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Muslime in Europa
Soziologin Nilüfer Göle erforscht Alltag

Wenn über Muslime in Europa gesprochen wird, dann geht es fast immer um Konflikte, um Probleme bei der Integration. Die französische Soziologin Nilüfer Göle meint dagegen: Der Islam ist längst zu einem festen Bestandteil der europäischen Gesellschaften geworden. Sie hat über vier Jahre lang Muslime im Alltag beobachtet und ihre Ergebnisse nun veröffentlicht.

Von Suzanne Krause | 19.10.2015
    Aleyna spielt am Samstag (03.10.2009) in der provisorischen Zeltmoschee in Köln Billard. Die muslimischen Gemeinden in Deutschland haben am Samstag wieder ihre Moscheen für einen Einblick in ihr Gemeindeleben geöffnet.
    Kopftuchdiskussion - "Der Islam wurde zu einer öffentlichen Angelegenheit – für die gesamte Gesellschaft." (picture-alliance/ dpa / Rolf Vennenbernd)
    Das Foto einer jungen Frau mit nachlässig geschlungenem Kopftuch in einem Café, die Nägel rot gelackt, in der einen Hand einen Kaffeebecher, in der anderen ein Smartphone, ist auf dem Cover von Nilüfer Göles Werk zu sehen. Ein Alltagsbild aus einer europäischen Stadt. Für Göle Sinnbild der hiesigen Muslime.
    Zwischen der jungen schicken Frau im Café und ihren Vorfahren, die als Arbeitskräfte aus muslimischen Ländern ab Ende der 1950iger Jahre nach Europa kamen, liegen Welten. Jahrzehntelang blieben die Zuwanderer unauffällig. Das änderte sich 1989, sagt Nilüfer Göle, Soziologin an der renommierten Hochschule für Sozialwissenschaften in Paris. Göle denkt an die damalige erste Schleier-Diskussion in Frankreich, als Schülerinnen nahe Paris mit Kopftuch im Unterricht erschienen. Im selben Jahr sorgte die Fatwa gegen Salman Rushdie in Großbritannien für Aufruhr.
    "Damals hat man zwar nicht den Zusammenhang zwischen diesen beiden Geschichten gesehen. Aber dennoch begriffen die Zivilgesellschaften in Europa, die Intellektuellen, dass der Islam mittlerweile Bestandteil ihrer eigenen Wirklichkeit ist. Der Islam wurde zu einer öffentlichen Angelegenheit – für die gesamte Gesellschaft."
    Eine öffentliche Angelegenheit ist der Islam seitdem geblieben. Mohammed-Karikaturen in Dänemark, Moscheebau in Köln, Minarett-Verbot in der Schweiz: wenn vom Islam die Rede ist geht es meist um Konflikte. Man könnte den Eindruck haben, die Integration sei gescheitert, doch das Gegenteil sei der Fall.
    "All diese Debatten-Themen beziehen sich auf Muslime, die schon integriert sind. Denn ein Mädchen, das mit Kopftuch im Gymnasium sitzt, ist gesellschaftlich viel stärker eingegliedert als seine Mutter, die teils noch nicht einmal die Landessprache beherrscht."
    Ein anderer Beleg für erfolgreiche Integration seien Moschee-Projekte.
    "Wer einen Antrag auf Baugenehmigung einer Moschee stellt, muss Einblick in verwaltungstechnische Abläufe besitzen, Kontakte zu Lokalpolitikern haben, verhandeln können. Ein solches Verfahren setzt politische, sprachliche, kulturelle Kompetenzen voraus. All das zeigt etwas sehr Interessantes: heute haben wir es mit Einwanderergruppen zu tun, die sich auch als Muslime bezeichnen und die dabei sind, zu Staatsbürgern zu werden."
    Staatsbürger, denen die Öffentlichkeit einen Sonderstatus zuschreibt – weil sie sich einerseits zum Islam bekennen. Und andererseits zum Land, in dem sie leben. Diese doppelte Zugehörigkeit der Muslime in Europa verwirre die hiesige Öffentlichkeit sehr. So sehr, dass sie darüber manchmal den Blick auf das Alltagsleben der Muslime verliere, sagt die Forscherin.