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Musiktheater
Szenen aus dem Schützengraben

Das Musiktheater-Stück "Shell Shock" wird derzeit am Brüsseler Opernhaus La Monnaie gegeben. Darin verarbeiten Nicholas Lens und Nick Cave Szenen aus dem Ersten Weltkrieg. Aus verschiedenen Perspektiven erzählen sie von Angst, Schmerz und Tod.

Von Wiebke Hüster | 25.10.2014
    "Canto of the Colonial Soldier" heißt der erste von zwölf Gesängen in englischer Sprache. Gleich in der ersten Zeile heißt es "Some asshole shouts at me in words I do not understand" - "Irgendein Arschloch schreit mich an, keine Ahnung, was er sagt ...". So stimmt Bass-Bariton Mark Doss den Gesang des Kolonial-Soldaten an.
    Aus immer neuer Perspektive wird in "Shell Shock" die Erfahrung des Krieges beschrieben. Ganz bewusst rücken Cave und Lens jene in den Vordergrund, derer zu wenig gedacht wurde. Nicht nur die Kolonialsoldaten bekommen eine Stimme, auch die Deserteure, die Unbekannten, Soldaten, namenlos unter einem Schlachtfeld liegend, das, wie Nick Cave schreibt, keinen Gott birgt.
    Die Krankenschwester blickt mitleidig und voller Zärtlichkeit auf den Arzt. Cave schildert, wie inmitten des Grauens des Lazaretts Liebe und Begierde wach werden, vollkommen unangemessene, anstößige Gefühle inmitten von Sterbenden und Verletzten. Aber genau das will das Kriegsrequiem, es ist lyrisch, musikalisch beinahe schmerzhaft schön, es ist einfach gehalten in der Form, um Nähe zu den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs überhaupt zu ermöglichen. Es zieht gleichsam mit sanfter, fester Hand hinein in die Erfahrung des Grauens.
    Leintücher werden zu Leichentüchern
    Sidi Larbi Cherkaoui stellt in seiner Inszenierung zehn Tänzer neben die fünf Sänger, drei Knabensoprane und den Chor. Auf einer leeren Bühne erheben sich nach hinten ansteigend vier gigantische graue Stufen. Mit herabfahrenden Prospekten, auf die Fotografien und Filmausschnitte projiziert werden können, lassen sich die Stufen verbergen. Cherkaoui nutzt sie, um sein Personal, in verschiedenfarbige Uniformen der Zeit gekleidet, zu Tableaus zusammenzustellen. Mal thront Sopran Claron McFadden im brombeerfarbenen langen Kleid auf der obersten Stufe und wird Zeugin, wie Soldaten von den Stufen herunterfallen wie Tote in eine Grube.
    Dann wieder singt Countertenor Gerald Thompson inmitten von Tänzern, die aus Sandsäcken immer neue Szenerien auftürmen. Leintücher werden zu Leichentüchern, Bahren bilden eine unendliche Prozession. Die Tänzer jagen sich durch unzählige Variationen des Zusammenzuckens und Hinstürzens.
    Cherkaouis Regie erzeugt eine Intensität und Selbstverständlichkeit des Zusammenspiels von Gesang und Tanz, von Chor, Solisten und Tänzern, die beeindruckend ist. Es ist diese Aufrichtigkeit des Agierens, die dem ernsten Sujet zutiefst angemessen ist. Koen Kessels, musikalischer Direktor der Monnaie, führt Orchester und Sänger leidenschaftlich durch eine Partitur, die sich, dem Thema gemäß an die musikalische Moderne anlehnt und Strawinskys und Schönbergs Einflüsse anklingen lässt, der aber nichts Forciertes eignet.
    Es ist der gleiche Mut zur Schlichtheit, der auch die Inszenierung prägt. Fern von Effekten, von Pathos, von emotionaler Manipulation eröffnet "Shell Shock" dem Publikum Klangräume, Assoziationsräume, die zum Gedenken einladen, indem sie auf emotionaler und intellektueller Ebene ansprechen. Was mit dem Soldaten auf dem allerfernsten Schlachtfeld beginnt, endet mit dem Gesang einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat und dem eines Waisenjungen.