen klingen lassen, mit 12 Subwoovern und mehreren riesigen Bühnenlautsprechern.
    Manfred Kloiber: Sie haben Pierre Lecomte mit seinem Lautsprecherfeldern getroffen. Ist es realistisch, Räume mit vielen Lautsprecher auszustatten? Surround-Sound 5.1 hat sich ja auch nicht durchgesetzt.
    Virtual Reality mit passender Akustik
    Maximilian Schönherr: Dolby Surround in Kinos aber schon. Das Thema ist aber nicht auf Lautsprecher beschränkt. Man kann Rundumklänge auch binaural abbilden, also mit Kopfhörer. Dabei wird mit FAUST und Ambisonics die Absorption und Reflexion bestimmter Frequenzen in der Ohrmuschel modelliert, so dass man über die zwei Lautsprecher des Kopfhörers ein Hinten und Vorn unterscheiden kann. Die Hersteller von VR-Anwendungen sind glücklich darüber, weil das Werkzeug Open Source ist, also nichts kostet, und die Kopfbewegung des Anwenders unter seiner VR-Brille im Ton nachbildet. Wenn der Zug von rechts hinten kommt, hört man ihn auch von dort kommen.
    Manfred Kloiber: Hat die eingeschworene Gemeinde der FAUST-Nerds irgendetwas mit Smartphones und Tablet-Computern am Hut?
    Maximilian Schönherr: Da habe ich mich selber gewundert, aber es war Thema in jedem dritten Vortrag. FAUST hat für Android und iOS entsprechende Schnittstellen. Mit einem relativ einfachen Befehl kann man die Beschleunigungssensoren abfragen usw. - ich schätze, dass viele der aktuellen Musikapps zumindest zum Teil mit FAUST entwickelt wurden, ohne dass es an die große Glocke gehängt wird.
    Manfred Kloiber: Vielen Dank, Maximilian Schönherr für die Eindrücke vom ersten internationalen FAUST-Kongress an der Gutenberg-Universität Mainz.